Sozialversicherungsrecht
Adäquater Kausal-zusammenhang: die drei Kriterien
Bei mittelschweren Unfällen genügt dem Bundesgericht die Erfüllung von drei Kriterien, um den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen den Beschwerden und dem Unfall zu bejahen.
Sachverhalt:
Eine 36-jährige Mutter von zwei Söhnen erlitt im Februar 2006 als Beifahrerin ihres Ehemannes einen Unfall. Die Frau war zum Unfallzeitpunkt zu einem vollen Pensum bei einer Behörde angestellt und bei der Basler-Versicherung gegen die Folgen von Unfall versichert. Ende Oktober 2008 stellte die Basler-Versicherung die anfangs erbrachten gesetzlichen Leistungen ein. Das Kantonsgericht BL hiess die Beschwerde der Verunfallten gegen die Leistungseinstellung gut, worauf die Versicherung sich ans Bundesgericht wandte.
Aus den Erwägungen:
[...]
3.Es ist unbestritten, dass zwischen den bei Leistungseinstellung per Ende Oktober 2008 noch geklagten Beschwerden und dem Unfall vom 26. Februar 2006 ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, die Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhangs nach der Rechtsprechung von BGE 134 V 109 zu erfolgen hat und dabei die Kriterien der «dramatischen Begleitumstände oder besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls», der «ärztlichen Fehlbehandlung» sowie des «schwierigen Heilungsverlaufs oder erheblicher Komplikationen» nicht vorliegen. Die Basler ist jedoch der Ansicht, der adäquate Kausalzusammenhang sei zu verneinen. Sie ordnet das Ereignis vom 26. Februar 2006 im mittleren Bereich an der Grenze zu den leichten Unfällen ein, wohingegen Vorinstanz und Versicherte von einem Unfall im eigentlichen mittleren Bereich ausgehen. Zudem verneint die Basler – anders als Vorinstanz und Versicherte – die Kriterien der «fortgesetzt spezifischen, belastenden ärztlichen Behandlung» sowie der «erheblichen Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen» und ist der Ansicht, letzteres sowie das Kriterium der «erheblichen Beschwerden» seien zumindest nicht in besonders ausgeprägter oder auffallender Weise gegeben.
4.1Praxisgemäss werden Auffahrunfälle, bei welchen das Auto vor einem Fussgängerstreifen oder Lichtsignal stillsteht, dem mittleren Bereich an der Grenze zu den leichten Fällen zugeordnet (RKUV 2003 Nr. U 489 S. 357 E. 4.2 mit Hinweisen [U 193/01]). Im hier zu beurteilenden Fall kam der vom Ehemann der Versicherten gelenkte Wagen auf der verschneiten Autobahn ins Schleudern und prallte frontal in die Mittelleitschranke aus Beton. Der Wagen wurde dabei stark beschädigt und musste abgeschleppt werden (vgl. Polizeirapport). Dabei ist auch zu beachten, dass sich aus dem Polizeirapport eine Geschwindigkeit von 70 km/h ergibt, welche auch der Strafverfügung zugrunde gelegt wurde. Dieser Geschehensablauf ist offensichtlich schwerwiegender als eine blosse Auffahrkollision in ein stehendes Auto und damit ist das Ereignis vom 26. Februar 2006 nicht bloss ein mittelschwerer Unfall im Grenzbereich zu den leichten Fällen.
Dass hier ein Unfall im Grenzbereich zu den schweren Fällen vorliege, machen weder die Vorinstanz noch die Versicherte geltend. Somit ist auf Grund des unbestrittenen Geschehensablaufs und der sich dabei entwickelnden Kräfte mit der Vorinstanz von einem Unfall im eigentlich mittleren Bereich auszugehen. [...]
4.2 Bezüglich des Kriteriums der erheblichen Beschwerden macht die Basler geltend, dass dieses zwar erfüllt, aber nicht besonders ausgeprägt gegeben sei, da dafür eine besonders drastische Beeinträchtigung des Lebensalltags vorliegen müsste. Dem ist beizupflichten. [...]
4.3Das Kriterium der fortgesetzten spezifischen, belastenden ärztlichen Behandlung ist mit der Vorinstanz ebenfalls zu bejahen. Die Versicherte hat in den knapp drei Jahren zwischen dem Unfall und dem Einspracheentscheid vom 30. Januar 2009 nebst den ärztlichen Verlaufskontrollen (bei ihrem Hausarzt sowie beim Neurologen) und der medikamentösen und manualtherapeutischen Behandlung sich einer andauernden psychotherapeutischen Behandlung unterzogen, die zeitweise im Rhythmus von wöchentlichen Sitzungen erfolgte. Auch hat sie aus eigenem Antrieb alternative Methoden in Angriff genommen, die sich positiv auswirkten (Alexandertechnik). Die schon in den ersten vier Monaten nach dem Unfall begonnene Behandlung durch einen Chiropraktiker wurde wegen Erfolglosigkeit nach sechs Sitzungen abgebrochen. Zudem waren infolge der verschriebenen Medikamente und der dadurch verursachten Gastritis die (andauernde) Einnahme eines zusätzlichen Medikaments sowie zwei Hospitalisationen notwendig. Die vom Hausarzt durchgeführte Neural-therapie ist entgegen der Ansicht der Basler nicht einfach den Verlaufskontrollen zuzuordnen. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass diese Neuraltherapie sich zwar positiv auf die Beschwerden auswirkte, aber Nebenfolgen zeitigte, die deren Abbruch und eine längere zusätzliche dermatologische Behandlung nach sich zogen. Weiter ist die Liste der eingenommenen Heilmittel gemäss dem (zweiten) Gutachten des Instituts S. (nachfolgend: Institut S.) vom 28. August 2008 nicht unbeachtlich, da für den zu beurteilenden Sachverhalt der Zeitpunkt des Einsprache-Entscheids massgeblich ist (BGE 129 V 1 E. 1.2 S. 4 mit Hinweis). Schliesslich vermögen zwar ärztliche Verlaufskontrollen sowie medikamentöse und manualtherapeutische Therapien für sich allein das Kriterium nicht zu erfüllen, im Rahmen einer Gesamtbetrachtung können sie jedoch miteinbezogen werden. Insgesamt ist nach dem Gesagten eine fortgesetzte spezifische und die Versicherte angesichts ihrer Erwerbstätigkeit und Aufgaben als Mutter nicht nur zeitlich besonders belastende ärztliche Behandlung ausgewiesen. Das Kriterium liegt jedoch nicht besonders ausgeprägt vor.
