Strafprozessrecht
Revision nach widersprüchlichen Strafbefehlen
Ein rechtskräftiger Strafbefehl kann auf dem Weg der Revision angefochten werden, wenn andere Strafbefehle bei gleichem Sachverhalt in einem Parallelverfahren aufgehoben wurden.
Sachverhalt:
Der Gesuchsteller nahm in der Berner Innenstadt an einer unbewilligten Demonstration teil. Laut Strafbefehl hatte er sich damit des Landfriedensbruchs schuldig gemacht. Eine andere Demoteilnehmerin mit gleichlautendem Strafbefehl erhob dagegen erfolgreich vor Regionalgericht Einsprache. Aufgrund dieses rechtskräftigen Freispruchs ersuchte der Kläger, sein Strafbefehl solle nachträglich ebenfalls aufgehoben werden. Das Regionalgericht wies ihn ab. Das Obergericht Bern gab ihm recht.
Aus den Erwägungen:
3.1 Entschliesst sich die Staatsanwaltschaft nach erfolgter Einsprache der beschuldigten Person, am Strafbefehl festzuhalten, so überweist sie die Akten unverzüglich dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens. Der Strafbefehl gilt dabei als Anklageschrift. Sind gegen mehrere Personen Strafbefehle erlassen worden, die sich auf den gleichen Sachverhalt beziehen, so ist Art. 392 StPO sinngemäss anwendbar (Art. 356 Abs. 1 und 7 StPO). Letztgenannte Bestimmung, welche im Rechtsmittelverfahren zur Anwendung gelangt und den Titel «Ausdehnung gutheissender Rechtsmittelentscheide» trägt, besagt: Haben nur einzelne der im gleichen Verfahren beschuldigten oder verurteilten Personen ein Rechtsmittel ergriffen und wird dieses gutgeheissen, so wird der angefochtene Entscheid auch zugunsten jener aufgehoben oder abgeändert, die das Rechtsmittel nicht ergriffen haben, wenn: a. die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt anders beurteilt; und b. ihre Erwägungen auch für die anderen Beteiligten zutreffen. Die Rechtsmittelinstanz hört vor ihrem Entscheid wenn nötig die beschuldigten oder verurteilten Personen, die kein Rechtsmittel ergriffen haben, die Staatsanwaltschaft und die Privatklägerschaft an.
3.2 Umstritten ist vorliegend, ob Art. 392 Abs. 1 StPO auch in der vorliegenden Konstellation zur Anwendung gelangt.
3.2.1 Das Regionalgericht verneinte dies mit folgender Begründung: Formelle Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 392 StPO im Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht ist, dass die in unterschiedlichen Strafbefehlen beurteilten Sachverhalte mindestens im gleichen Zeitraum beim selben Gericht zur Anklage gebracht wurden. Art. 392 StPO greift nicht, wenn mehrere beschuldigte Personen ursprünglich im gleichen Verfahren verfolgt wurden, «die einen dann aber mit Strafbefehl, andere vom Einzelgericht und wieder andere vom Kollegialgericht verurteilt wurden». Wurde gegen zwei Mittäter ein Strafverfahren eröffnet und beide Mittäter im selben Verfahren verfolgt, der eine dann aber im Strafbefehlsverfahren verurteilt und der andere mittels Anklage dem erstinstanzlichen Gericht überwiesen, so kommt eine Ausdehnung nach Art. 392 StPO nicht in Frage, wenn nur einer der beiden den gegen ihn ergangenen Entscheid angefochten und einen günstigeren Entscheid errungen hat. Da bei Strafbefehlen in aller Regel keine Verfahrenseinheit vorliegt und das Gericht von den Strafbefehlen gegen andere Personen meist keine Kenntnis hat, greift Art. 392 StPO regelmässig nicht.
3.2.2 Die Beschwerdeführerin rügt, dass das Regionalgericht hauptsächlich auf Literaturstellen zu Art. 392 StPO abgestellt und diese Bestimmung wortwörtlich auf die vorliegende Konstellation übertragen habe. Vorliegend stehe jedoch nicht die Anwendung von Art. 392 StPO zur Diskussion, sondern dessen sinngemässe Anwendung im Rahmen von Art. 356 Abs. 7 StPO. Die restriktive Auslegung des Regionalgerichts vereitle die Anwendbarkeit resp. widerspreche dem klaren Wortlaut von Art. 356 Abs. 7 StPO. Es seien keine Hinweise ersichtlich, dass der Gesetzgeber diese Norm dermassen restriktiv habe ausgelegt wissen wollen.
4.1 Soweit ersichtlich haben sich das Bundesgericht und die kantonalen Gerichte noch nicht zur Frage der sinngemässen Anwendbarkeit von Art. 392 StPO für in Strafbefehlsverfahren ergangene Erkenntnisse resp. zum Anwendungsbereich von Art. 356 Abs. 7 StPO geäussert. Es ist im Folgenden Art. 356 Abs. 7 StPO einer Auslegung zu unterziehen. Dies bedingt zwangsläufig auch eine nähere Betrachtung von Art. 392 StPO.
4.5 In systematischer Hinsicht ist festzuhalten, dass Art. 392 StPO – auf welchen in Art. 356 Abs. 7 StPO verwiesen wird – in den allgemeinen Bestimmungen des 9. Titels «Rechtsmittel» aufgeführt ist. Art. 392 StPO hält eine allgemeine Grundregel im Rechtsmittelverfahren fest, dass eine Aufhebung/Abänderung eines Entscheids stets auch zugunsten derjenigen beschuldigten Personen erfolgen soll, die selber kein Rechtsmittel gegen einen auch sie beschwerenden Entscheid ergriffen haben. Die Einsprache im Sinn von Art. 354 StPO ist zwar kein Rechtsmittel im engeren Sinn, sondern ein Rechtsbehelf. Ungeachtet dessen soll Art. 392 StPO auch in Strafbefehlsverfahren zur Anwendung gelangen.
