Familienrecht
Grenzen der Pflicht zum Kostenvorschuss
Einem Ehegatten ist es nicht in jedem Fall zumutbar, dem anderen die Kosten des Scheidungsverfahrens vorzuschiessen. Zum Beispiel dann nicht, wenn er dadurch selbst an den Rand der Bedürftigkeit geraten würde und nicht mit einer Rückerstattung des Vorschusses rechnen könnte (Art. 137 ZGB).
Sachverhalt:
Eine Frau verlangt von ihrem Ehemann auf gerichtlichem Weg einen Kostenvorschuss, um ihren Kostenanteil am Scheidungsverfahren zu finanzieren.
Aus den Erwägungen:
Voraussetzung für einen Prozesskostenvorschuss ist, dass der eine Ehegatte als bedürftig und der andere als leistungsfähig erscheint (BGE 103 Ia 99; 119 Ia 11; BGer, FamPra.ch 2002, 581; Berner Komm/Bühler/Spühler, aArt. 145 ZGB N 368 ff.; Basler Komm / Gloor, Art. 137 ZGB N 13; Berner Komm / Hausheer / Reusser/ Geiser, Art. 159 ZGB N 38; Hinderling / Steck, Das schweizerische Ehescheidungsrecht, 551ff.). Das sollte erst dann angenommen werden, wenn dieser im Gegensatz zum Partner erhebliches Vermögen besitzt (Zürcher Komm/Bräm, Art. 159 ZGB N 135). Wie sich aus dem Begriff des Vorschusses ergibt, handelt es sich um eine vorläufige Leistung, die nach Prozessende zurückgefordert oder mit güterrechtlichen Schulden verrechnet werden kann.
Die Obliegenheit eines Ehegatten, dem anderen die Führung eines familienrechtlichen Prozesses zu ermöglichen, kann nicht so weit gehen, dass er jene Mittel preisgeben muss, die er selbst dringend benötigt (BernerKomm / Bühler / Spühler, aArt. 145 ZGB N 273ff.; Hinderling/Steck, 553).
Die nach den Richtlinien für die unentgeltliche Prozessführung bestimmte Bedürftigkeit des Pflichtigen stellt deshalb eine absolute Opfergrenze dar. Im Bereich der unentgeltlichen Rechtspflege gelten folgende Grundsätze: Wer Wohneigentum selbst nutzt, muss es zwar nicht verkaufen, aber belasten, soweit das möglich und tragbar ist (BGE 119 Ia 12).
Die Belehnungsgrenze beträgt für eine erste Hypothek in der Regel sechzig Prozent des Verkehrswerts, eine zweite Hypothek wird im Rentenalter gewöhnlich nicht mehr gewährt. Der 62-jährige Ehemann kann deshalb auf seinem Haus, das er vor wenigen Jahren zum Preis von 355000 Franken erwarb und mit einer Hypothek von 200000 Franken sowie einem privaten Darlehen von 60000 Franken finanzierte, kaum mehr weiteren Kredit aufnehmen.
Wer Barvermögen besitzt, muss es bis auf einen Notgroschen aufbrauchen. Diese Reserve wird unterschiedlich hoch angesetzt. Eine Person, die jung, gesund und voll erwerbstätig ist, kann nur einen Betrag von bis zu 5000 Franken behalten. Eine ältere oder invalide Person, die sich wirtschaftlich kaum mehr zu erholen vermag, muss hingegen auch Ersparnisse von 25000 Franken nicht antasten (Bühler, Prozessarmut, in: Schöbi [Hrsg.], Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, 131ff., 154f. mit Hinweisen auf die unveröffentlichte Bundesgerichtspraxis; KGer SG, GVP 1994 Nr. 67 und 1996 Nr. 8; Leuenberger / Uffer-Tobler, Kommentar zur Zivilprozessordnung für den Kanton St.Gallen, Art. 281 N 4b).
Der frühpensionierte Ehemann hat aus seinem Bankguthaben von knapp 30000 Franken vorab die eigenen Prozessauslagen zu tilgen und muss es nicht noch weiter anzehren, um die Prozesskosten der Ehefrau zu decken. Das ist ihm umso weniger zumutbar, als er nicht ernsthaft mit einer späteren Rückerstattung rechnen könnte. Er würde also einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Vermögens definitiv verlieren. Davon würde nicht in erster Linie die Ehefrau profitieren, sondern die Gerichtskasse, die sich die Ausgaben für die unentgeltliche Prozessführung sparen könnte.
Es wäre offensichtlich unbillig, wenn der Staat auf diese Weise die ihm in der Verfassung (Art. 29 Abs. 3 BV) zugewiesene Aufgabe, jedermann den Zugang zur Justiz zu garantieren, auf eine in bescheidenen Verhältnissen lebende Privatperson abschieben könnte.
Urteil RF.2010.25 des Kantonsgerichts St.Gallen vom 29. April 2010
Zivilprozessrecht
Gründe für Fristversäumnis schlüssig belegen
Das Gesuch um Wieder herstellung einer versäumten Frist muss die Gründe für das Versäumnis hin reichend mit Beweismitteln oder -offerten belegen. Die ärztliche Bescheinigung einer 100-prozentigenArbeitsunfähigkeit genügt dafür nicht.
Sachverhalt:
Gegen X. sollte ohne vorgängige Betreibung der Konkurs eröffnet werden. Gegen diesen Entscheid reichte X. Rekurs beim Obergericht ein. Den ablehnenden Rekursentscheid nahm X. am 1. Juli 2009 in Empfang. Seine Beschwerde gegen den Rekursentscheid des Obergerichts übergab er am 2. August 2009 der Post - also nach Ablauf der dreissigtägigen Beschwerdefrist. Auf Grundlage eines ärztlichen Zeugnisses, das ihm zeitweise hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit attestierte, ersuchte er beim Kassationsgericht um Wiederherstellung der Frist.
Aus den Erwägungen:
[...]
4.a) Der Beschwerdeführer beabsichtigt, kantonale Nichtigkeitsbeschwerde gegen den obergerichtlichen Beschluss vom 29. Juni 2009 zu führen. Er hat es jedoch unterlassen, diese innert gebotener (dreissigtägiger) Frist einzureichen (vgl. vorstehende Erw. 2). Somit hat er die Frist zur Begründung der Beschwerde gegen seinen Willen versäumt. Überdies hat er sein (sinngemässes) Gesuch um Restitution der Beschwerdefrist vom 1.August 2009 (Postaufgabe: 2.August 2009) innert der zehntägigen Frist von § 199 Abs. 3 GVG gestellt.
Da das Gesuch jedoch mangelhaft begründet und belegt war, wurde ihm in Ausübung der richterlichen Fragepflicht (§ 55 ZPO) mit Präsidialverfügung vom 4. August 2009 (KG act. 8) eine zehntägige Frist angesetzt, um die genauen Umstände darzulegen, aufgrund deren er nicht in der Lage war, seine Beschwerde rechtzeitig zur Post zu geben oder geben zu lassen, verbunden mit der Aufforderung, die entsprechenden Vorbringen schlüssig zu belegen. Dabei wurde er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich im Lichte der diesbezüglichen Praxis mit dem beigebrachten ärztlichen Zeugnis (KG act. 4) der rechtsgenügende Nachweis fehlenden groben Verschuldens an der verspäteten Rechtsmittelergreifung nicht erbringen lasse und dass bei Säumnis Abweisung des Restitutionsgesuchs drohe.
In seiner (für die Beurteilung massgeblichen) die Frist wahrenden Eingabe vom 24.August / 8.September 2009 schildert der Beschwerdeführer die Umstände, die zur Säumnis geführt haben sollen (KG act. 18). Die Beschwerdegegnerin ihrerseits opponiert gegen eine Wiederherstellung der Beschwerdefrist (KG act. 23 S. 2ff., Ziff. I/1-2). Folglich darf Restitution (mangels Einwilligung der Gegenpartei) nur dann erteilt werden, wenn dem Beschwerdeführer der Nachweis gelingt, dass ihn kein grobes Verschulden an der Säumnis trifft. Wie es sich damit verhält, ist nachstehend zu prüfen.
b) Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe die Beschwerde zufolge Krankheit nicht rechtzeitig einreichen können. Dabei verweist er auf ein ärztliches Zeugnis vom 1. August 2009, in welchem eine ambulante Behandlung vom 1.August 2009 vermerkt und ihm für die Zeit vom 30. Juli bis 4. August 2009 eine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit attestiert wird (KG act. 4). Daran sei in keiner Weise zu zweifeln.