4.4Die Versicherte war nach dem Unfall vom 26. Februar 2006 vollständig arbeitsunfähig. Im Sommer 2006 nahm sie ihre Arbeit im Umfang von dreimal zwei Stunden wöchentlich wieder auf und steigerte ihr Pensum im September 2006 auf 50 Prozent. Im März 2007 erhöhte sie es auf 60 Prozent. [...] Die Versicherte arbeitet seit 1. April 2008 in einem 80-Prozent-Pensum. Im ersten Gutachten vom 24. Dezember 2007 attestierte das Institut S. aus neurologischer und psychiatrischer Sicht im bisherigen Beruf eine Arbeitsunfähigkeit von 40 Prozent und in einer leidensangepassten Tätigkeit eine solche von 25 Prozent; im zweiten Gutachten vom 25. August 2008 schlossen die Experten auf eine medizinisch-theoretische Invalidität von 10 Prozent, erachteten die angestammte Tätigkeit auf Grund des zur Chronifizierung neigenden leichtgradig depressiven Syndroms zu 80 Prozent als zumutbar und hielten fest, aus psychiatrischer Sicht sei von einer länger andauernden Arbeitsunfähigkeit von 20 Prozent in jeglicher Tätigkeit auszugehen. Die Versicherte hat somit ihre Arbeitskraft stets im zumutbaren Rahmen ausgeschöpft. Dennoch hat sie eine andauernde Arbeitsunfähigkeit von 20 Prozent zu gewärtigen. Daher ist mit der Vorinstanz das Kriterium der erheblichen Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen zu bejahen. [...] In Übereinstimmung mit dem von der Basler ebenfalls angeführten Urteil 8C_987/2008 vom 31. März 2009 ist aber festzuhalten, dass das Kriterium nicht besonders ausgeprägt vorliegt.
4.5Nach dem Gesagten sind drei der Kriterien erfüllt, wobei keines in besonders ausgeprägter oder auffallender Weise gegeben ist. Dies genügt bei diesem Unfall im eigentlich mittleren Bereich – anders als bei einem Unfall im mittleren Bereich an der Grenze zu den leichten Fällen (vgl. statt vieler Urteil 8C_421/2009 vom 2. Oktober 2009 E. 5.8 mit Hinweisen) – im Rahmen einer Gesamtbetrachtung für die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen den bei Leistungseinstellung noch geklagten Beschwerden und dem Ereignis vom 26. Februar 2006. Soweit sich aus dem Urteil 8C_370/2007 vom 26. Juni 2008 etwas anderes ableiten liesse, kann daran nicht festgehalten werden. Bedarf es für die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs bei einem mittelschweren Unfall im Grenzbereich zu den leichten Fällen des Nachweises von vier Kriterien (vgl. dazu explizit Urteil 8C_487/2009 vom 7. Dezember 2009, E. 5), müssen bei einem Unfall im eigentlich mittleren Bereich drei Kriterien ausreichen, ansonsten die Unterscheidung zwischen mittelschweren Unfällen im Grenzbereich zu den leichten Fällen und den Unfällen im eigentlich mittleren Bereich obsolet würde. Der vorinstanzliche Entscheid besteht demnach zu Recht.
Urteil 8C_897/2009 der I. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 29. Januar 2010, rechtskräftig.
Im Zweifel für einunabhängigesGutachten
Das Bundesgericht hat klargestellt, dass ein unabhängiges Gutachten notwendig ist, wenn auch nur geringe Zweifel am Gutachten des Suva-Kreisarztes bestehen. Umgekehrt gilt der Beweiswert eines Parteigutachtens nicht per se als zweifelhaft.
Sachverhalt:
Ein Gipser verletzte sich bei einem Fehltritt am linken Fussgelenk. Die Suva sprach dem Versicherten ab 1. April 2007 eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 24 Prozent und eine Integritätsentschädigung aufgrund einer Integritätseinbusse von 10 Prozent zu. Er erhob dagegen erfolglos Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und gelangte schliesslich ans Bundesgericht. Gestützt auf ein Privatgutachten verlangte er, dass ihm weiterhin ein halbes Taggeld, eventuell mindestens eine halbe Rente auszurichten sei.
Aus den Erwägungen:
4.4 Es steht fest und ist unbestritten, dass aufgrund des unfallbedingten Gesundheitsschaden eine Wiedereingliederung des Beschwerdeführers in die bisherige Tätigkeit als Gipser aussichtslos wäre. In den Akten finden sich jedoch widersprüchliche Äusserungen medizinischer Fachpersonen bezüglich der theoretischen Arbeitsfähigkeit in einer optimal angepassten Tätigkeit: Während der Suva-Kreisarzt Dr. med. O., FMH für Orthopädische Chirurgie, in seinem Bericht über die ärztliche Abschlussuntersuchung vom 7. Dezember 2006 von einer vollen Arbeitsfähigkeit ausgeht, postuliert Dr. med. J., FMH für Orthopädische Chirurgie, in seinem Privatgutachten vom 9. Juli 2007 ein Pensum von knapp 50 Prozent. Die behandelnden Ärzte der Klinik X. schlossen sich in ihrem Bericht vom 22. Januar 2007 zunächst der Beurteilung des Kreisarztes an, empfahlen dann aber am 3. Juli 2007 aufgrund des unklaren Schmerzbildes eine unabhängige Beurteilung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit. Rechtsprechungsgemäss ist eine unabhängige Begutachtung zu veranlassen, wenn auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der kreisärztlichen Feststellungen bestehen (BGE 8C_216/2009 E. 4.4; 122 V 157 E. 1d S. 162).
Entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen kann dem Privatgutachten des Dr. med. J. nicht entnommen werden, dass sich der Experte bei der Einschätzung der Restarbeitsfähigkeit vorwiegend auf die subjektiven Angaben des Beschwerdeführers gestützt hat. Insofern aus der Stellung dieses Arztes als Parteigutachter auf eine solche Vorgehensweise geschlossen wurde, verstösst dies gegen den Grundsatz, wonach der Umstand allein, dass diese ärztliche Stellungnahme von einer Partei eingeholt und in das Verfahren eingebracht wurde, noch keine Zweifel an ihrem Beweiswert rechtfertigt (BGE 125 V 351 E. 3b/dd S. 353). Ein Abstellen des Privatgutachters auf die subjektiven Angaben des Versicherten ist zwar nicht auszuschliessen; es bedarf jedoch zur Klärung dieser Frage und damit auch der Frage nach der verbliebenen Restarbeitsfähigkeit einer unabhängigen Begutachtung. Dies gilt umso mehr, als sich auch die Ärzte der X. klar für die Notwendigkeit einer solchen ausgesprochen haben. Einzig aufgrund der vorliegenden Akten können die bestehenden Zweifel über die Höhe des in einer angepassten Tätigkeit zumutbaren Pensums nicht ausgeräumt werden. [...]
Urteil 8C_439/2009 der I. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts vom 25. November 2009.
Strafprozessrecht
Hinweis auf Ergänzungsfragen notwendig
Ein Angeschuldigter, der nicht anwaltlich vertreten wird, muss darauf hingewiesen werden, dass er den Belastungszeugen Ergänzungsfragen stellen kann. Geschieht dies nicht, wird die Verfahrensgarantie der EMRK verletzt. Dies hat das Bundesgericht entschieden.
Sachverhalt:
Am 5. Juli 2007 erstattete X. bei der Schaffhauser Polizei Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen unbekannte Polizeibeamten. Das Untersuchungsrichteramt desKan-tons Schaffhausens stellte das entsprechende Verfahren gegen die Polizisten A. und B. ein. Auf Einsprache des einen Polizisten hin bestätigte die Staatsanwaltschaft die Einstellungsverfügung und stellte zusätzlich die Nichtschuld von A. fest.
Am 8. August 2008 eröffnete das Untersuchungsrichteramt gegen X. ein Untersuchungsverfahren wegen falscher Anschuldigung und Abgabe eines falschen Zeugnisses. X. wurde zu einer bedingten Geldstrafe bei einer Probezeit von vier Jahren verurteilt. Nach einer erfolglosen Einsprache beim Kantonsgericht und einer erfolglosen Berufung an das Obergericht Schaffhausen gelangte X. an das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
2.1Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung der Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 32 Abs. 2 BV sowie von 6 Ziff. 3 lit. d EMRK geltend. Es sei ihm nie das Recht eingeräumt worden, als Angeschuldigter Fragen an die Belastungszeugen zu stellen. Als die Belastungszeugen C. und D. befragt worden seien, habe er noch als Geschädigter beziehungsweise Opfer, nicht jedoch als Beschuldigter gegolten. Im später gegen ihn eingeleiteten Verfahren wegen falscher Anschuldigung und falschen Zeugnisses seien die beiden Zeugen nicht mehr befragt worden. Er habe von der Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu stellen, keinen Gebrauch gemacht, da er dieses Verfahrensrecht nicht gekannt habe. Ein amtlicher Verteidiger sei ihm nicht bestellt und ein diesbezügliches Gesuch abgelehnt worden. Die Untersuchungsbehörden und Gerichte hätten ihn auch nie auf die Möglichkeit einer Konfrontation mit den Belastungszeugen aufmerksam gemacht. Die Vorinstanz verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sie auf die Aussagen der Belastungszeugen abstelle.
2.2Die Vorinstanz verweist auf die Vorschrift der Schaffhauser Strafprozessordnung, wonach in der Berufungsverhandlung eine Beweisabnahme nur aus besonderen Gründen stattfinde (Art. 322 Abs. 1 StPO/SH). Der Beschwerdeführer habe im erstinstanzlichen Verfahren keine Anträge auf Zeugeneinvernahme gestellt und im Berufungsverfahren nicht dargelegt, welche besonderen Umstände eine Einvernahme der Zeugen vor Obergericht als geboten erscheinen liessen. Da umfangreiche Befragungen der Zeugen vorlägen, sei eine hinreichende Gesamtwürdigung der Sache möglich, weshalb von einer Einvernahme abzusehen sei.
2.3Nach der Verfahrensgarantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Angeschuldigte Anspruch darauf, dem Belastungszeugen Fragen zu stellen. Dieser Anspruch ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Eine belastende Zeugenaussage ist somit grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessen und hinreichend Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen, wobei als Zeugenaussagen auch in der Voruntersuchung gemachte Aussagen vor Polizeiorganen gelten. Der Beschuldigte muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage zu stellen (zum Ganzen BGE 133 I 33 E. 3.1).
Nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts untersteht das Recht, Belastungs- und Entlastungszeugen zu befragen, dem (kantonalen) Verfahrensrecht. Der Beschuldigte hat einen Antrag auf Befragung eines Zeugen den Behörden rechtzeitig und formgerecht einzureichen. Stellt er seinen Beweisantrag nicht rechtzeitig, kann er den Strafverfolgungsbehörden nachträglich nicht vorwerfen, sie hätten durch Verweigerung der Konfrontation oder ergänzender Fragen an Belastungszeugen seinen Grundrechtsanspruch verletzt (Urteil des Bundesgerichts 6B_10/2009 vom 6. Oktober 2009 E. 2.2.4 mit Hinweisen). Ob ein Antrag auf Befragung von Belastungszeugen unter dem Aspekt von Treu und Glauben rechtzeitig vorgebracht wurde, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.