4.6 Der Gesetzgeber übernahm das Gebilde der Ausdehnung gutheissender Rechtsmittelentscheide auch für Strafbefehle und das damit zusammenhängende Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht. Jedoch kann weder dem Wortlaut, den Materialien noch der Systematik Genaueres zum konkreten Vorgehen entnommen werden. Die hier nun interessierende Frage, in welchen Fällen eine Korrektur eines unangefochten gebliebenen Strafbefehls über das Institut der «Ausdehnung gutheissender Rechtsmittelentscheide» zu erfolgen hat und wann der Weg über das Rechtsmittel der Revision zu beschreiten ist, lässt sich indessen mit einer teleologischen Auslegung beantworten.
4.7 Sinn und Zweck von Art. 392 StPO (und damit auch von Art. 356 Abs. 7 StPO) ist die Vermeidung nachträglicher Revisionsgesuche. Eine Ausdehnung gutheissender Rechtsmittelentscheide im Sinn von Art. 392 StPO – d.h. eine Urteilsabänderung zugunsten von Mitbeteiligten – stellt eine Revision sui generis dar, die den allgemeinen Revisionsbestimmungen vorgeht und zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung Platz greift. Sie erfolgt jeweils von Amtes wegen im Zusammenhang mit einem hängigen Rechtsmittelverfahren. Dabei werden vorinstanzliche Entscheide auch zugunsten derjenigen beschuldigten Person aufgehoben oder geändert, die im selben Verfahren beschuldigt oder verurteilt worden ist, das Rechtsmittel aber selbst nicht ergriffen hat.
Das bedeutet zum einen, dass ein diesbezüglicher Antrag zwar möglich, aber nicht notwendig ist, zum anderen, dass eine sogenannte Verfahrenseinheit vorliegen muss, somit die beschuldigte Person, welche kein Rechtsmittel ergriffen hat, im gleichen vorinstanzlichen Verfahren verurteilt worden ist.
Wurden die beschuldigten Personen, welche kein Rechtsmittel ergriffen haben, erstinstanzlich nicht im gleichen Verfahren abgeurteilt, entfällt ein Vorgehen nach Art. 392 StPO. In diesen Fällen dürften die Voraussetzungen für eine Revision gemäss Art. 410 Abs. 1 Bst. b StPO erfüllt sein. Gemäss dieser Bestimmung steht die Revision offen, wenn ein Entscheid mit einem späteren Strafentscheid, der den gleichen Sachverhalt betrifft, in unverträglichem Widerspruch steht. Erfasst davon wird der Fall, dass der gleiche Lebenssachverhalt in zwei verschiedenen Entscheiden unterschiedlich gewürdigt wird. Der Widerspruch zwischen den fraglichen Urteilen ist erst dann unverträglich, wenn nach den Denkgesetzen eines davon notwendigerweise falsch sein muss. Damit kommt dieser Revisionsgrund nur zur Vermeidung absolut stossender Ergebnisse zum Tragen. Hauptsächlich zur Anwendung gelangt er im Fall von getrennt geführten Strafverfahren gegen verschiedene Verantwortliche.
Ein unverträglicher Widerspruch liegt vor allem dann vor, wenn die Anklage in beiden Entscheiden den gleichen Lebenssachverhalt umfasst und dieser im späteren Entscheid in Folge einer abweichenden Würdigung als nicht nachweisbar angesehen wird, während er im früheren Entscheid als erstellt erachtet worden ist. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn von mehreren Teilnehmern am gleichen Delikt der eine später freigesprochen wird, weil das Gericht die Tat nicht für erwiesen hält. So auch, wenn eine andere Person als der Verurteilte für die gleiche Handlung schuldig gesprochen wurde oder zwei verschiedene Personen für ein offensichtlich in Alleintäterschaft begangenes Delikt verurteilt wurden.
Die vorstehenden Ausführungen bedeuten nun für das Strafbefehlsverfahren resp. Art. 356 Abs. 7 StPO: Erzielen ein oder mehrere Einsprecher vor dem erstinstanzlichen Gericht ein im Vergleich zum Strafbefehl günstigeres Urteil, ändert das Gericht die Strafbefehle der anderen Beschuldigten zu deren Gunsten ab oder hebt sie im Fall eines Freispruchs der Einsprecher i.V.m. einer Verfahrenseinstellung auf, obwohl diese seinerzeit keine Einsprache erhoben haben.
5.5 Angesichts des unter E. 4.6 hiervor Ausgeführten resp. mangels Rechtsprechung zu Art. 356 Abs. 7 StPO kann nicht davon gesprochen werden, dass der Rechtsvertretung gestützt auf eine klare Rechtslage von vornherein hätte klar sein müssen, dass dem beim Regionalgericht eingereichten Gesuch um Ausdehnung eines gutheissenden Rechtsmittelentscheids mangels Zulässigkeit kein Erfolg beschieden sein würde, stattdessen beim Berufungsgericht Revision hätte beantragt werden müssen.
Rechtsmissbräuchliches Vorgehen der Beschwerdeführerin respektive deren Rechtsvertretung kann mangels weiterer Anhaltspunkte auch nicht darin erblickt werden, dass das Gesuch erst kurz vor Ende der für Revisionsverfahren massgeblichen Frist von 90 Tagen beim Regionalgericht eingegangen ist. Gestützt auf die Akten ist vielmehr davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin resp. deren Rechtsvertretung überzeugt gewesen ist, das richtige Rechtsmittel resp. den richtigen Rechtsbehelf ergriffen zu haben.