Im Einzelnen führt er (zusammengefasst) aus, dass er mehrfache chronische Krankheiten habe und am 31. Juli 2009 spätabends in die Notfallabteilung des Universitätsspitals Zürich habe eingeliefert werden müssen, nachdem er sich bereits seit über einer Woche nicht gut gefühlt und eine akute Krise vom 29./30. Juli 2009 zuvor noch mit Hilfe eines Notfallarztes hätte beigelegt werden können. Dort sei er untersucht und bis zu seiner Entlassung aus der Notfallabteilung am 1. August 2009 ambulant behandelt worden. Deshalb sei er nicht in der Lage gewesen, die Beschwerdeschrift innert der gesetzliche Frist fertig zu stellen und auf die Post zu geben. Vielmehr sei diese von seinem Sohn fertig gestellt und am 2. August 2009 zur Post gegeben worden, wobei deren falsche Datierung offensichtlich übersehen worden sei. Unter diesen Umständen habe die (bei Fristablauf krankheitsbedingt noch gar nicht fertig gestellte) Beschwerdeschrift auch nicht rechtzeitig durch Dritte zur Post gebracht werden können (KG act. 18).
Die Beschwerdegegnerin bestreitet diese Vorbringen, die in keiner Weise belegt seien und ihrer Ansicht nach den Eindruck einer blossen Schutzbehauptung hinterliessen (KG act. 23 S. 2, Ziff. I/1).
c) Die Ausführungen des Beschwerdeführers zu den Säumnisgründen erscheinen (als solche) an sich keineswegs als unplausibel. Wie die Beschwerdegegnerin zutreffend festhält, bleiben sie jedoch in Missachtung der dahingehenden Aufforderung in der Präsidialverfügung vom 4. August 2009 - vom genannten ärztlichen Zeugnis abgesehen - vollends unbelegt. Dieses Zeugnis attestiert dem Beschwerdeführer für die Zeit vom 30. Juli bis 4. August 2009 zwar eine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit, woran zu zweifeln keine Veranlassung besteht.
Indessen ist nach der gefestigten Praxis zu §199 GVG allein mit der (nur hiefür beweiskräftigen) ärztlichen Bescheinigung einer hundertprozentigen Arbeitsunfähigkeit beziehungsweise der Bemerkung, der Patient sei «zu hundert Prozent krankgeschrieben» (vgl. KG act. 4), noch nicht (auch) rechtsgenügend nachgewiesen, dass und weshalb (das heisst aufgrund welcher besonderen Umstände) die gesuchstellende Partei daran gehindert war, die Beschwerde innert Frist einzureichen, zumal dies nicht notwendigerweise persönlich zu geschehen hat, sondern damit auch eine Drittperson betraut werden kann und Letzteres in aller Regel auch bei Arbeitsunfähigkeit oder (nicht näher spezifizierter) Krankheit möglich bleibt.
Überdies spricht das Zeugnis (bloss) von einer «ambulanten Behandlung» vom 1. August 2009, ohne auch nur einen ansatzweisen Hinweis dafür zu enthalten, dass die Einlieferung bereits am 31. Juli 2009 und damit am letzten Tag der laufenden Beschwerdefrist erfolgt sei. Aus diesen Gründen wurde dem Beschwerdeführer in der Präsidialverfügung vom 4. August 2009 denn auch mitgeteilt, dass das mit der Beschwerdeschrift beigebrachte Arztzeugnis für sich allein nicht geeignet sein dürfte, den rechtsgenügenden Nachweis eines Wiederherstellungsgrundes zu erbringen (KG act. 8 S. 2/3).
Ungeachtet der gerichtlichen Aufforderung, die genauen Umstände der Säumnis nicht nur darzulegen (was der Beschwerdeführer in der Eingabe vom 24. August/ 8. September 2009 getan hat), sondern auch schlüssig zu belegen (KG act. 8 S. 3), unterlässt es der Beschwerdeführer (auch nach Kenntnisnahme des dahingehenden Vorhalts in der Beschwerdeantwort [vgl. KG act. 23 S. 2, Ziff. I/1, sowie BGE 133 I 98ff.; 133 I 100ff.; ZR 107 Nr. 22, Erw. II/2-3]), seine Vorbringen mit beweiskräftigen Belegen (zum Beispiel schriftliche Bestätigung seiner Darstellung durch einen der behandelnden Ärzte beziehungsweise des Universitätsspitals) zu dokumentieren oder wenigstens sachdienliche Beweise (zum Beispiel Nennung von Zeugen) für seine Sachdarstellung zu offerieren. Insbesondere ist das als einziges Beweismittel eingereichte ärztliche Zeugnis vom 1. August 2009, aus dem lediglich hervorgeht, dass er gegen Ende beziehungsweise während der letzten beiden Tage der Beschwerdefrist zu hundert Prozent arbeitsunfähig beziehungsweise krankgeschrieben war und am 1. August 2009 (und mithin erst nach dem Ablauf der Beschwerdefrist) im Kantonsspital Zürich ambulant behandelt wurde, aus den bereits genannten Gründen nicht geeignet, die beschwerdeführerische Sachdarstellung im entscheidnotwendigen Umfang zu beweisen.
Nach dem Gesagten darf beim Wiederherstellungsentscheid aber nicht einfach auf die Darstellung des Beschwerdeführers (als Gesuchsteller) abgestellt werden, zumal sie von der Beschwerdegegnerin explizit bestritten wird (KG act. 23 S. 2, Ziff. I/1). Vielmehr hätte der Beschwerdeführer die geltend gemachten Hinderungsgründe zu beweisen. Da dies (auch nach entsprechender gerichtlicher Aufforderung) nicht geschehen ist und der Beweis mangels frist- und formgerechter Beweisofferten auch nicht (mehr) angetreten werden kann, bleiben seine (von der Gegenseite bestrittenen) Behauptungen unbewiesen.
Die Folgen der Beweislosigkeit der von ihm geltend gemachten Säumnisgründe hat nach der gesetzlichen Beweislastverteilung der Beschwerdeführer zu tragen. Konkret bedeutet dies: Mangels Beweisführung bzw. Beweises sind die behaupteterweise zur Säumnis führenden tatsächlichen Umstände nicht (im beweisrechtlichen Sinne) erstellt, das heisst, es steht aufgrund der Aktenlage nicht mit dem zur richterlichen Überzeugung der Richtigkeit führenden Grad an Wahrscheinlichkeit fest, dass der vom Beschwerdeführer geschilderte Sachverhalt sich tatsächlich so zugetragen hat. Damit hat der (beweisbelastete) Beschwerdeführer auch nicht rechtsgenügend dargetan, dass er aus Gründen, an denen ihn kein grobes Verschulden trifft, nicht in der Lage war, die Beschwerdeschrift innert Frist einzureichen. (Damit soll in keiner Weise unterstellt werden, dass die tatsächlichen Vorbringen in der Eingabe vom 24. August / 8. September 2009 nicht der Wahrheit entsprechen; es wird lediglich festgestellt, dass der Beschwerdeführer für diese - möglicherweise durchaus richtigen - Behauptungen keinen rechtsgenügenden Beweis erbracht hat, was für eine Fristwiederherstellung indessen unabdingbar wäre.) Deshalb kann die beantragte Wiederherstellung gegen den Willen der Beschwerdegegnerin nicht gewährt werden. Vielmehr muss das Gesuch um Restitution der Beschwerdefrist (androhungsgemäss) abgewiesen werden. [...]
Kass.-Nr. AA090110/U/Np des Kassationsgerichts des Kantons Zürich.
Sozialversicherungsrecht
Entschädigung für Parteigutachten trotz Rechtsschutzversicherung
Auch wenn der Beschwerdeführer durch eine Rechtsschutzversicherung vertreten wird, hat er Anspruch darauf, dass die Gegen partei die Kostenseines Parteigutachtens übernimmt. Voraussetzung dafür ist, dass das Gut achten not wendig und für die materielle Beurteilung entscheidend war.
Sachverhalt:
Wegen der Folgen eines Unfalls meldete sich M. bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gegen den Rentenentscheid der IV erhob er Beschwerde und reichte dazu ein Gutachten des Medizinischen Abklärungs-Instituts Y. ein. Unter anderem verlangte er in seiner Beschwerde dessen Vergütung durch die IV. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich passte die Rente aufgrund des Gutachtens an und sprach dem Versicherten eine Prozessentschädigung durch die IV zu, nicht aber die Vergütung der Kosten des Gutachtens. Dagegen erhob M., vertreten durch eine Rechtsschutzversicherung, Beschwerde beim Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
1. Einziger Streitpunkt bildet die Frage, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, indem es die Verpflichtung zur Vergütung der Gutachtenskosten des Medizinischen Abklärungs-Instituts Y. durch die IV-Stelle verneint hat. Dazu hat das kantonale Gericht erwogen:
[...]