Der Beschwerdeführer stellte den Antrag auf Durchführung von Konfrontationseinvernahmen erstmals in der Berufungsschrift an die Vorinstanz.
2.4Das Bundesgericht führte im oben erwähnten Urteil aus, dass ein nicht spätestens in der erstinstanzlichen Verhandlung gestellter Antrag auf Konfrontationseinvernahmen verspätet sei, wenn der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben zur Antragsstellung Anlass gehabt hätte. Dass das kantonale Prozessrecht erlaubt, Zeugeneinvernahmen auch im zweitinstanzlichen Verfahren durchzuführen, stehe dem nicht entgegen (Urteil 6B_10/2009 vom 6. Oktober 2009 E. 2.2.5).
Im zu beurteilenden Fall war der Beschwerdeführer bis und mit erstinstanzlichem Verfahren anwaltlich nicht vertreten. Er macht ausserdem zu Recht geltend, dass er von den Untersuchungsbehörden und dem erstinstanzlichen Kantonsgericht nicht darauf hingewiesen wurde, in seiner Eigenschaft als Angeschuldigter den Belastungszeugen Ergänzungsfragen stellen zu können. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben Anlass gehabt hätte, bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens den Antrag auf Konfrontationseinvernahmen zu stellen.
Der im vorinstanzlichen Ver- fahren nunmehr anwaltlich vertretene Beschwerdeführer rügte umgehend die fehlende Konfrontationsmöglichkeit mit den Belastungszeugen in der ausführlichen Berufungsbegründung. [...] Die Vorinstanz thematisiert hierzu einzig die verfahrensrechtliche Möglichkeit einer zweit-instanzlichen Zeugenbefragung und erachtet sie im konkreten Fall als nicht gegeben. Die Vorinstanz verletzt die Verfahrensgarantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, indem unter den vorliegenden Umständen dem Beschwerdeführer die Konfrontation mit den Belastungszeugen verweigert wurde. [...]
4. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 18. Dezember 2009 ist aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Urteil 6B_64/2010 der straf rechtlichen Abteilung des Bundes gerichts vom 26. Februar 2010
Keine Fluchtgefahr, wenn die Strafe kein Fluchtgrund ist
Laut Bundesgericht ist die Fortführung einer Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr verfassungswidrig, wenn die wahrscheinliche Länge der Strafe keinen Fluchtgrund darstellt. Dies auch, wenn die Beschwerdeführerin keine besondere Bindung zur Schweiz hat.
Sachverhalt:
Das Bezirksamt Bremgarten führt gegen X. eine Strafuntersuchung wegen räuberischer Erpressung, einfacher Körperverletzung, Sachbeschädigung und Widerhandlung gegen das Ausländergesetz. Es wirft ihr in der Hauptsache vor, am 7. Juli 2009 zusammen mit zwei Komplizen A. in seiner Wohnung in Wohlen aufgesucht zu haben. Dieser wurde in der Folge geschlagen und mit einer Pistole bedroht, um ihn zur Rückgabe des Geldes zu zwingen, das er X. drei Tage zuvor gestohlen hatte. X. befindet sich seit dem 10. Juli 2009 in Untersuchungshaft. Mit Entscheid 1B_279/2009 vom 12. Oktober 2009 hat das Bundesgericht eine Beschwerde von X. gegen die Abweisung ihres Haftentlassungsgesuchs abgewiesen. Nach Eingang der Anklage vom 8. Dezember 2009 verfügte die Präsidentin des Bezirksgerichts Bremgarten am 11. Dezember 2009, X. habe in Haft zu verbleiben. Das Obergericht wies die gegen die Fortsetzung der Untersuchungshaft gerichtete Beschwerde von X. am 15. Januar 2010 ab. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 16. Februar 2010 beantragt X., diesen Entscheid aufzuheben und sie aus der Haft zu entlassen oder eventuell die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Aus den Erwägungen:
[...]
2.1 Die Beschwerdeführerin ist der ihr vorgeworfenen Taten dringend verdächtig. Als besonderer Haftgrund steht einzig Fluchtgefahr zur Diskussion, Kollusionsgefahr besteht nicht. Bis zur Hauptverhandlung vom 8. April 2010 wird die Beschwerdeführerin circa neun Monate Untersuchungshaft erstanden haben. In Anbetracht des Strafantrages des Staatsanwaltes von 14 Monaten, dessen Höhe die Beschwerdeführerin nicht substantiiert kritisiert, rückt die Untersuchungshaft bis dahin nicht in (zu) grosse Nähe der zu erwartenden Strafe, deren Dauer unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit daher nicht zu beanstanden ist (dazu BGE 132 I 21 E. 4.1; 124 I 208 E. 6). [...]
2.2Für das Obergericht sind die im Entscheid 1B_279/2009 E. 2.2 für die Annahme von Fluchtgefahr angeführten Voraussetzungen nach wie vor erfüllt. Die Beschwerdeführerin verfüge in der Schweiz über keinen Aufenthaltsstatus. Die mögliche Legitimierung ihres Aufenthaltes durch die Heirat mit dem schweizerischen Mitangeklagten B. stehe nicht mehr zur Diskussion, nachdem das Ehevorbereitungs-verfahren mit der Verweigerungder Trauungsermächtigung abgeschlossen worden sei und über ein neues Verfahren, in welchem der Verdacht auf Scheinehe abzuklären wäre, nichts bekannt sei. Es sei daher unklar, wo die Beschwerdeführerin bis zur Hauptverhandlung Unterkunft finden könnte. Sie habe eine Wegweisung aus der Schweiz zu gewärtigen, weshalb für sie grundsätzlich kein Anlass bestehe, die Hauptverhandlung mit einer möglichen Verurteilung abzuwarten. Die Freigabe der beschlagnahmten 24000 Franken, die möglicherweise Erlös aus illegaler Prostitution darstellten, könnte die Beschwerdeführerin allenfalls auch vom Ausland aus in einem separaten Rückforderungsverfahren betreiben, falls die Hauptverhandlung zufolge ihres Untertauchens scheitern würde.