Die Beschwerde erweist sich somit insoweit als begründet. Das Gesuch vom 31. März 2021 wird als sinngemässes Revisionsgesuch mitsamt den Akten zur weiteren Behandlung an die zuständigen Strafkammern des Obergerichts des Kantons Bern weitergeleitet.
Obergericht des Kanton Bern, Urteil BK 21 197 vom 8.9.2021
Staatsanwaltschaft darf Honorar nicht unbegründet kürzen
Die Staatsanwaltschaft darf die Rechnung der Verteidigung nicht mit pauschalen Argumenten kürzen. Sie muss sich auf konkret zu benennende Aufwandpositionen beziehen. Sonst verletzt sie den Anspruch auf rechtliches Gehör.
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft setzte einer Rechtsanwältin das Honorar für die amtliche Verteidigung im einem Strafverfahren auf Fr. 11 035.15 fest. Sie kürzte den geltend gemachten Zeitaufwand um 11,5 Stunden. Die Anwältin wehrte sich dagegen.
Aus den Erwägungen:
1. Am 29. März 2021 setzte die Regionale Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau das amtliche Honorar von Rechtsanwältin C. für die amtliche Verteidigung von A. im Strafverfahren wegen banden- und gewerbsmässigen Diebstahls, evtl. Hehlerei, Betrugs, evtl. unrechtmässigen Bezugs von Sozialhilfe sowie Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe für die Zeit vom 18. September 2019 bis 20. April 2020 auf Fr. 11 035.15 fest (Zeitaufwand: 50 Stunden).
4.6 Vorab ist festzuhalten, dass die amtliche Entschädigung in Anbetracht des besonderen Rechtsverhältnisses zwischen dem Staat und dem amtlichen Anwalt einer Prüfpflicht untersteht. Der amtliche Anwalt kann aus Art. 29 Abs. 3 BV einen Anspruch auf Entschädigung und Rückerstattung seiner Auslagen herleiten. Dieser umfasst aber nicht alles, was für die Wahrnehmung der Interessen des Mandanten von Bedeutung ist.
Ein verfassungsrechtlicher Anspruch besteht nur, soweit dies zur Wahrung der Rechte notwendig ist. Entschädigungspflichtig sind nur jene Bemühungen, die in einem kausalen Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Rechte im Strafverfahren stehen und die notwendig und verhältnismässig sind. Die Staatsanwaltshaft hat sich demnach zu Recht mit den eingereichten Honorarnoten näher auseinandergesetzt. Die Verfahrensleitung teilt dabei die Auffassung der Staatsanwaltschaft, dass vorliegend sowohl in rechtlicher als auch in sachverhaltsmässiger Hinsicht von einem durchschnittlich schwierigen Verfahren auszugehen ist.
4.8 Die Staatsanwaltschaft hat Aufwendungen für soziale Tätigkeiten (Kontakte mit Sozialdienst, Post) im Umfang von 100 Minuten nicht berücksichtigt. Diese Kürzung wird von der Beschwerdeführerin zu Recht nicht angefochten. Was die weitere Kürzung um 200 Minuten (rund 3,3 Stunden) anbelangt, hat die Staatsanwaltschaft diese nicht mit konkreten Aufwandpositionen begründet, sondern lediglich im Sinne einer Gesamtbetrachtung auf die Schadensminderungspflicht der Beschwerdeführerin und ähnlich gelagerte Fälle hingewiesen. Insoweit ist die Staatsanwaltschaft ihrer Begründungspflicht nicht hinreichend nachgekommen.
Es ist der Beschwerdeführerin mit dieser Begründung nicht möglich, die Aufwandkürzung nachzuvollziehen und sachgerecht anzufechten. Die Kürzung muss sich auf konkret zu benennende Aufwandpositionen beziehen. Indem die Staatsanwaltschaft die weitere Kürzung des Aufwandes lediglich in pauschaler Weise begründete, hat sie das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin verletzt (Begründungspflicht). Eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs kann ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Rechtsmittelinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie auch die Rechtslage frei überprüfen kann.
Unter dieser Voraussetzung ist darüber hinaus – im Sinne einer Heilung des Mangels – selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von einer Rückweisung der Sache an die Vorinstanz abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären. Die Beschwerdekammer in Strafsachen verfügt über die gleiche Kognition wie die Staatsanwaltschaft, weshalb die Heilung des Gehörsmangels im vorliegenden Beschwerdeverfahren grundsätzlich möglich ist.
Im Rahmen der Replik hatte die Beschwerdeführerin die Möglichkeit, hierzu Stellung zu nehmen. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs kann deshalb ausnahmsweise als geheilt gelten, zumal eine Rückweisung angesichts des vorliegenden Ausgangs des Verfahrens einen formalistischen Leerlauf darstellen würde und die Heilung im Beschwerdeverfahren sich für die Beschwerdeführerin nicht nachteilig auswirkt. Die Gehörsverletzung ist jedoch im Dispositiv förmlich festzuhalten und bei den Kostenfolgen zu berücksichtigen.
Obergericht des Kantons Bern, Verfügung BK 21 166 vom 24.8.2021.
Sozialversicherungsrecht
Tinnitus nach Volksmusik ist kein Unfall
Eine Gehörschädigung nach dem Abspielen eines lauten Instrumentes in der Nähe des Ohrs an einem Konzert ist keine plötzliche und ungewöhnliche Einwirkung auf den menschlichen Körper und somit kein Unfall.