«5.3 Zu den entschädigungsfälligen Parteikosten gehören neben den Vertretungskosten besondere Auslagen, die für Abklärungsmassnahmen entstanden sind, welche durch den Versicherer beziehungsweise das kantonale Versicherungsgericht anzuordnen und durchzuführen gewesen wären, an deren Stelle jedoch durch die Partei veranlasst wurden. Praxisgemäss sind solche Kosten zu ersetzen, wenn das eingeholte Gutachten massgebend für die Beurteilung der Streitfrage war (vgl. etwa Kieser, Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, Zürich 2009, Rz. 113 zu Art. 61 ATSG mit Hinweisen auf die auch ausserhalb des Anwendungsbereichs des ATSG einschlägige Rechtsprechung).
Dies ist vorliegend zwar der Fall. Da der Beschwerdeführer jedoch selbst einräumt, dass die konkret in Frage stehenden Kosten für die Privatbegutachtung des Medizinischen Abklärungs-Instituts Y. von seiner Rechtsschutzversicherung (CAP Rechtsschutz-Versicherungsgesellschaft AG) übernommen worden sind (Urk. 21 S. 7), besteht seinerseits kein Anspruch auf deren Ersatz, und zwar unbesehen darum, dass ‹Rechtsschutzkosten seine Police belasten›.»
2. Diese Auffassung wird in der (zulässigen; Art. 90 BGG) Beschwerde zutreffend als bundesrechtswidrig (Art. 95 lit. a BGG) gerügt. In der Tat hält der vor instanzliche Entscheid im Lichte des Urteils 9C_475/2009 vom 23.Oktober 2009 (BGE 135 V 473) nicht stand. Wenn, wie das Bundesgericht in diesem Urteil entschied, das Vorhandensein einer Rechtsschutzversicherung, welche die anwaltlichen Vertretungskosten übernimmt, keinen Grund darstellt, der durch einen Anwalt einer Rechtsschutzversicherung (oder einen Rechtsanwalt, dessen Honorar die Rechtsschutzversicherung vergütet) vertretenen, obsiegenden versicherten Person die Parteientschädigung nach Art. 61 lit. g ATSG zu verweigern, ist kein sachlich haltbarer Grund ersichtlich, warum es sich für die Kosten eines Parteigutachtens anders verhalten soll.
Denn die Rechtsprechung hat die notwendigen Expertenkosten seit BGE 115 V 62 stets als Bestandteil des Parteientschädigungsanspruches betrachtet. Voraussetzung ist, dass die Privatbegutachtung notwendig war und einen unerlässlichen Bestandteil der materiellen Beurteilung bildete, was hier jedoch nach ausdrücklicher Feststellung des kantonalen Gerichts zutrifft (und nach der Aktenlage nicht weiter in Frage zu stellen ist). Daher ist die Beschwerde im Grundsatz begründet.
Da das Gutachten des Medizinischen Abklärungs-Instituts Y. bei den Akten liegt und, einschliesslich der separaten psychiatrischen Expertise, mit Fr. 3000.- zuzüglich Mehrwertsteuer korrekt fakturiert wurde, steht nichts entgegen, der Sache durch Zusprechung der Fr. 3228.- an den Beschwerdeführer zu Lasten der Beschwerdegegnerin ein Ende zu machen. [...]
Urteil 9C_178/2010 der II. sozialrechtlichen Abteilung desBundesgerichts vom 14. April 2010
Strafprozessrecht
Höhe der Genugtuung bei einer Einstellung
Bei unschuldig erlittener Haft spielen bei der Fest-setzung der Höhe der Genugtuung auch folgende Faktoren eine Rolle: Die Schwere des vorgeworfenen Delikts, die Publizität in den Medien und die Frage, ob dem Antragsteller durch die Strafunter suchung die eigene Trauerarbeit verwehrt wurde.
Sachverhalt:
Wegen Verdachts auf Tötung seiner Kinder war X. mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. In der Folge wurden ihm eine Umtriebsentschädigung von rund 40000 Franken und eine Genugtuung von rund 16000 Franken zugesprochen. Dagegen legte X. Rekurs ein und verlangte auf gerichtlichem Weg eine Erhöhung des Schadenersatzes und der Genugtuung.
Aus den Erwägungen:
[...]
3.5.1 Die Höhe der Genugtuung bemisst sich nach der Schwere der Verletzung in den persönlichen Verhältnissen, deren Einwirkung auf die Persönlichkeit des Angeschuldigten und dessen allfälliges Selbstverschulden (Schmid, in: Donatsch/Schmid, a.a.O., § 43 N 20). Dabei wirkt sich auf die Höhe der zu leistenden Genugtuung aus, wenn der in dieser Massnahme liegende tort moral durch weitere Umstände, beispielsweise spektakuläre, in Pressekonferenzen bzw. in den Massenmedien ausgeschlachtete Verhaftungen, verstärkt wurde (Schmid, a.a.O., N1224). Bei der Festsetzung der Genugtuung sind die Dauer der Inhaftierung, die Intensität der gesundheitsschädlichen, psychischen und physischen Folgen und das Bekanntwerden der Haft in einer grösseren Öffentlichkeit, die mögliche Rufschädigung, die von der Person und deren Vorleben (Leumund) abhängt, zu berücksichtigen (Schmid, in: Donatsch / Schmid, a.a.O., § 43 N 20).
3.5.2 Gemäss bundesgerichtlicher Praxis erscheint grundsätzlich eine Entschädigung von 200 Franken pro Hafttag als angemessen. Dieser Betrag kann bei aussergewöhnlichen Umständen nach freiem Ermessen der entscheidenden Behörde erhöht oder gesenkt werden (Entscheid des Bundesgerichts vom 9. September 2003, 8G.122/ 2002 Erw. 6.1.6). Bei längerer Untersuchungshaft von mehreren Monaten Dauer ist der Tagessatz in der Regel zu senken, da die erste Haftzeit besonders erschwerend ins Gewicht fällt (BGE 113 Ib 156).
3.5.3 Mit Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich vom 5. Juni 2009 wurde dem Antragsteller eine Genugtuung von 80 Franken pro Tag für die erstandene Untersuchungshaft von 101 Tagen sowie eine Entschädigung für die Verletzung in den persönlichen Verhältnissen von 7500 Franken zugesprochen (act. 2 S. 5 f.). Der Antragsteller verlangt eine Genugtuung von 350 Franken (pro Hafttag) für die erlittenen 96 Hafttage (act. 1 S. 7).
3.5.4 Der Antragsteller wurde wegen des Verdachts der Tötung seiner Kinder in Untersuchungshaft versetzt. Das vorgeworfene Delikt wiegt ausserordentlich schwer. Durch die Untersuchungshaft und die gegen ihn geführte Strafuntersuchung wurde dem Antragsteller die Trauerarbeit verwehrt. Des Weiteren fällt ins Gewicht, dass der Antragsteller die Tatsache verarbeiten musste, dass seine Ehefrau möglicherweise die gemeinsamen Kinder umgebracht hat. Das Tötungsdelikt und die anschliessende Verhaftung der Eltern der getöteten Kinder wurden in den Medien verbreitet. Es gab zahlreiche Berichte über den Stand der Untersuchungen. Bilder des Wohnhauses und Fotos des Antragstellers wurden in den Zeitungen veröffentlicht. Auch der einige Jahre zurückliegende Tod des ältesten Kindes des Ehepaars kam an die Öffentlichkeit (vgl. act. 3).
3.5.5 Die Auswirkungen der Haft auf den Antragsteller waren von grosser Tragweite. Daher erscheint ein Tagessatz von 350 Franken als angemessen. Der Antragsteller befand sich während 96 Tagen in Haft (vgl. act. 2 S. 1). Für die erstandene Haft ist dem Antragsteller daher ein Betrag von 33600 Franken zuzusprechen. Des Weiteren ist dem Antragsteller in Übereinstimmung mit der Einstellungsverfügung vom 5. Juni 2009 eine Genugtuung für die Verletzung in den persönlichen Verhältnissen von 7500 Franken auszurichten (vgl. act. 2 S. 5 f.).
[...]
Verfügung GA090013/U/Ott/sb des Bezirksgerichts Horgen vom 7. September 2009
Verwaltungsrecht
Einsicht der Medien in eine Einstellungsverfügung
Die Verfahrenserledigung nach Art. 53 StGB schliesst eine Einsicht in die Ein stellungsverfügung nicht gänzlich aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine staatliche Instanz die demokratische Kontrolle durch die Öffentlichkeit nicht ersetzen kann.