2.3Die Beschwerdeführerin rügt zunächst, die Beschwerdekammer gehe davon aus, die Heirat mit ihrem Verlobten sei nicht mehr möglich: Das sei krass willkürlich. Dieser Vorwurf ist unbegründet, denn die Beschwerdekammer hat nicht die Unmöglichkeit einer Heirat angenommen. Sie ging lediglich davon aus, dass eine allfällige Heirat mit B. das Bestehen eines neuen Ehevorbereitungsverfahren voraussetze (vgl. dazu den Entscheid 1B_283/2009 vom 7. Januar 2010 in dieser Sache). Da ihr von einem solchen nichts bekannt war, ist die Folgerung, die Möglichkeit einer Legitimierung des Aufenthaltes der Beschwerdeführerin durch Heirat stehe nicht zur Diskussion, keineswegs unhaltbar.
Die Beschwerdeführerin bringt allerdings vor, sie habe ein neues Gesuch um Durchführung eines Ehevorbereitungsverfahrens und um Gewährung des dafür erforderlichen Hafturlaubs gestellt (S. 5 E. 2.3). Sie belegt diese Behauptung, die unbestritten geblieben ist, da sich weder die Staatsanwaltschaft noch das Bezirksgericht noch die Beschwerdekammer haben vernehmen lassen, mit einem Schreiben des Zivilstandsamts Mellingen vom 26. Februar 2010, welches sie mit der Replik ins Recht legte. Dabei handelt es sich um einen Sachumstand, der der Beschwerdekammer nicht bekannt war. Gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG sind Noven grundsätzlich unzulässig. Es rechtfertigt sich jedoch, vorliegend davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin Schritte unternommen hat, ein neues Ehevorbereitungsverfahren einzuleiten.
Damit stützt die Beschwerdeführerin ihre Darstellung, dass sie ihren schweizerischen Verlobten heiraten und in Zukunft bei ihm leben will, also gerade nicht die Absicht hat, sich ins Ausland abzusetzen. Dafür besteht nach ihrer Auffassung auch gar kein Anlass, da sie bereits sieben Monate in Untersuchungshaft verbracht habe. Da sie nicht vorbestraft sei, könne sie mit einem bedingten oder wenigstens teilbedingten Strafvollzug rechnen. Auch im Fall einer Verurteilung zu einer 14-monatigen Freiheitsstrafe im Sinne des Staatsanwaltes brauche sie daher keine Fortsetzung des Freiheitsentzugs zu befürchten.
2.4Diese Ausführungen sind grundsätzlich nachvollziehbar. Die Schwere der zu erwartenden Strafe bildet unter den vorliegenden Umständen jedenfalls keinen ins Gewicht fallenden Anreiz, sich der Hauptverhandlung durch Flucht zu entziehen.
Auf der anderen Seite hat die Beschwerdeführerin alles Erforderliche unternommen, um ihren Verlobten zu heiraten und dadurch in der Schweiz bleiben zu können, und sie verfolgt dieses Ziel weiter, nachdem ihre Bemühungen vorerst gescheitert sind. Ob sie dabei einen echten Ehewillen hat oder sich bloss mit einer Scheinehe das Aufenthaltsrecht in der Schweiz erschleichen will, lässt sich vorliegend nicht abschliessend beurteilen. Da sie objektiv keine besonderen Bindungen zur Schweiz hat und hier nicht integriert ist, erscheint es zwar nicht ganz ausgeschlossen, dass sie ihre Heiratspläne aufgibt, die Schweiz verlässt und auch für die Hauptverhandlung nicht zurückkommt. Aufgrund des gestellten Strafantrages des Staatsanwaltes, der bisher ausgestandenen Untersuchungshaft und im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Hauptverhandlung, erscheint es jedoch eher unwahrscheinlich, dass sich die Beschwerdeführerin ins Ausland absetzt. Dass sie auch vom Ausland aus die von ihr beanspruchten 24000 Franken erhältlich machen könnte, wie die Beschwerdekammer ausführt, ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, mutet aber doch eher theoretisch an.
(Urteil 1B_41/2010 der 1. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 9. März 2010)
Grundrechte
Berner Reglement für Kundgebungen verfassungswidrig
Die Bestimmung im Berner Kundgebungsreglement, die Marschkundgebungen nur als Ausnahme zulässt, stellt einen unverhältnismässigen Eingriff in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit dar. Dies hat das Verwaltungsgericht des Kantons Bern entschieden.
Sachverhalt:
Der Stadtrat der Einwohnergemeinde (EG) Bern verabschiedete in seiner Sitzung vom 15. Mai 2008 die Teilrevision des Reglements vom 20. Oktober 2005 über Kundgebungen auf öffentlichem Grund (Kundgebungsreglement, KgR; SSSB 143.1). Neu eingefügt wurde der Artikel 6a mit folgendem Wortlaut:
«Kundgebungen in der Innenstadt
1. Kundgebungen werden in der Regel nur als Platzkundgebungen, namentlich ohne in Anspruchnahme der Hauptgasse, bewilligt.
2. Über Ausnahmen in Einzelfällen entscheidet der Gemeinderat (analog Regelung ‹Bundesplatz›).»
Dieser Stadtratsbeschluss wurde am 23. Mai 2008 im Amtsblatt publiziert. Dagegen wurden zwei Gemeindebeschwerden beim Regierungsstatthalteramt (RSA) Bern (heute: Bern-Mittelland) erhoben, je mit Antrag auf Aufhebung von Art. 6a KgR. Am 30. April 2009 hiess die damalige Regierungsstatthalterin die Beschwerden, soweit sie darauf eintrat, gut und hob Art. 6a KgR auf. Dagegen erhob die EG Bern am 3. Juni 2009 Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragte Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
Aus den Erwägungen:
[...]