Sachverhalt:
Ein Mann litt nach dem Besuch eines Volksmusikkonzerts in beiden Ohren an einem Tinnitus. Er ist über den Arbeitgeber bei der Allianz gegen Unfälle versichert. Die Allianz weigerte sich, die Kosten zu übernehmen. Der Mann erhob Beschwerde vor dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Er argumentierte, ein «Chlefeler» habe plötzlich vor seinem Ohr laut mit Holzlöffeln musiziert und dadurch den Schaden verursacht.
Aus den Erwägungen:
3.1 Strittig und zu prüfen ist, ob das Ereignis vom 29. März 2019 die Merkmale der Ungewöhnlichkeit und der Plötzlichkeit erfüllt und mithin ein Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG vorliegt. Zum Hergang des Ereignisses lässt sich der Bagatell-Unfallmeldung der Arbeitgeberin vom 12. Juni 2019 entnehmen, der Beschwerdeführer habe sich mit mehreren Mitarbeitern in der Z. aufgehalten, wo sehr laute Musik gespielt worden sei und er ein Instrument (Holzlöffel) ausprobiert habe. Als Schädigung wurde ein Tinnitus links und rechts angegeben.
3.3 Die behandelnden Ärzte der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie des Universitätsspitals E. diagnostizierten am 30. Oktober 2019 einen dekompensierten Tinnitus aurium mit Hyperakusis rechtsbetont bei Status nach akustischem Trauma im März 2019, mittelgradige sensorineurale Schwerhörigkeit im Hochtonbereich, rechts mehr als links, und unklare Schwindelbeschwerden. Zum Unfallhergang hielten sie fest, der Beschwerdeführer sei im März in einer Bar gewesen, wobei ein Holzinstrument nahe an seinem rechten Ohr gespielt worden sei (zwei Holzstücke, die aufeinander klappern). Seither habe er Schmerzen und Tinnitus auf beiden Ohren, rechts mehr als links. Die Ärzte zogen den Schluss, dass die erhobene Schwerhörigkeit im Hochtonbereich rechts zum stattgehabten Knalltrauma, wie es vom Versicherten beschrieben werde, passe. Eine Hörminderung wie vorliegend sei prädestiniert für die Entstehung eines Ohrgeräusches. Da anamnestisch die Hörminderung rechts mit konsekutivem Tinnitus seit dem Knalltrauma bestehe, sei die Unfallkausalität neu zu beurteilen.
Prof. Dr. med. D., leitender Arzt an der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie des E., beschrieb am 25. Februar 2020 den Unfallhergang dahingehend, dass ein Mitspieler der Musikgruppe im Publikum in unmittelbarer Nähe zum Beschwerdeführer gesessen sei und unvermittelt in unmittelbarer Nähe zu dessen rechtem Ohr mit einem Holzschlaginstrument mitzuspielen begonnen habe. Der Beschwerdeführer sei dadurch stark überrascht worden und habe sich weggedreht und sich das Ohr zugehalten. Er habe allerdings direkt im Anschluss bereits verschiedenste audiologische Beschwerden, unter anderem ein Ohrgeräusch und eine ausgeprägte Lärmempfindlichkeit, verspürt und mit etwas Panik reagiert. Dr. D. erhob ebenfalls eine hochbetonte, geringgradige sensorineurale Schwerhörigkeit auf der rechten Seite. Das Lärmereignis, wie es geschildert worden sei, scheine geeignet, um das Ohrgeräusch oder auch die Hyperakusis nach sich zu ziehen.
4.1 Da später nie mehr die Rede davon war, dass der Beschwerdeführer das Instrument selbst ausprobiert hat, erscheint dessen Hinweis, dass die Beschreibung des Ablaufs des Ereignisses in der Unfallmeldung fehlerhaft war, zwar als überzeugend. Auffallend ist indessen, dass er auch in den weiteren vor Verfügungserlass erfolgten Darstellungen des Unfallereignisses lediglich ausführte, dass ein Holzinstrument in der Nähe seines Ohres gespielt worden sei.
Er erwähnte jedoch nicht, dass er sofort nach Einsetzen des «Chlefelispiels» beziehungsweise nach einem besonders lauten Schlag eine Reaktion in seinem Ohr verspürt habe. Dies erwähnte er erst in der Einsprache vom 8. November 2019, wobei zu berücksichtigen ist, dass nach der Rechtsprechung eine Darlegung des entsprechenden Sachverhalts durch die versicherte Person nach einer Verneinung des Leistungsanspruchs wenig überzeugt, wenn der Unfallversicherer in Nachachtung seiner Verpflichtung zur richtigen und vollständigen Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts vorher eine detaillierte Erhebung der tatsächlichen Verhältnisse mittels Fragebogens durchgeführt hat (Urteile des Bundesgerichts 8C_696/2013 vom 14. November 2013, E. 4.2, und 8C_436/2009 vom 22. Oktober 2009, E. 6.2).
Im Fragebogen vom 10. Juli 2019 berichtete der Beschwerdeführer nichts davon, was jedoch – zumindest in den wesentlichen Zügen – bei entsprechendem Geschehensablauf zu erwarten gewesen wäre, auch wenn gewisse sprachliche Defizite zweifellos vorhanden waren. Wenn ein einzelner, übermässig lauter «Chlefelischlag» für den Tinnitus bzw. die geringe Hochtonschwerhörigkeit ursächlich gewesen wäre, hätte der Beschwerdeführer diesem Ereignis von Anfang an sicher grössere Bedeutung zugemessen und es auch gegenüber den behandelnden Ärzten erwähnt, was aber offenbar vor dem 20. Februar 2020 – mithin bis fast ein Jahr nach dem Vorfall – nicht geschehen ist.