Sachverhalt:
Verschiedene Medien verlangten Einsicht in die Einstellungsverfügung des Strafverfahrens wegen Nötigung gegen N. Während der Staatsanwalt die Einsicht erlaubte, verweigerte sie die Oberstaatsanwaltschaft auf Rekurs von N. hin. Gegen diesen Entscheid reichten die Medien Beschwerde beim Verwaltungsgericht ein, das sich aber erst auf Anweisung des Bundes gerichts hin für zuständig erklärte. Das Verwaltungsgericht nahm das Verfahren um die Herausgabe der Einstellungsverfügung daraufhin wieder auf.
Aus den Erwägungen:
3.1 Nach dem Gesagten lässt sich eine Herausgabe der Einstellungsverfügung nicht auf die Bestimmungen über die aktive Information gemäss IDG stützen. Ein Einsichtsgesuch wiederum scheitert am Vetorecht der Betroffenen nach § 26 Abs. 2 IDG. Auf einem anderen Blatt steht, ob die Bestimmungen des kantonalen Rechts mit den Vorgaben des Bundesrechts vereinbar sind. [...]
3.3 Verhandlungs- und Entscheidöffentlichkeit nach Art. 30 Abs. 3 BV bedeuten eine Absage an jegliche Form der Kabinettsjustiz. Die Ausübung staatlicher Macht ist so weit legitim, als sie öffentlicher Kritik zugänglich ist. Dies gilt nicht nur für Parlament und Exekutive, sondern auch für die Justiz. Die Gesellschaft soll Kenntnis erhalten können, wie die Rechtspflege ausgeübt wird. [...]
3.5 Art. 30 Abs. 3 BV erfasst grundsätzlich Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung und damit nur bestimmte Ausschnitte des Verfahrens. Nicht erfasst sind das Untersuchungsverfahren im Strafprozess oder die Urteilsberatung. Im hier interessierenden Bereich des Strafrechts beschränkt sich der Anspruch auf öffentliche Urteilsverkündigung aber nicht auf Entscheide über strafrechtliche Anklagen. In begründeten Fällen kann die Öffentlichkeit durchaus ein legitimes Interesse an der Klärung der Frage haben, weshalb es zu nichtgerichtlichen Verfahrens erledigungen ohne Straffolgen durch Sach- und Prozessentscheide kommt.
Vom Anspruch auf öffentliche Urteilsverkündung wird daher grundsätzlich auch die Verfahrens-erledigung durch Einstellungs- und Nichtanhandnahmeverfügungen erfasst (vgl. BGE 134 I 286 E. 6). Gemäss Bundesgericht kann sich ein Informationsbedürfnis insbesondere bei systematischen bzw. auffällig häufigen Verfahrenserledigungen durch Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden bzw. Staatsanwaltschaften aufdrängen (a.a.O., E. 6.3). Eine allzu rigide formale Unterscheidung zwischen materiellen Straferkenntnissen und Verfahrenserledigungen trägt nach Ansicht des Bundesgerichts dem Zweck von Art. 30 Abs. 3 BV nicht ausreichend Rechnung (a.a.O., E. 6.4). [...]
3.8 Innerhalb der Verfahrenserledigungen lassen sich der bundesgerichtlichen Praxis keine weiteren Differenzierungen entnehmen. Allerdings ist offensichtlich, dass das Bundesgericht bei seinem Entscheid vom 2. April 2008 (BGE 134 I 286) nicht wie hier eine Verfahrenseinstellung aufgrund von Art. 53 des Strafgesetzbuchs (StGB, SR 311.0) vor Augen gehabt hat. So führt das Gericht in jenem Entscheid aus, eine Verfahrenserledigung durch Einstellungs- bzw. Nichtanhandnahmeverfügung erfolge grundsätzlich aufgrund eines Prozesshindernisses oder aber, wenn im Hinblick auf eine gerichtliche Beurteilung mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Freispruch mangels Beweisen oder Strafbarkeit erfolgen würde (BGE 134 I 286 E. 6.2). [...]
3.9 [...] Indem der Geschädigte regelmässig sein Desinteresse erklärt, unterscheidet sich eine Verfahrenseinstellung nach Art. 53 StGB von einem (behaupteten) Sachverhalt, wie er dem Entscheid des Bundesgerichts vom 2. April 2008 (BGE 134 I 286) zugrunde lag. Die Einstellung erfolgt im Anwendungsbereich von Art. 53 StGB gerade nicht «sang- und klanglos», sondern meist mit Zustimmung des Geschädigten.
Aus dem Desinteresse des Geschädigten lässt sich indes nicht schliessen, eine Verfahrenseinstellung aufgrund von Art. 53 StGB sei generell vom Anwendungsbereich von Art. 30 Abs. 3 BV auszuklammern. Auch Art. 53 StGB stellt das Verfahren nicht in das Belieben der Parteien; die Einstellung bedarf der Approbation der Behörden. Es geht deshalb nicht, innerhalb des Justizwesens einen eigentlichen Geheimbereich zu schaffen. [...] So bringen die Beschwerdeführenden vorliegend vor, es stehe der Vorwurf im Raum, Roland N. habe aufgrund seiner damals bevorstehenden Wahl zum Armeechef eine Sonderbehandlung erfahren (act. 4/2 S. 10 f., 13).
Eine Wiedergutmachung nach Art. 53 StGB setzt daneben voraus, dass der Beschuldigte die Normverletzung anerkennt (BGr, 13. Mai 2008, 6B_152/2007, E. 5.2.3, mvw.bger.ch; BGE 135 IV 12 E. 3.5.3; anders Riklin, Art. 53 N. 18). Auch diesbezüglich besteht eine Differenz zu den vom Bundesgericht genannten Konstellationen der Verfahrenseinstellung mangels Beweisen oder aufgrund eines Prozesshindernisses.
Das Eingeständnis des Beschuldigten spricht dabei freilich für eine Einsichtnahme in die Verfügung. Die Eigenheiten einer Verfahrenseinstellung nach Art. 53 StGB legen aber immerhin den Schluss nahe, an ein entsprechendes Einsichtsgesuch strenge Massstäbe anzulegen. Den unterschiedlichen Gründen für eine Verfahrenserledigung ist folglich im Rahmen der Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen Rechnung zu tragen. Einen gänzlichen Ausschluss des Einsichtsrechts bei Verfahrenserledigungen gestützt auf Art. 53 StGB vermögen die Unterschiede aber nicht zu rechtfertigen.
3.10 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Art. 30 Abs. 3 BV nicht verfahrensbeteiligten Dritten unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Einsicht in eine Einstellungsvertilgung der Staatsanwaltschaft verleiht. § 26 Abs. 2 IDG, der eine Einsicht in besondere Personendaten von der Zustimmung der Betroffenen abhängig macht, erweist sich insofern als verfassungswidrig. Der Bestimmung muss deshalb hier, wie sich zeigen wird, die Anwendung versagt bleiben.
4.1 Gemäss Bundesgericht ist die Einsichtnahme in eine Einstellungsverfügung bei nicht verfahrensbeteiligten Dritten von einem schutzwürdigen Informationsinteresse abhängig zu machen (BGE 134 I 286 E. 6.6). Diese erste Hürde erscheint dabei als eigentliche Zugangsvoraussetzung. Seinen Ursprung hat der verlangte Nachweis schutzwürdiger Informationsinteressen in der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Akteneinsichtsrecht bei abgeschlossenen Verfahren gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. Brunner, S. 145). Bei abgeschlossenen Verfahren ist das Einsichtsrecht davon abhängig, dass der Gesuchsteller ein besonderes schutzwürdiges Interesse glaubhaft machen kann (siehe BGE 95 I 103 E. 2a).
Das Interesse kann sich aus der Betroffenheit in einem spezifischen Freiheitsrecht oder aus einer sonstigen besonderen Sachnähe ergeben (vgl. BGE 129 I 249 E. 3; Steinmann, Art. 29 N. 29). Ein blosses Glaubhaftmachen schutzwürdiger Interessen genügt darüber hinaus bei Gesuchen um Einsicht in Strafverfügungen (siehe BGE 124 IV 234 E. 3d; BGr, 1. September 2006, 1P.298/2006, E. 2.2, www.bger.ch).
Es ist daher davon auszugehen, dass es auch bei Einsichtsgesuchen betreffend Einstellungsverfügungen ausreicht, wenn schützwürdige Informationsinteressen glaubhaft erscheinen. Dies entbindet das Gericht von der Aufgabe, zu prüfen, ob die Einstellungsverfügung auf die von den Gesuchstellern im Zusammenhang mit der Strafuntersuchung gegen N. aufgeworfenen Fragen tatsächlich eine Antwort gibt.