3.1 Kundgebungen auf öffentlichem Grund unterstehen dem Schutz verfassungsmässiger Rechte; sie werden nach höchstrichterlicher Rechtsprechung durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt (Art. 16 und 22 der Bundesverfassung [BV; SR 101]). [...] Zu den Versammlungen gehören unterschiedlichste Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation mit einem weit verstanden-en gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck (vgl. auch BGE 132 I 256 E. 3, I 49 E. 5.3). Insoweit sind nicht nur verbale Kundgebungsformen grundrechtlich geschützt, sondern auch andere kommunikative «Inszenierungen», sofern die gewählte Form dazu dient, öffentliche Aufmerksamkeit für den eigenen politischen Standpunkt zu gewinnen und dadurch am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung teilzuhaben (Martin Philipp Wyss, Appell und Abschreckung. Verfassungsrechtliche Beobachtungen zur Versammlungsfreiheit, in ZBI 2002 S. 393 ff., 407; Hangartner/Kley-Struller, Demonstrationsfreiheit und Rechte Dritter, in ZBI 1995 S. 101ff., 102). [...]
Kundgebungen auf öffentlichem Grund stellen eine Form des gesteigerten Gemeingebrauchs dar und dürfen daher einer Bewilligungspflicht unterstellt werden. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der BV erhalten im Zusammenhang mit Demonstrationen einen über reine Abwehrrechte hinausgehenden Charakter und weisen ein gewisses Leistungselement auf. Die Grundrechte gebieten in Grenzen, dass öffentlicher Grund zur Verfügung gestellt wird oder unter Umständen ein anderes als das in Aussicht genommene Areal bereitgestellt wird, das dem Publizitätsbedürfnis der Veranstalterinnen und Veranstalter in anderer Weise Rechnung trägt. Ferner sind die Behörden verpflichtet, durch geeignete Massnahmen wie etwa durch Gewährung eines ausreichenden Polizeischutzes dafür zu sorgen, dass öffentliche Kundgebungen tatsächlich stattfinden können und nicht durch gegnerische Kreise gestört oder verhindert werden. Im Bewilligungsverfahren darf die Behörde die gegen eine Kundgebung sprechenden polizeilichen Gründe, die zweckmässige Nutzung der vorhandenen öffentlichen Anlagen im Interesse der Allgemeinheit und der Anwohnerinnen beziehungsweise Anwohner und die mit einer Kundgebung verursachte Beeinträchtigung von Freiheitsrechten unbeteiligter Dritter mitberücksichtigen. In diesem Sinn besteht grundsätzlich ein bedingter Anspruch, für Kundgebungen mit Appellwirkung öffentlichen Grund zu benützen. Die Veranstalter und die Veranstalterinnen können indes nicht verlangen, eine Manifestation an einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter selbst bestimmten Rahmenbedingungen durchzuführen; hingegen haben sie Anspruch darauf, dass der von ihnen beabsichtigten Appellwirkung Rechnung getragen wird (zum Ganzen BGE 132 I 256 E. 3, 127 I 164 E. 3b und c mit weiteren Hinweisen). Insoweit kann das Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt werden (hierzu Martin Philipp Wyss, a.a.O., S. 407 f.). Unter Umständen erweist sich auch ein generelles Verbot von Kundgebungen an bestimmten Orten als verfassungsmässig, denn es muss nicht der gesamte öffentliche Grund für Demonstrationen zur Verfügung gestellt werden (BGE 124 I 267 E. 3d mit Hinweisen; Martin Philipp Wyss, a.a.O., S. 398f.).
3.2 [...] Art. 19 Abs. 2 der Berner Kantonsverfassung (KV) bestimmt, dass Kundgebungen auf öffentlichem Grund durch Gesetz oder Gemeindereglement bewilligungspflichtig erklärt werden können (Satz 1). Sie sind zu gestatten, wenn ein geordneter Ablauf gesichert und die Beeinträchtigung der anderen Benutzerinnen und Benutzer zumutbar erscheint (Satz 2). Daraus folgt, dass bei gegebenen Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf Bewilligung einer Kundgebung besteht (Kälin/Bölz, a.a.O., Art. 19 N. 5a; BGer 1C_140/2008 vom 17.3.2009, in ZBI 2010 S. 42 E. 5). Bei der Beurteilung, ob ein geordneter Ablauf gesichert und die Beeinträchtigung anderer Personen zumutbar ist, steht den Behörden ein Beurteilungsspielraum zu (Kälin/Bölz, a.a.O., Art. 19 N. 5a). Soweit Art. 19 Abs. 2 KV explizit einen (bedingten) Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung zur Durchführung einer Kundgebung auf öffentlichem Grund kennt, geht die Kantonsverfassung über die Bundesverfassung hinaus (Botschaft über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Bern vom 6.12.1993, BBl 1994 I S. 401 ff., 407; Kälin/Bölz, a.a.O., Art. 19 N. 5a; RRB 13.2.2008, in BVR 2009 S. 193 E. 4.2). [...]
4.1 [...] Als Kundgebungen im Sinn dieses Reglements gelten Veranstaltungen, welche einen ideellen Inhalt und eine Appellfunktion haben und von mehreren Personen getragen werden (Art. 1 Abs. 3 KgR). Nach der bisherigen Regelung sind Kundgebungen auf öffentlichem Grund nur mit vorgängiger Bewilligung der Stadt zulässig, wobei Spontankundgebungen vorbehalten bleiben (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 KgR). Die Bewilligung wird nach Art. 2 Abs. 2 KgR erteilt, wenn ein geordneter Ablauf der Kundgebung gesichert und die Beeinträchtigung der anderen Benutzerinnen und Benutzer des öffentlichen Grundes zumutbar erscheint. Art. 2 Abs. 2 KgR übernimmt damit wörtlich die Voraussetzungen von Art. 19 Abs. 2 KV und wiederholt, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf Bewilligung besteht (vgl. E. 3.2 hiervor). [...]