4.2 Zusätzlich ist auch das Merkmal der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfüllt. So ergibt sich aus der Videoaufnahme, die der Beschwerdeführer eingereicht hatte, dass der Chlefelispieler nicht direkt neben einer anderen Person sass, sondern neben ihm ein Platz auf der Sitzbank frei war. Es ist daher nicht ersichtlich, wie der Musiker unmittelbar neben dem Ohr des – gemäss seinen eigenen Aussagen und der mit der Beschwerde eingereichten Fotografie der leeren Gaststube am Nebentisch sitzenden – Beschwerdeführers hätte spielen sollen, zumal zwischen den beiden Tischen zusätzlich ein Durchgang erkennbar ist.
Dass die «Chlefelischläge» direkt neben dem Ohr des Beschwerdeführers erfolgt seien und dieser daher vom Lärm mehr als alle anderen ebenfalls anwesenden Personen betroffen war, ist somit nicht erstellt. Diese anderen Personen hielten sich - lachend und teilweise klatschend - teilweise am selben Tisch wie der «Chlefelispieler» auf. Obwohl der «Chlefeler» für den Beschwerdeführer unerwartet im Publikum zu spielen begann, ist damit nicht erstellt, dass er einen über das im Rahmen dieses Volksmusikkonzerts in der Gaststube zu erwartenden Lautstärke hinausgehenden Schallpegel erzeugte. Die Beschwerden des Beschwerdeführers stellen somit höchstens eine ungewöhnliche Auswirkung des Ereignisses dar, was indessen für die Bejahung der Ungewöhnlichkeit nicht ausreicht. Dass die Beschwerdegegnerin unter diesen Umständen auf eine Schallpegelmessung verzichtet hat, ist ihr nicht vorzuwerfen, ist eine solche doch angesichts des nicht erstellbaren Abstandes des «Chlefelers» zum Ohr des Beschwerdeführers von vornherein nicht geeignet, eine übermässige Lärmeinwirkung zu belegen.
4.3 Ebenso wenig hat die Beschwerdegegnerin den Untersuchungsgrundsatz verletzt, indem sie das Ergebnis der medizinischen Abklärungen im E. nicht abgewartet hat, ist doch die Frage nach der Erfüllung des Unfallbegriffs eine Rechtsfrage, die nicht durch die ärztlichen Stellungnahmen zu beantworten ist (Urteil des Bundesgerichts 8C_246/2011 vom 25. August 2011, E. 4.5). Die Tatsache, dass ärztlicherseits ein Zusammenhang zwischen den im Wesentlichen übereinstimmenden Diagnosen und dem jeweils ihnen geschilderten Ereignis vom 29. März 2019 hergestellt und dabei ein Trauma erwähnt wurde, ändert nichts daran, dass damit kein Unfallereignis im Rechtssinn bewiesen werden kann. Zum einen gingen die Ärzte des E. im Bericht vom 30. Oktober 2019 und damit noch zeitnäher zum Ereignis von einer länger andauernden Einwirkung während des Konzertes aus, womit sie also ein nicht plötzliches Ereignis schilderten.
Aus dem Bericht von Prof. Dr. D. vom 25. Februar 2020 hingegen wird von einem unvermittelten Einsatz des Schlaginstruments in unmittelbarer Nähe des rechten Ohrs des Beschwerdeführers berichtet, so dass sich der Beschwerdeführer spontan weggedreht und das Ohr zugehalten habe. Woher diese sehr späte Schilderung stammt, die von den anderen zeitnahen Darlegungen in relevanter Weise abweicht, ist unklar und sie vermag – wie erwähnt – das Vorliegen eines Unfallereignisses nicht zu beweisen.
4.4 Der geschilderte Vorgang an jenem Abend wurde vom Versicherten und den Ärzten unterschiedlich beschrieben. Es mangelt nach dem Gesagten am Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des ungewöhnlichen äusseren Faktors sowie an der Plötzlichkeit des Einwirkens eines äusseren Faktors, weshalb das Ereignis vom 29. März 2019 nicht als Unfall im Rechtssinne zu qualifizieren ist und eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin unter diesem Titel entfällt. Die Einwendungen des Beschwerdeführers vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern.
Ebenso wenig bilden die im Anschluss an den besagten Abend aufgetretenen Beschwerden im Ohr eine unfallähnliche Körperschädigung. Die behandelnden Ärzte stellten nämlich jeweils ein intaktes, reizloses Trommelfell fest, sodass die geklagten Leiden auch nicht unter den am ehesten noch in Frage kommenden Tatbestand einer Trommelfellverletzung (vgl. Art. 6 Abs. 2 UVG) subsumiert werden können, was vom Beschwerdeführer auch nicht bestritten wird.
Die Beschwerdegegnerin hat den Anspruch des Beschwerdeführers auf Leistungen aus der Unfallversicherung demnach zu Recht verneint und der angefochtene Einspracheentscheid erweist sich als rechtens. Dies führt zur Abweisung der Beschwerde.
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Urteil UV.2020.00075 vom 28.6.2021
Rentnerin durfte auf Kostengutsprache vertrauen
Eine AHV-Ausgleichskasse machte eine Kostengutsprache für eine Zahnbehandlung. Sie bleibt daran gebunden, auch wenn die Leistung nicht geschuldet wesen wäre.
Sachverhalt:
Eine 86-jährige Rentnerin beantragte bei der Ausgleichskasse in Solothurn Ergänzungsleistungen und die Übernahme der Kosten für die Zahnsanierung von 5384 Franken. Die Kasse verweigerte die Ergänzungsleistungen, denn die Rentnerin hatte 3979 Franken mehr Einkommen als anrechenbaren Aufwand. Die Rentnerin müsse somit den Einkommensüberschuss für die Zahnoperation verwenden. Für den Restbetrag von 1405 Franken sagte die Ausgleichskasse zu, die Zahnarztkosten zu übernehmen. Die Zahnbehandlung dauerte dann über den Jahreswechsel hinaus. Die Kasse verweigerte deshalb die Übernahme des Restbetrags, da die Rentnerin im neuen Jahr einen neuen Einkommensüberschuss für die Zahnbehandlung verwenden müsse. Dagegen beschwerte sich die Solothurnerin beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn.