4.2 In einem zweiten Schritt sind gemäss Bundesgericht die glaubhaft erscheinenden Informationsinteressen gegen allfällige besondere Geheimhaltungsinteressen der Justizbehörden oder Dritter abzuwägen (BGE 134 I 286 E. 6.6). Damit legt das Bundesgericht fest, welche spezifischen Interessen eine Beschränkung des Zugangsrechts und damit eine Einschränkung des Grundrechtsanspruchs zu rechtfertigen vermögen. Für die entsprechende Interessenabwägung ist dabei auf den Inhalt der Einstellungsverfügung abzustellen (vgl. BGE 95 I 103 E. 2b). Das Gericht hat deshalb die Einstellungsverfügung beigezogen. Diesem Vorgehen haftet der Makel an, dass dem Gericht bekannt wird, was einer Prozesspartei unbekannt bleibt. Zugleich ist das Gericht durch den Beizug hinsichtlich des behaupteten Geheimhaltungsinteresses nicht auf die Angaben der Vorinstanz angewiesen, sondern kann dieses selber beurteilen. Der Beizug liegt deshalb im Interesse der Gesuchsteller (vgl. BGE 95 I 103 E. 2b). [...]
4.4 Das von den Beschwerdeführenden geltend gemachte Informationsinteresse beschlägt demnach im Wesentlichen zwei Themenkreise, die ihrerseits zusammenhängen: Zum einen geht es um die Bedeutung des Strafverfahrens gegen N. in Zusammenhang mit dessen Wahl und späterem Rücktritt als Armeechef, zum andern um die Hintergründe und Umstände der Verfahreneinstellung durch die Staatsanwaltschaft I. Der erste Aspekt betrifft das Verhalten der Bundesbehörden, der zweite hauptsächlich jenes der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich. Die beiden Aspekte sind nachfolgend zu vertiefen. [...]
5.2 Stellung, Bedeutung und Funktion des Armeechefs bringen es mit sich, dass nicht nur an seiner Person (vgl. zur Figur der absoluten bzw. relativen Person der Zeitgeschichte etwa BGE 127 III 481 E. 2c/bb), sondern auch an den Umständen seiner Wahl ein gewichtiges Informationsinteresse der Öffentlichkeit besteht. Vieles ist dabei mittlerweile bekannt (vgl. den Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates [GPK-N] vom 28. November 2008, Umstände der Ernennung von N. zum Chef der Armee, BBI 2009, 3425ff., 3434ff.). Bei der Fülle von Informationen, welche die GPK-N zutage gefördert hat, ist ihr die Einsicht in die Einstellungsverfügung vom 23. Oktober 2007 allerdings verwehrt geblieben (vgl. GPK-N, BBI 2009, 3433). [...]
5.4 Das Strafverfahren bildete demnach den blinden Fleck im Zusammenhang mit der Wahl von N. zum Armeechef. Mit Recht ist die GPK-N zum Schluss gekommen, das öffentliche Interesse hätte es von den zuständigen Stellen verlangt, die Hintergründe des Strafverfahrens zumindest in groben Umrissen auszuleuchten (BBI 2009, 3478). Dies haben sie jedoch aus verschiedenen Gründen unterlassen.
5.5 Die Unkenntnis dauert bis heute an. [...] Auch wenn die Verfahrenseinstellung gestützt auf Art. 53 StGB darauf schliessen lässt, dass zumindest ein Teil der Vorwürfe zutrifft, bedeutet dies, dass die Informationen der Öffentlichkeit über eine Angelegenheit, die den Chef der Schweizer Armee sein Amt kostete und die überdies im Zusammenhang mit dem Rücktritt von Bundesrat Samuel Schmid steht, grösstenteils allein auf den Aussagen der Anzeige erstatterin basieren.
5.6 Nach wie vor steht auch die Frage im Raum, ob die Fachstelle PSP in Kenntnis der Details des Strafverfahrens oder zumindest der Einstellungsverfügung zu Gunsten von N. eine positive Risikoverfügung ausgestellt hätte. Dieselbe Frage - wie hätten die Behörden in Kenntnis der Tatsachen gehandelt?- stellt sich auch beim Entscheid von Samuel Schmid, N. dem Gesamtbundesrat als Chef der Armee vorzuschlagen, sowie bei der Ernennung von N. zum Armeechef durch den Gesamtbundesrat. Abgesehen von derartigen kontrafaktischen Fragestellungen ist aber vor allem unklar, ob N. überhaupt zum Chef der Armee hätte gewählt werden dürfen. [...]
5.7 Entgegen der Ansicht der Vorinstanz (vgl. act. 4/4 E. 5.1.3) ist der Inhalt der Einstellungsverfügung für die Beurteilung von Wahl und Absetzung von N. als Chef der Armee deshalb sehr wohl von Bedeutung. Ein schützwürdiges Informationsinteresse der Gesuchsteller erscheint glaubhaft.
6.1 In der Öffentlichkeit ist im Fall N. nicht nur das Verhalten der Bundesbehörden diskutiert worden. Auch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich im Zusammenhang mit der Einstellung des Strafverfahrens bildete Gegenstand kontroverser Debatten. [...]
6.3 Im Kern ziehen die aufgeworfenen Fragen den korrekten Ablauf der Untersuchung in Zweifel. N., so die Vorwürfe, soll aufgrund seiner Stellung protegiert und privilegiert worden sein.
An der Klärung der Vorwürfe besteht daher ein gewichtiges Interesse - zumal die Vorwürfe zumindest nicht abwegig erscheinen. Voraussetzung für eine Klärung ist Transparenz: Zweck der Entscheidöffentlichkeit nach Art. 30 Abs. 3 BV ist es gerade, Spekulationen, dass gewisse Personen von der Justiz bevorzugt werden, zubegegnen (vgl. Zeller, MediaLex 2003, S. 16f.). [...]
6.5 Unerheblich ist entgegen dem Dafürhalten der Vorinstanz (vgl. act. 4/4 E. 5.1.1) und der ehemaligen Lebenspartnerin von N., X, (vgl. act. 10/7/10 S. 2), dass die Justizdirektion die aufgeworfenen Fragen zu beantworten versucht hat. Die Kontrolle durch eine staatliche Instanz vermag die demokratische Kontrolle durch die Öffentlichkeit nicht zu ersetzen. Dies gilt umso mehr, als die Justizdirektion Vorkommnisse innerhalb der eigenen Direktion untersucht hat. [...]
6.6 Auch das Verdikt der nationalrätlichen GPK, das Strafverfahren sei korrekt durchgeführt worden (BBI 2009, 3477), ändert an der Schutzwürdigkeit des Interesses der Gesuchsteller nichts. Wohl hat die GPK-N anders als die Justizdirektion nicht in eigener Sache untersucht. Auch ihr Bericht vermag jedoch eine demokratische Kontrolle durch die Öffentlichkeit nicht zu ersetzen.
7.1 Das Informationsinteresse der Gesuchsteller ist gemäss Bundesgericht gegen allfällige besondere Geheimhaltungsinteressen der Justizbehörden oder von mitbetroffenen Dritten abzuwägen. Im Vergleich zu Entscheiden von Gerichten bestehen damit höhere Hürden für eine Einsicht. Bei Gerichtsentscheiden ist der gänzliche Verzicht auf Publizität «kaum vorstellbar» (Biaggini, Art, 30 N. 21; vgl. auch Wolfgang Peukert in: Jochen Frowein/Wolfgang Peukert, EMRK-Kommentar, 3. A., Kehl am Rhein 2009, Art. 6 N. 196).
7.2 Wie bei Gerichtsentscheiden (dazu BGE 133 I 106 E. 8.3; Steinmann, Art. 30 N. 40) können einer integralen Publikation entgegenstehende Interessen Dritter und der Justizbehörden auch bei Einstellungsverfügungen durch Anonymisierungen sowie durch Kürzungen Rechnung getragen werden; die Verkündung soll namentlich nicht bekannt machen, was der Öffentlichkeit - sofern es zu einer Verhandlung gekommen wäre - durch Ausschluss der Verhandlungsöffentlichkeit hätte verborgen bleiben sollen. Indes lässt sich entgegen der Ansicht der Vorinstanz (vgl. act. 4/4 E. 5.2.1) von einem hypothetischen Ausschluss der Verhandlungsöffentlichkeit nicht auf einen Ausschluss der Entscheidöffentlichkeit schliessen. Eine derartige Argumentation übersieht, dass der Grundsatz der Entscheidöffentlichkeit auch dann gilt, wenn das vorausgegangene Verfahren nicht öffentlich durchgeführt worden ist (BGE 124 IV 234 E. 3c; Franz Zeller, Öffentliches Medienrecht, Bern 2004, S. 170). Der von der Vorinstanz erwähnte Art. 35 lit. e des Opferhilfegesetzes vom 23. März 2007 (SR 312.5) sieht denn auch ausschliesslich vor, dass die Öffentlichkeit von den Verhandlungen ausgeschlossen werden kann.