4.2.1 Aus dem Wortlaut von Art. 6a KgR folgt, dass Kundgebungen regelmässig («in der Regel») nur als Platzkundgebungen und nur ausnahmsweise als Marschkundgebungen bewilligt werden. Marschkundgebungen sollen – ebenso wie Kundgebungen auf dem Bundesplatz zu den in Art. 6 Abs. 1 KgR festgelegten Zeiten – lediglich in «Einzelfällen» in Betracht kommen. Somit wird mit der neu eingefügten Bestimmung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis konzipiert. Der EG Bern ist daher zuzustimmen, soweit sie einwendet, kein «grundsätzliches» beziehungsweise «generelles» Verbot von Umzügen im Sinn eines absoluten Verbots statuiert zu haben.
Dem Protokoll der Stadtratssitzung vom 15. Mai 2008 lässt sich entnehmen, dass mit der im Streit liegenden Norm das Kundgebungsrecht im Bereich der Innenstadt weitergehend eingeschränkt werden sollte. [...] Schwerpunkt der Stadtratsdebatte bildete das Anliegen, dass Kundgebungen regelmässig als Platzkundgebungen durchgeführt werden sollten. Eine Marschkundgebung sollte nur ausnahmsweise «beim Vorhandensein legitimer Interessen», die von der Antragstellerin oder dem Antragsteller «ausreichend begründet» werden müssen, bewilligt werden. Verschiedene Voten bringen zum Ausdruck, dass der Stadtrat mehrheitlich offenbar davon ausgegangen ist, dass Art. 2 Abs. 2 KgR das Kundgebungsrecht im Bereich der Innenstadt nur unzureichend einzuschränken vermag. Sinn und Zweck von Art. 6a KgR besteht demnach darin, das Kundgebungsrecht weitergehend zu beschränken. Die systematische Stellung dieser Norm deutet ebenfalls auf eine weitergehende Einschränkung für Kundgebungen in der Innenstadt hin. Zusammenfassend ergibt sich, dass mit der schematisierenden Regelung von Art. 6a KgR mit Blick auf die Kundgebungsform ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert wird, das als generelle Einschränkung des Kundgebungsrechts zu qualifizieren ist.
4.2.2 Der eingeschobene Zusatz «namentlich ohne in Anspruchnahme der Hauptgasse» mag sprachlich zwar insofern nicht eindeutig sein, als man ihn gegebenenfalls nicht nur als präzisierende Beifügung zu «Platzkundgebungen» lesen kann, sondern auch als weiteren Hauptsatz («Kundgebungen werden [...] namentlich ohne Inanspruchnahme der Hauptgasse bewilligt»). Die Debatte macht aber deutlich, dass Letzteres nicht dem Normsinn entspricht und dem Zusatz im Verhältnis zu der in Art. 6a KgR verankerten Regel-Ausnahme keine selbständige Bedeutung beizumessen ist. Insbesondere resultiert daraus kein totales Kundgebungsverbot für die Hauptgasse/n. [...]
4.2.3 Soweit die EG Bern dafürhält, mit Art. 6a KgR werde das Kundgebungsrecht nicht weitergehend eingeschränkt, sondern lediglich die «bereits gelebte Regelung kodifiziert» (Verwaltungsgerichtsbeschwerde Ziff. 13), ist ihr entgegenzuhalten, dass die bisherige Regelung kein Regel-Ausnahme-Verhältnis bezüglich der Kundgebungsform kennt. Die Einführung von Art. 6a KgR bedeutet – wie die Auslegung ergeben hat – eine weitergehende Einschränkung (vgl. E. 4.2.1). [...]
4.3 Als Ergebnis der Auslegung kann demnach festgehalten werden: Art. 6a KgR legt bezüglich der Kundgebungsform ein Regel-Ausnahme-Verhältnis fest und stellt eine generelle Einschränkung des Kundgebungsrechts dar. Dem Passus «namentlich ohne in Anspruchnahme der Hauptgasse» kommt dabei nicht die Bedeutung eines totalen Kundgebungsverbots in den Hauptgassen zu.[...]
5.1 [...] Gemäss Art. 6a KgR werden Kundgebungen in der Regel als Platzkundgebungen und nur ausnahmsweise als Marschkundgebungen bewilligt. Mit dieser Bestimmung wird das Kundgebungsrecht insofern eingeschränkt, als die Wahlfreiheit bezüglich der Kundgebungsform beschnitten wird. Ausnahmen sind lediglich in Einzelfällen möglich. Somit wird in den Schutzbereich der verfassungsmässigen Rechte gemäss Art. 16 und 22 BV bzw. Art. 19 KV eingegriffen. [...]
5.1.1Die interessierende Norm ist Teil des Kundgebungsreglements der Stadt Bern, das ein formelles Gesetz auf kommunaler Ebene darstellt. Es liegt somit – ungeachtet der Schwere des Grundrechtseingriffs – eine genügende gesetzliche Grundlage vor (vgl. Art. 36 Abs, 1 Satz 2 BV), was auch nicht bestritten ist.
5.1.2 Ein öffentliches Interesse daran, dass Kundgebungen in der Regel als Platzkundgebungen durchzuführen sind, liegt nach Meinung der EG Bern in der Aufrechterhaltung des öffentlichen Verkehrs, in den Interessen der Gewerbetreibenden sowie in der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Unbestrittenermassen vermögen Marschkundgebungen im Vergleich zu Platzkundgebungen die Interessen des öffentlichen Verkehrs und jene der Gewerbetreibenden vermehrt zu tangieren. Mit Blick auf die öffentliche Sicherheit ist allerdings zu beachten, dass nicht alle Marschkundgebungen von vornherein ein erhebliches Gefahrenpotenzial in sich bergen.