Aus den Erwägungen:
1.2 Streitig und zu prüfen ist, ob es die Beschwerdegegnerin zu Recht abgelehnt hat, die ihr von der Beschwerdeführerin unterbreitete Rechnung für die Zahnbehandlungskosten in der Höhe von Fr. 5323.90 bzw. einen Anteil von Fr. 1405.15 zu übernehmen.
2. Vorab ist zu prüfen, wie es sich mit dem Vorhalt der Beschwerdeführerin verhält, die Beschwerdegegnerin habe den verfassungsmässigen Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör verletzt (A.S. 10 ff.).
3.1 Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass die Krankheits- und Behinderungskosten – gestützt auf Art. 3 Abs. 1 bzw. Art. 14 Abs. 1 und 6 ELG – grundsätzlich für das Kalenderjahr vergütet werden, in dem die Behandlung vorgenommen worden sei. Bemängelt werde indes, dass die Beschwerdegegnerin in ihrem Brief vom 20. November 2019 auf diese Tatsache nicht rechtsgenüglich aufmerksam gemacht habe. Es wäre ein Einfaches gewesen, klarzustellen, dass die Zusage des Zuschusses in Höhe von Fr. 1405.15 nur unter der Bedingung erfolge, dass die Behandlung im Jahr 2019 stattfinde; diesfalls wäre die Beschwerdeführerin dafür besorgt gewesen, dass die ganze Behandlung im Jahr 2019 erfolgt und ihr daher kein Rechtsnachteil erwachsen wäre. Die Ausgleichskasse habe es in ihrem Brief vom 20. November 2019 an der nötigen und gehörigen Auskunft und Beratung missen lassen, weshalb ihr Verhalten gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Erteilung einer unrichtigen Auskunft gleichzustellen sei.
4.1 Der in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben statuiert ein Verbot widersprüchlichen Verhaltens und verleiht einer Person Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrauens in behördliche Zusicherungen oder sonstiges, bestimmte Erwartungen begründendes Verhalten der Behörden (BGE 131 II 627, E. 6.1, S. 636). Die Voraussetzung für eine Berufung auf Vertrauensschutz, die unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung der Rechtsuchenden gebieten kann, ist erfüllt: 1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte Personen gehandelt hat; 2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn die rechtsuchende Person die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte; 3. wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte; 4. wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können, und 5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunftserteilung keine Änderung erfahren hat.
Der unrichtigen Auskunft gleichgestellt ist die Unterlassung einer behördlichen Auskunft, die gesetzlich vorgeschrieben oder nach den im Einzelfall gegebenen Umständen geboten war. Die dritte Voraussetzung lautet diesfalls: wenn die Person den Inhalt der unterbliebenen Auskunft nicht kannte oder deren Inhalt so selbstverständlich war, dass sie mit einer anderen Auskunft nicht hätte rechnen müssen.
Gemäss Art. 27 Abs. 2 ATSG hat jede Person Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten (Satz 1). Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind (Satz 2). Die Beratung ist grundsätzlich auf entsprechendes Begehren der betreffenden Person sowie ohne Antrag vorzunehmen, wenn der Versicherungsträger einen entsprechenden Bedarf feststellt. Eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht kommt einer falsch erteilten Auskunft des Versicherungsträgers gleich, weshalb dieser in Nachachtung des Vertrauensprinzips hierfür einzustehen hat.
4.3 Umstritten ist, ob die Beschwerdegegnerin aufgrund der individuellen Beratungspflicht gemäss Art. 27 Abs. 2 ATSG gehalten gewesen wäre, in ihrem Schreiben vom 20. November 2019 ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass der Betrag von Fr. 1405.15 (Kosten der zahnärztlichen Behandlung gemäss Kostenschätzung abzüglich Einnahmenüberschuss 2019 von 3979 Franken) nur dann vergütet werden könne, wenn die Behandlung vollumfänglich im Jahr 2019 stattfinde. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie sei auf diese Tatsache im genannten Brief nicht rechtsgenüglich aufmerksam gemacht worden, und der Text des Schreibens erwecke einen anderen Eindruck.
4.4 Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass das Schreiben vom 20. November 2019 missverständlich formuliert ist. Die zentrale Aussage, die Beschwerdegegnerin könne «infolge Einnahmenüberschuss von 3979 Franken im Jahr 2019 den Betrag von Fr. 1405.15 übernehmen», lässt sich zwar durchaus in dem Sinn verstehen, die Übernahme des Betrags von Fr. 1405.15 sei nur möglich, wenn die gesamten Kosten im Jahr 2019 anfielen. Ebenso plausibel ist aber die Interpretation, es bestehe im Jahr 2019 ein Einnahmenüberschuss von 3979 Franken, und dieser ermögliche es, einen Betrag von Fr. 1405.15 zu übernehmen, ohne dass diese Vergütung voraussetze, die gesamte Behandlung finde in diesem Kalenderjahr statt. Für die letztere Lesart spricht insbesondere auch der spätere Satz «Die Behandlung muss gemäss Genehmigung des Behandlungsplans innerhalb eines Jahres erfolgen». Diese Aussage, die auch sprachlich verunglückt ist, ist durchaus geeignet, den Eindruck zu erwecken, die Behandlung könne ein Jahr lang, also während 365 Tagen, gerechnet ab der Genehmigung des Behandlungsplans (und nicht nur bis zum Ende des laufenden Kalenderjahres, dessen Ende kurz bevorstand), durchgeführt werden. Wie aus dem im Beschwerdeverfahren eingereichten Brief des behandelnden Zahnarztes vom 29. Mai 2020 hervorgeht, verstand er das Schreiben in diesem Sinne, dass die Kostengutsprache während eines Jahres ab dem Datum des Briefs vom 20. November 2019, also bis 20. November 2020, gelte. Auch die Tochter der Beschwerdeführerin war offensichtlich dieser Meinung.