7.3 Die Entscheidöffentlichkeit steht nicht im Belieben der Parteien (vgl. BGE 133 I 106 E. 8.4, 124 IV 234 E. 3c; Steinmann, Art. 30 N. 40). Schutzwürdigen Interessen ist stattdessen durch Anonymisierungen und Auslassungen Rechnung zu tragen (vgl. Kayser, S. 62). Will man das Öffentlichkeitsprinzip nicht aushöhlen, muss dies auch für Einstellungsverfügungen gelten. Das von N. und seiner ehemaligen Partnerin abgeschlossene Stillschweigeabkommen schliesst daher eine Einsichtnahme in die Einstellungsverfügung nicht aus.
7.5 [...] Es steht ausser Frage, dass die Einstellungsverfügung Einblick in besondere Personendaten von N. und der Anzeigeerstatterin X gewährt und eine Publikation insofern deren Persönlichkeitsrechte tangiert. Ein derartiger Eingriff ist dem Grundsatz der Entscheidöffentlichkeit indes immanent (vgl. Zeller, MediaLex 2003, S. 16f.; Vogel, Art. 78 N. 18) und insofern die Konsequenz daraus, dass das Bundesgericht auch Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft dem Anwendungsbereich von Art. 30 Abs. 3 BV unterstellt. Angesichts der hohen Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips ist der Eingriff indes hinzunehmen (vgl. BGE 119 Ia 99 E. 4b). Kann der Betroffene den Ausschluss der Verhandlungsöffentlichkeit nicht allein gestützt auf seine Persönlichkeitsrechte verlangen (a.a.O.), muss dies umso mehr für die Entscheidöffentlichkeit gelten. Das Bundesgericht verlangt deshalb «besondere Geheimhaltungsinteressen» (BGE 134 I 286 E.6.6). Solche sind vorliegend indes nicht auszumachen.
Wohl trifft die Prangerwirkung des Öffentlichkeitsprinzips (dazu BGB 119 Ia 99 E. 4b) N. umso härter, als das übliche Mittel zur Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes - die Anonymisierung - für ihn vorliegend ausscheidet. Gleichzeitig ist es jedoch nicht angezeigt, die Entscheidöffentlichkeit aufgrund des Bekanntheitsgrads des Betroffenen auszuschliessen (vgl. BGE 119 Ia 99 E. 4b). Personen der Zeitgeschichte haben sich auch ausserhalb des Anwendungsbereichs von Art. 30 Abs. 3 BV eher Eingriffe in ihre Privatsphäre gefallen zu lassen (dazu BGE 127 III 481 E. 2c; Andreas Meili, Basler Kommentar, 2002, Art. 28 ZGB N. 52).
Auch die seit Anordnung der Verfahrenseinstellung verstrichene Zeit steht einer Einsichtnahme nicht entgegen. Wohl nimmt das Interesse an Transparenz mit zunehmender Dauer ab, während der Schutz der Persönlichkeit des Betroffenen an Gewicht gewinnt (vgl. Zeller, Öffentliches Medienrecht, S. 170; ders., MediaLex 2003, S. 25). [...] Vorliegend steht jedoch eine erstmalige Verkündung zur Debatte. Zudem datiert das erste Einsichtsgesuch vom 18. Juli 2008; es wurde damit nur fünf Tage nach Bekanntwerden, dass eine Einstellungsverfügung überhaupt existiert, gestellt. Die Einstellungsverfügung selber erging am 23. Oktober 2007; das erste Gesuch erfolgte damit knapp neun Monate nach Verfahrenseinstellung.
Die Persönlichkeitsrechte der Anzeigeerstatterin X können schliesslich dadurch gewahrt werden, dass ihre Identität - wie im vorliegenden Verfahren - durchweg unkenntlich gemacht wird.
8. Dem Gesuch der Beschwerdeführenden um Einsichtnahme in die Einstellungsverfügung vom 23. Oktober 2007 ist nach dem Gesagten stattzugeben. Allerdings sind jene Passagen der Einstellungsverfügung unkenntlich zu machen, an deren Einsichtnahme kein schutzwürdiges Interesse glaubhaft erscheint. [...]
Entscheid VB.2010.00025 des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Mai 2010
Eine Minderheit der Kammer hat in einer abweichenden Meinung die Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts festgestellt. Zunächst sei ein zweit-instanzlicher Rekurs bei der Justiz-direktion gegeben.
Kommentar zu obigem Urteil von Prof. Dr. Urs Saxer, Zürich:
Das Strafverfahren gegen den ehemaligen Armeechef Roland Nef führte nicht nur zu dessen erzwungenem Rücktritt, sondern letztlich auch zum Sturz eines Bundesrates - ein in dieser Form seit der Gründung des Bundesstaates einmaliger Vorgang. Wenig überraschend wollten daher verschiedene Medien Einblick in die Einstellungsverfügung nehmen, welche Roland Nef vermeintlich den Zugang zum Posten des Armeechefs eröffnete.
Die Staatsanwaltschaft liess gestützt auf das kantonale Informa tions- und Datenschutzgesetz (IDG) die Einblicknahme mit Blick auf die lnformationsinteressen der Öffentlichkeit zu Recht im Grundsatz zu. Die Oberstaats-anwaltschaft lehnte sie demgegenüber zum Schutz der Persönlichkeitsrechte Roland Nefs und wegen einer mit der Geschädigten vereinbarten Vertraulichkeit ab und meinte, die Angelegenheit sei durch eine Untersuchung der GPK sowie der Zürcher Justizdirektion hinreichend ausgeleuchtet. Das Verwaltungsgericht trat auf eine dagegen erhobene Beschwerde in einem gewundenen Entscheid nicht ein, weil es sich angeblich nicht um eine Verwaltungssache, sondern um eine Strafsache handle, für welche allenfalls das Obergericht zuständig sei.
Wenig überraschend verneinte jedoch das Obergericht seine Zuständigkeit. Das Bundesgericht gab denjenigen Beschwerdeführern, welche die Mühe auf sich nahmen, gegen das erste Verwaltungsgerichtsurteil zu rekurrieren, Recht: Das Verwaltungsgericht, nicht das Obergericht sei zuständig. Dieses konnte nun rund zwei Jahre nach dem Einsichtsbegehren über dieses entscheiden und gab ihm grundsätzlich statt.
§ 26 Abs. 2 IDG sieht zwar vor, dass die Einblicknahme in sensible Personendaten verweigert wird, wenn die betroffene Person nicht ausdrücklich zustimmt. Diese Bestimmung ist indessen vor dem Hintergrund der Art. 16, 17 und 30 BV verfassungskonform zu interpretieren. Denn das Bundesgericht anerkennt in BGE 134 I 285, dass die Öffentlichkeit und interessierte Private ein legitimes Interesse an der Klärung der Frage haben können, weshalb es zu nicht gerichtlichen Verfahrenserledigung ohne Straffolgen durch Sach- und Prozessentscheide kommt, allerdings nur in begründeten Fällen. Im vorliegenden Fall bestand indessen ein offensichtliches Informationsinteresse; dieses überwog allfällig bestehende besondere Geheimhaltungsinteressen. Die Persönlichkeitsrechte von Roland Nef, einer Person der Zeitgeschichte, müssen zurücktreten.
Es bleibt abzuwarten, ob die Verfahrensodyssee damit ihr Ende hat - oder ob wieder das Bundes-gericht das letzte Wort hat. Es besteht indes Hoffnung, dass die Justizkontrolle durch die Medien letztlich auch in der Staatsaffäre Nef / Schmid verwirklicht wird. Entscheidend ist namentlich, dass Betroffene eine solche Kontrolle nicht einfach durch ihr Veto verhindern können.
Gerichte des Bundes aktuell
Kein Giftrezept vom Staat einforderbar
Das Bundesgericht hält daran fest, dass das tödliche wirkende Mittel Natrium-Pentobarbital (NAP) an Sterbewillige nur auf ärztliches Rezept abgegeben werden darf. Die II. öffentlichrechtliche Abteilung hat die Beschwerde einer 79-jährigen Frau abgewiesen, die keinen Arzt fand, der ihr NAP verschrieben hätte. Sie forderte deshalb von den Zürcher Behörden die direkte Herausgabe oder Rezeptierung durch den Kantonsapotheker. Das Gericht erinnert daran, dass gemäss Art. 8 EMRK kein Anspruch auf staatliche Hilfe zur Selbsttötung besteht.