Einer solchen generellen antizipierten Gefahrenanalyse kann nicht zugestimmt werden, womit das Argument der «polizeilichen Gefahrenabwehr» – so die EG Bern – nicht per se stichhaltig ist. Vielmehr hängt von den objektiv zu würdigenden Umständen des einzelnen Falls ab, ob eine Versammlung auf einem öffentlich-em Grund voraussehbar die öffentliche Ordnung und die Polizeigüter gefährdet oder gefährden wird. Den von einer Kundgebung betroffenen Interessen kann durch entsprechende Auflagen in zeitlicher und örtlicher Hinsicht oder – als Ultima Ratio – durch die Bewilligungsverweigerung Rechnung getragen werden, kommen doch bei konkreter Gefahr von Ausschreitungen und Sachbeschädigungen ausserordentliche Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Betracht (vgl. BGE 132 I 256 E. 4.6; Christoph Rohner, a.a.O., Art. 22 N. 25). Überdies können gewaltsame Versammlungen von vornherein keinen verfassungsrechtlichen Schutz für sich in Anspruch nehmen (Müller/Schefer, a.a.O., S. 582ff.; Christoph Rohner, a.a.O., Art. 22 N. 16). Insgesamt ist anzuerkennen, dass Marschkundgebungen im Vergleich zu Platzkundgebungen die öffentlichen Interessen und Interessen Dritter vermehrt tangieren.
5.1.3Die in Art. 6a KgR statuierte Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit lässt sich nur rechtfertigen, sofern sie verhältnismässig ist (Art. 36 Abs. 3 BV und Art. 28 Abs. 3 KV). Hierbei ist das Augenmerk auf das Verhältnis zwischen dem Grundrechtseingriff und dem Zweck, der im öffentlichen Interesse liegen oder dem Schutz der Grundrechte Dritter dienen muss, zu richten: Die strittige Norm schränkt das Selbstbestimmungsrecht der Veranstalterinnen und Veranstalter von Kundgebungen insofern ein, als sie nur ausnahmsweise eine Marschkundgebung durchführen dürfen.
Gemäss Art. 19 Abs. 2 KV und Art. 2 Abs. 2 KgR sind Kundgebungen jedoch zu bewilligen, sofern ein geordneter Ablauf der Kundgebung gesichert ist und die Beeinträchtigung der anderen Benutzerinnen und Benutzer des öffentlichen Grunds zumutbar erscheint. Auch Art. 16 und 22 BV gebieten, dass Kundgebungen in der von den Veranstalterinnen und Veranstaltern gewünschten Weise bewilligt werden, sofern durch die Kundgebung nicht eine mit angemessenen polizeilichen Massnahmen nicht zu beseitigende erhebliche Gefahr der Störung des Verkehrs oder der Störung von Ruhe und Ordnung geschaffen würde (vgl. BGE 100 Ia 392 E. 4b).
Kantons- und Bundesverfassung gewährleisten einen bedingten Anspruch auf Bewilligungserteilung mit der Folge, dass Kundgebungen – mithin auch Marschkundgebungen – in der Regel zu bewilligen sind (E. 3.1 hiervor). Es gilt demnach der Grundsatz, wonach die Freiheit die Regel und die Beschränkung die Ausnahme bildet (vgl. BGE 107 Ia 292 E. 5). Art. 6a KgR verkehrt diesen Grundsatz für die Marschkundgebung in sein Gegenteil. Dieser Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Veranstalterinnen und Veranstalter wiegt nicht leicht und erweist sich mit Blick auf die öffentlichen Interessen als unverhältnismässig. Dies führt zum Schluss, dass die pauschale Regelung von Art. 6a KgR einen unverhältnismässigen Eingriff in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach Art. 16 und 22 BV sowie Art. 19 KV darstellt.
5.2 Was die Gemeinde zur Wahrscheinlichkeit verfassungskonformer Anwendung von Art. 6a KgR vorbringt, überzeugt nicht: Zum einen kann sie aus BGE 114 Ia 413 E. 4b nichts zu ihren Gunsten ableiten, da sich dieses Urteil mit der Frage beschäftigt, ob die in einer Initiative für die Errichtung einer kommunalen Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Geschäftsräumen für den Regelfall vorgesehene Bevorzugung von Genossenschaften gegen das Rechtsgleichheitsgebot verstösst. Angesichts des unterschiedlichen Sachverhalts, des ungleichen Zwecks und (Initiativ-)Texts können keine Rückschlüsse auf die vorliegende Sache gezogen werden. Zum andern wird im hier zu beurteilenden Fall die Absicht der Gemeinde deutlich, dass die ausnahmsweise Bewilligung einer Marschkundgebung besonders zu begründen ist, was sich im Licht der verfassungsrechtlichen Vorgaben als unhaltbar erweist.
Hinzu kommt, dass bei einer Bewilligungsverweigerung gestützt auf Art. 6a KgR keine Möglichkeit besteht, durch eine spätere Normkontrolle rechtzeitig verfassungsrechtlichen Schutz zu erhalten. So ist das Interesse, die verweigerte Marschkundgebung durchzuführen, im Rechtsmittelverfahren meist nicht mehr aktuell. Die Möglichkeit der Korrektur fällt daher zumeist ausser Betracht. Unter Rechtssicherheitsaspekten ist schliesslich beachtlich, dass das in Art. 6a KgR verankerte Regel-Ausnahme-Verhältnis dazu geeignet ist, bei potenziellen Kundgebungsveranstalterinnen und -veranstaltern den Eindruck zu erwecken, sie seien grundsätzlich nicht zur Durchführung einer Marschkundgebung befugt (Abschreckungseffekt).
5.3 Zusammenfassend ergibt sich, dass sich das in Art. 6a KgR bezüglich der Kundgebungsform statuierte Regel-Ausnahme-Verhältnis als verfassungswidrig erweist. Art. 6a KgR steht mit der verfassungsrechtlichen Konzeption in klarem Widerspruch und wirkt sich auf die Veranstalterinnen und Veranstalter von Kundgebungen unverhältnismässig aus. Die Norm entzieht sich in ihrer jetzigen Formulierung einer verfassungskonformen Auslegung. Demnach hält der Entscheid des Regierungsstatthalteramts der Rechtskontrolle stand. Die Beschwerde ist somit abzuweisen.
Urteil 100.2009.180U des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 18. Februar 2010