4.5 Mit Blick auf die gesamten Umstände ist es glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin das Schreiben vom 20. November 2019 dahingehend interpretiert hat, die Behandlungskosten würden im Umfang von Fr. 1405.15 (allenfalls nach Abzug zweier Positionen, die laut dem Brief gestrichen wurden) übernommen, wenn die Behandlung innerhalb eines Jahres durchgeführt werde; dies entspricht nicht der gesetzlichen Regelung und war wohl auch nicht so gemeint, wurde aber durch den Text des Schreibens nahegelegt.
4.6 Ein Anspruch aus Vertrauensschutz setzt voraus, dass die betroffene Person im Vertrauen auf die falsche Auskunft – respektive hier aufgrund der falsch verstandenen, missverständlichen Aussage der Beschwerdegegnerin – nachteilige Dispositionen getroffen hat. Solche Dispositionen könnten hier darin bestanden haben, dass die Behandlung zeitlich anders vorgenommen worden wäre, wenn die Beschwerdeführerin die Rechtslage (Beschränkung auf ein Kalenderjahr) gekannt hätte. Aus dem bereits erwähnten Schreiben des behandelnden Zahnarztes vom 29. Mai 2020 geht diesbezüglich hervor, es liege auf der Hand, dass es nicht möglich gewesen wäre, die gesamte Behandlung noch im Jahr 2019 durchzuführen (vgl. auch Urkunde 3 mit der Aussage des Zahnarztes, es seien insgesamt neun Termine in einwöchigen Abständen notwendig). Die getroffene Disposition kann daher nicht darin bestehen, dass dies unterlassen wurde. Denkbar und überwiegend wahrscheinlich ist dagegen die Annahme, dass die gesamte Behandlung auf das Jahr 2020 verschoben worden wäre. Die Beschwerdeführerin ist daher so zu behandeln, wie wenn die gesamte Behandlung mit Kosten von Fr. 5384.15 im Jahr 2020 stattgefunden hätte.
Versicherungsgericht des Kanton Solothurn, Entscheid VSBES.2021.19 vom 12.10.2021
Ausländerrecht
Wirtschaftliche Selbsterhaltung entscheidend
Nach einer fast zehnjährigen vorläufigen Aufnahme ist eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, wenn jemand genügend sozial integriert ist und die Prognose für eine wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit gut ist.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin reiste im April 2012 im Alter von 16 Jahren in die Schweiz ein. Das kantonale Migrationsamt St. Gallen nahm sie ein Jahr später vorläufig auf und verlängerte ihren F-Ausweis in der Folge jedes Jahr. 2019 reichte die Somalierin ein Gesuch für die Ausstellung einer humanitären Aufenthaltsbewilligung ein. Es wurde abgewiesen. Der dagegen erhobene Rekurs an das Justizdepartement war ebenfalls erfolglos. Deshalb legte die Somalierin beim Verwaltungsgericht St. Gallen Beschwerde ein.
Aus den Erwägungen:
2.1 Ausländer können grundsätzlich nur bei Vorliegen von bestimmten Zulassungsvoraussetzungen eine Aufenthaltsbewilligung beantragen (vgl. Art. 18 ff. AIG). Gemäss Art. 84 Abs. 5 AIG werden Gesuche um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung von vorläufig aufgenommenen Ausländern, die sich seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz aufhalten, unter Berücksichtigung der Integration, der familiären Verhältnisse und der Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Herkunftsstaat vertieft geprüft. Die Bestimmung stellt keine eigenständige Rechtsgrundlage dar, sondern verweist diesbezüglich implizit auf die in Art. 30 Abs. 1 Ingress und lit. b AIG geregelte Bewilligung wegen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls, den Art. 31 Abs. 1 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit mit ausdrücklichem Hinweis im Randtitel, unter anderem auf Art. 84 Abs. 5 AIG, konkretisiert. Danach sind bei der Beurteilung insbesondere die Integration anhand der Integrationskriterien nach Art. 58a Abs. 1 AIG, die Familienverhältnisse, insbesondere der Zeitpunkt der Einschulung und die Dauer des Schulbesuchs der Kinder (lit. c), die finanziellen Verhältnisse (lit. d), die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz (lit. e), der Gesundheitszustand (lit. f) und die Möglichkeit der Wiedereingliederung im Herkunftsstaat (lit. g) zu berücksichtigen. Die Aufzählung ist nicht abschliessend, und für die Erteilung einer Härtefallbewilligung kann es genügen, dass eines oder einige der genannten Kriterien erfüllt sind.
Der fast neuneinhalbjährige (rechtmässige) Aufenthalt der Beschwerdeführerin spricht in der Tendenz für die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung. Wenn auch diese Dauer des Aufenthalts nicht per se ausschlaggebend ist, führt sie dennoch dazu, dass sich unter den gegebenen Umständen eine weniger strenge Handhabung aufdrängt als bei Gesuchstellern, die beispielsweise nur wenig länger als fünf Jahre hierzulande weilen.