2C_9/2010 vom 12.4.2010
Keine B-Bewilligung gegen russischen Inkassos
Die Thurgauer Behörden haben einem Deutschen zu Recht die Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung verwehrt, weil er eine Firma für «russisches Inkasso» betreibt. Das Bundesgericht bestätigt, dass von dem vorbestraften Mann wegen seiner beruflichen Tätigkeit eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausgeht (Art. 5 Anhang I FZA). Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung zitiert von seiner Firmen homepage, wonach er in Aussicht stellt, Forderung «auf russische Art mit einem Team aus Moskau» einzutreiben und bei den Schuldnern einen «unzähmbaren Rückzahlwunsch wecken» kann.
2C_596/2009 vom 23.4.2010
Keine Markeneintragungfür «Madonna»
Das Institut für geistiges Eigentum (IGE) hat einer deutschen Firma die Eintragung der Wort/Bildmarke «Madonna» ins Schweizer Markenregister zu Recht verwehrt. Das Bundesverwaltungsgericht stützt die Auffassung des IGE, dass die Verwendung von «Madonna» als geschützte Marke sittenwidrig ist, da die Bezeichnung von einem überwiegenden Teil der katholischen Christen in der italienischen Schweiz als eine zentrale Figur der religiösen Verehrung verstanden wird. Dass die Marke selbst in Italien eingetragen werden konnte, spielt laut den Richtern in Bern keine Rolle.
B-2419/2008 vom 12.4.2010
Auslieferung einesdeutschen Steuerbetrügers
Die Schweiz ist aufgrund des Schengener Durchführungsabkommens (SDÜ) verpflichtet, Deutsche Steuerbetrüger im Bereich indirekter Steuern wie Mehrwertsteuern und Zollabgaben an ihr Heimatland auszuliefern. Voraussetzung ist, dass die strafbare Handlung nach dem Recht beider Staaten mit einer Maximalstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist. Eingetreten ist das Bundesgericht auf die Beschwerde, da es sich um eine Grundsatzfrage handelt, wobei auch die politische Bedeutung des aktuellen Steuerstreits zwischen der Schweiz und Deutschland Berücksichtigung fand.
1C_163/2010 vom 13.4.2010
Deutsche Steuerbeamtein der Schweiz
Das Bundesstrafgericht erlaubt deutschen Beamten, in der Schweiz an der Sichtung von Dokumenten betreffend mutmassliche deutsche Steuerbetrüger teilzunehmen, sofern Deutschland garantiert, dass die dabei erlangten Erkenntnisse erst dann genutzt werden, wenn die Rechtshilfe rechtkräftig gewährt worden ist.
Laut den Richtern in Bellinzona kann darauf vertraut werden, dass Deutschland seine noch abzugebende Zusage tatsächlich auch einhalten wird. Zwar vertrete die deutsche Bundesregierung die Meinung, dass sich zum Aufspüren von Steuersündern auch zweifelhafte Vorgehensweisen rechtfertigen können, wie zum Beispiel der Kauf strafbar erlangter Daten. Falls die abzugebenden Garantien nicht eingehalten würden, müsse Deutschland allerdings in Kauf nehmen, dass die Anwesenheit deutscher Steuerfahnder bei Rechtshilfemassnahmen künftig generell nicht mehr zugelassen werde.
RR.2010.9 vom 15.4.2010
Täuschung desIV-Gutachters ist Betrug
Eine Frau aus dem Kanton Bern hat mit dem Simulieren einer Bewegungsunfähigkeit ihres Armes gegenüber dem IV-Gutachter den Tatbestand des versuchten Betruges (Art. 146 Abs. 1 StGB) erfüllt. Laut Bundesgericht hat sie den Arzt mit ihrer Vorstellung arglistig getäuscht. Die nicht vorhandenen Schmerzen habe sie in einer eigentlichen Inszenierung vorgetäuscht. Angesichts der Dauer der Untersuchung von knapp vier Stunden habe dies eine systematische Vorbereitung und ein hohes Mass an Konzentration erfordert. Mit ihrer übertriebenen Darstellung hat sie den Arzt davon abgehalten, ihre Angaben genauer zu überprüfen.
6B_46/2010 vom 19.4.2010
Schwyzer SVP-Initiative ungültig
Das Bundesgericht hat der Idee der Schwyzer SVP eine Abfuhr erteilt, nur die Eigen-, nicht aber die Fremdbetreuung von Kindern steuerlich zu begünstigen. Laut den Richtern in Lausanne wurde die entsprechende kantonale Initiative zu Recht für ungültig erklärt, weil sie gegen das Gebot der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) und das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Art. 127 BV) verstösst. Ein Zweiverdienerehepaar, das seine Kinder fremdbetreuen lässt, müsste deutlich weniger Steuern zahlen als bei Eigenbetreuung. Eine solche Ungleichbehandlung könnte nur gerechtfertigt sein, wenn sich aus der BV eine spezielle Förderung der familieneigenen Betreuung ableiten liesse, was indessen nicht der Fall ist. Die Verfassung gewährt Kindern zwar einen Anspruch auf Förderung ihrer Entwicklung. Mit Blick auf dieses Ziel kann allerdings nicht allgemeingültig gesagt werden, dass eine familieneigene Betreuung der familienergänzenden vorzuziehen wäre.
1C_161/2009 vom 3.3.2010
Defekter Tachokein Freipass zum Rasen
Ein Motorradlenker kann seinen Tempoexzess nicht damit rechtfertigen, dass der Tacho falsch angezeigt hat. Laut Bundesgericht wäre sein Irrtum über die tatsächliche Geschwindigkeit bei pflichtgemässer Vorsicht vermeidbar gewesen. Entsprechende Rückschlüsse hätte der Lenker etwa aus dem Fahrtwind oder den Motor- oder sonstigen Fahrzeuggeräuschen ziehen können. Zudem hätte er bemerken müssen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer deutlich langsamer unterwegs sind als er und dass sich die Landschaft um ihn herum schnell verändert. Offen gelassen hat das Bundesgericht die Frage, ob eine «Irrtumsmarge» zugebilligt werden muss, wenn sich ein Lenker bei falscher Anzeige tatsächlich darum bemüht hat, die Tempo limite einzuhalten.
6B_171/2010 vom 19.4.2010
Verbotene Werbungfür billigen Schnaps
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Entscheid der Eidgenössischen Alkoholverwaltung bestätigt, wonach es gegen das Werbeverbot für vergünstigte gebrannte Wasser verstösst (Art.42b Abs. 2 AlkG), wenn Ausgangslokale die Anpreisung machen, an gewissen Abenden alle Getränke zu einem tiefen Einheitspreis abzugeben («Schnägge-Fritig» eines St. Galler Ausgangslokals, «fast alle Getränke für fünf Franken»). Laut dem Gericht muss der Werbeadressat zwangsläufig davon ausgehen, dass es sich bei dem tiefen Einheitspreis um eine Vergünstigung handelt. Keine Rolle spielt, ob das Lokal die Spirituosen effektiv unter dem Normal- oder sogar dem Einstandspreis abgibt. Auch wenn dem Kunden die Vergünstigung nur vorgegaukelt wird, leistet entsprechende Werbung dem Alkoholkonsum Vorschub.
A-6610/2009 vom 21.4.2010
Taxifahrer als Drogenchauffeur
Ein Berner Taxifahrer ist als Mittäter eines Drogentransports (Art. 19 Ziff. 1 Abs.3 i.V.m. Ziff 2 lit a BetMG) schuldig zu sprechen, weil er regelmässig Drogenhändler und ihre Ware chauffiert hat. Der Mann hatte 1999 während rund vier Monaten fünf- bis sechsmal täglich an sechs Tagen pro Woche Drogenhändler befördert, von denen er wusste, dass sie grössere Mengen an harten Drogen bei sich führten. Für die Fahrten wurde er normal bezahlt und erhielt weder höhere Trinkgelder noch Risikozuschläge.
Das Bundesgericht hat seinen Freispruch auf Beschwerde der Berner Staatsanwaltschaft aufgehoben. Laut der Strafrechtlichen Abteilung genügt es für einen Schuldspruch gegen den Chauffeur, dass er wusste, wen und was er transportiert hat. Er habe sich der Tat angeschlossen, indem er die Kunden mehrmals täglich und trotz seines Wissens um den Hintergrund der Fahrten befördert habe. Nicht erforderlich sei dabei, dass er über seinen normalen Verdienst hinaus zusätzliche finanzielle Interessen verfolgt hätte.
6B_911/2009 vom 15.3.2010
PJ
Zur Publikation vorgesehen
Staats-/Verwaltungsrecht
Der vorzeitige Massnahmenantritt gemäss Art. 58 Abs. 1 StGB darf nicht allein deshalb verwehrt werden, weil keine therapeutische Dringlichkeit besteht.1B_102/2010 vom 28.4.2010
Für die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von Angehörigen eines FZA-Staates dürfen die Kantone verlangen (hier Aargau), dass die Betroffenen das Formular «Verfallsanzeige» ausfüllen und den Ausländerausweis einschicken. Die «automatische» Verlängerung gemäss FZA schliesst gewisse verfahrensrechtliche Vorschriften (und Pflichten) nicht aus. 2C_558/2009 vom 26.4.2010
Der Kanton Graubünden ist nicht legitimiert, gegen das Urteil des kantonalen Verwaltungsgerichts Beschwerde zu erheben, mit dem dieses die Besteuerung früherer Erbvorzüge als unrechtmässig erachtet hat. Der Kanton ist nicht in schutzwürdigen Interessen betroffen, da er mit der Abschaffung der Erbschaftssteuer (per Anfang 2008) für direkte Nachkommen kundgetan hat, dass er auf entsprechende Einnahmen künftig verzichten kann. Einer der urteilenden Verwaltungsrichter hätte aber wegen Befangenheit in den Ausstand treten müssen, da er selber als Empfänger eines Erbvorbezuges von seinem Entscheid betroffen ist. 2C_382/2009 vom 5.5.2010
Der Eigentümer einer über die Jahre illegal erweiterten Baute in einem Hochmoor (Kriens LU) muss den rechtmässigen Zustand wiederherstellen. Beurteilung diverser Aspekte, unter anderem Vertrauensschutz, Verwirkung, Rechtsgleichheit und Interessenabwägung. 1C_556/2009 vom 23.4.2010
Eine «Sans Papiers»-Mutter aus dem Kongo darf mit ihrem Schweizer Kind in der Schweiz bleiben. Ihre ausländerrechtlichen Verurteilungen sind nicht höher zu gewichten als das Interesse des Kindes, mit seiner sorgeberechtigten Mutter hierzubleiben. 2C_505/2009 vom 29.3.2010
Die Schweiz darf rechtshilfeweise die Bankdaten von einem Verdächtigten übermitteln, damit die französischen Behörden die Höhe der zu hinterlegenden Kaution festlegen können. Das Verfahren zur Untersuchungshaft hat strafrechtlichen Charakter und ist laut Art. 63 IRSG rechtshilfefähig. 1C_105/2010 vom 12.4.2010
Wird die 48-stündige Frist zur Vorführung beim Haftrichter überschritten (hier um 17 Stunden), genügt als Wiedergutmachung die blosse Feststellung, dass der Anspruch auf unverzügliche richterliche Vorführung nach Art. 5 Ziff. 3 EMRK verletzt worden ist.1B_326/2009 vom 11.5.2010
Zivilrecht
Die bundesrätliche Bestimmung von Artikel 156 der Verordnung über die Beaufsichtigung von privaten Versicherungsunternehmen (AVO, zum Wechselrecht von Versicherten mit geschlossener Zusatzversicherung) ist mit dem Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) und der Vertragsfreiheit (Art. 27 BV) vereinbar. 4A_18/2010 vom 15.3.2010
Zur güterrechtlichen Erfassung von Schulden, die während des Scheidungsverfahrens zur Deckung von Investitionen in die Wohnung eines Ehegatten begründet worden sind. Methode zur Berücksichtigung der Kontokorrentschuld der Firma eines Ehepartners in der güterrechtlichen Auseinandersetzung. 5A_733/2009 vom 10.2.2010
Die Kündigung eines Mietverhältnisses verstösst nicht zwingend gegen die Regeln des guten Glaubens (kein widersprüchliches Verhalten), wenn der Vermieter nicht mehr mit der Nutzung des Mietobjekts (als Restaurant im Zentrum von Genf) einverstanden ist. 4A_557/2009 vom 23.3.2010
Die Vermietung eines Objekts zu Wohnzwecken schliesst nicht aus, dass der Mieter die Wohnung zeitweise unentgeltlich Verwandten oder Freunden überlässt. Es liegt keine Untermiete gemäss Art. 262 OR vor, die kostenlose Überlassung ist mit dem sorgfältigen Gebrauch gemäss Art. 257f Abs. 1 OR vereinbar. 4A_47/2010 vom 6.4.2010
Schadenersatz nach Art. 46 OR für Verdienstausfall ist auf der Basis des Nettosalärs festzulegen, auch wenn der Lohnausfall nur vorübergehend ist. 4A_598/2009 vom 29.3.2010
Das Bundesgericht stellt ein weiteres Mal fest, dass die Schweizer Regelung, dass bei der Heirat einer der beiden Ehegatten den Namen des anderen annehmen muss, gegen BV und EMRK verstösst. Es weist darauf hin, dass das Parlament eine Korrektur abgelehnt hat. Im konkreten Fall bleibt letztlich offen, ob Landes- oder Völkerrecht vorgeht. 5A_712/2009 vom 25.1.2010
Bieten Mutter und Vater in etwa gleich gute Voraussetzungen für die Betreuung des Kindes, kann es für die Dauer des Scheidungsverfahrens jenem Ehegatten zugeteilt werden, der aufgrund seiner Arbeitssituation mehr Zeit hat. 5A_798/2009 vom 4.3.2010
Strafrecht
Bei verminderter Schuldfähigkeit ist die Strafe (in Änderung der Rechtsprechung) wie folgt zu bemessen: Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des Gutachters ist zu entscheiden, in welchem Umfang die Schuldfähigkeit in rechtlicher Hinsicht eingeschränkt ist und wie sich dies insgesamt auf die Einschätzung des Tatverschuldens auswirkt. Das Gesamtverschulden ist zu qualifizieren und mit Blick auf Art. 50 StGB im Urteil ausdrücklich zu benennen. Anschliessend ist innerhalb des zur Verfügung stehenden Strafrahmens die hypothetische Strafe zu bestimmen, die diesem Gesamtverschulden entspricht. Die so ermittelte Strafe kann schliesslich aufgrund wesentlicher Täterkomponenten verändert werden. 6B_238/2009 vom 8.3.2010
Die kumulative Verurteilung eines Rasers (zwei Mitfahrer wurden beim Unfall getötet) wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) und Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) ist bundesrechtskonform (echte Konkurrenz). 6B_1038/2009 vom 27.10.2010
Sozialversicherungsrecht
Die von der Spitex geleistete Vorbereitung der Medikamente (Wochenplanung und Pillensortierung) und die Begleitung von betreuten Personen vom Schlaf- ins Esszimmer gehören nicht zur Pflichtleistung der obligatorischen Krankenversicherung. Urteil 9C_62/2009 vom 27.4.2010
Pensionskassen dürfen als Voraussetzung für einen Anspruch des überlebenden Konkubinatspartners auf das Todesfallkapital eine Begünstigung zu Lebzeiten verlangen. Eine entsprechende Klausel ist mit Art. 20a BVG vereinbar. 9C_3/2010 vom 31.3.2010
Krankenkassen müssen für die operative Behandlung von Fett leibigkeit (unter anderem mittels Magenband) nur bei unter 65 Jahre alten Patienten aufkommen.
9C_99/2009 vom 19.3.2010
Strassburg aktuell
Gerichtshof bekräftigt absolutes Folterverbot
Auf Beschwerde des 2003 wegen erpresserischen Menschenraubs und Mordes verurteilten Magnus Gäfgen hat der EGMR bekräftigt, dass das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung (Art.3 EMRK) absolut gilt. Weder das Verhalten des Betroffenen noch die Beweggründe der Behörden vermöchten Folter oder unmenschliche Behandlung ausnahmsweise zu rechtfertigen.
Die Grosse Kammer des Gerichtshofs war daher einstimmig der Ansicht, die Verhörmethoden im Fall Gäfgen seien menschenrechtswidrig gewesen. Gäfgen war im September 2002 nach der Entführung des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler festgenommen worden. Die Ermittler gingen davon aus, dass Jakob noch lebte. Auf Anweisung des damaligen Polizeivizepräsidenten drohte ein Kriminalhauptkommissar Gäfgen das Zufügen erheblicher Schmerzen an, falls er Jakobs Aufenthaltsort weiterhin verschweige. Diese Drohung war zwar keine eigentliche Folter. Sie wog aber schwer genug, um als unmenschliche Behandlung eingestuft zu werden.
Dass die Verhörmethode rechtswidrig war, hatte auch die deutsche Justiz festgehalten. Die beiden Polizeibeamten waren denn auch wegen Nötigung im Amt (beziehungsweise Verleitung eines Untergebenen dazu) verurteilt worden. Mit 11 gegen 6 Stimmen befand die Grosse Kammer die Bestrafung der Polizist