2.2 Die Beschwerdeführerin besuchte in den Jahren 2013 und 2014 zunächst einen Integrationskurs des Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrums St. Gallen (nachfolgend: GBS), wo sie eine gute bis sehr gute Bewertung erhielt. In den Jahren 2014 und 2015 absolvierte sie – ebenfalls über das GBS – eine Vorlehre.
Für die Zeit danach ist zunächst keine Erwerbstätigkeit aktenkundig und es werden auch keine entsprechenden Stellensuchbemühungen behauptet. Erst am 13. November 2018 trat die Beschwerdeführerin eine Stelle als Reinigungskraft für wenige Stunden pro Woche in einem Privathaushalt an. Vom 25. Juli 2019 bis 31. Juli 2021 arbeitete sie sodann mit einem Pensum von rund zehn Prozent bei der S-AG, ebenfalls im Bereich Reinigung. Seit dem 1. August 2019 war bzw. ist die Beschwerdeführerin ausserdem als Küchenhilfe bei der Tagesbetreuung B. der Stadt X. mit einem Pensum von zunächst 20, später 30 Prozent tätig.
Dass sich die Beschwerdeführerin mit Blick auf ihre Ausbildung am Erwerb von Bildung beteiligt, steht ausser Frage. Auch lässt sich nicht sagen, ihre Teilnahme am Wirtschaftsleben sei bereits angesichts des verhältnismässig tiefen Pensums ungenügend, denn der Wille der Beschwerdeführerin zur wirtschaftlichen Selbsterhaltung erscheint angesichts der Akten als vorhanden, und es darf, wie die Vorinstanz zu Recht festhielt, Berücksichtigung finden, dass vorläufig Aufgenommene auf dem Arbeitsmarkt mit Schwierigkeiten konfrontiert werden, die nicht geleugnet werden können.
3.2 Unbestritten und aktenkundig ist, dass die Beschwerdeführerin von April 2012 bis Dezember 2019 Sozialhilfe erhielt und erst hernach keine Leistungen mehr bezog. Was ihre aktuelle finanzielle Lage betrifft, so beträgt ihr Bruttolohn während der Ausbildung 1300 Franken und ist damit etwa gleich hoch wie zuvor.
Angesichts dieser knappen Verhältnisse lässt sich eine gewisse Gefahr einer neuerlichen Sozialhilfeabhängigkeit der Beschwerdeführerin zwar nicht von der Hand weisen. Dieser Umstand ist indes in zweierlei Hinsicht zu relativieren. Zum einen wäre eine allfällige neuerliche Abhängigkeit nur eine teilweise. Zum anderen fällt ins Gewicht, dass mit einem Vollzug der Wegweisung innert absehbarer Zukunft nicht zu rechnen ist, wovon auch die Vorinstanz ausging. Kurzfristig betrachtet ist die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung deshalb von vornherein kein geeignetes Mittel, um eine (neuerliche) teilweise Fürsorgeabhängigkeit zu verhindern.
Damit aber tritt die mittel- und längerfristige Perspektive in den Vordergrund. Für diese ist der Beschwerdeführerin angesichts der angetretenen Ausbildung und ihrer bisherigen Anstrengungen sowie Leistungsausweise eine positive Prognose hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit auszustellen. Vor diesem Hintergrund erscheint es als zweifelhaft, ob an der Nichterteilung der Aufenthaltsbewilligung in der vorliegenden Konstellation aus finanzieller Sicht ein öffentliches Interesse besteht. Jedenfalls wöge ein solches Interesse angesichts des Ausgeführten nicht besonders schwer.
Hinsichtlich der Beziehungen der Beschwerdeführerin zur Schweiz bzw. der hiesigen Gesellschaft liegen nur wenige Angaben im Recht. Der SO-Kriminaldienst der Kantonspolizei St. Gallen gibt an, die Integration in der Wohngemeinde bzw. dem Wohnquartier sei vorhanden – die Beschwerdeführerin gebe an, sich nebst Unternehmungen mit ihrem Bruder und seinen Kindern öfters mit Kolleginnen zu treffen. Ihre Hobbys seien Schwimmen und Lesen. Damit ist für sich betrachtet zwar noch keine besondere Integrationsleistung bzw. Verwurzelung in der Schweiz dargetan. Positiv fällt jedoch auf, dass die Beschwerdeführerin seit Oktober 2018 ehrenamtlich beim Y. tätig ist, wobei ihr im «Nachweis für freiwillige und ehrenamtliche Arbeit» ein «einfühlsame[r] Umgang mit den Kunden» attestiert und sie als eine «Bereicherung für das Team» bezeichnet wird. Dieses freiwillige Engagement spricht für Kontaktfreude und Uneigennützigkeit, sodass die sprachlich-soziale Integration der Beschwerdeführerin insgesamt als genügend bis gut zu bezeichnen ist.
3.4 Es bleiben die Familienverhältnisse sowie die Möglichkeit einer Wiedereingliederung im Herkunftsland zu würdigen.
Im Somalia-Kontext trägt das Bundesverwaltungsgericht im Zusammenhang mit entsprechenden Asylverfahren jedenfalls einer Vielzahl an (frauenspezifischen) Faktoren Rechnung, die sich auch im vorliegenden Kontext nicht ausblenden lassen. So stellte es etwa fest, dass für alleinstehende Frauen und Mädchen in Somalia, welche nicht unter dem Schutz eines männlichen Familienmitglieds stehen, ein hohes Risiko bestehe, Opfer gezielter geschlechtsspezifischer Verfolgung zu werden. Speziell gefährdet seien Frauen und Mädchen, wenn sie intern vertrieben worden seien oder einem Minderheitenclan angehörten. Die somalischen Behörden könnten diese Frauen oft nicht schützen.
Nach eigenen Angaben stammt die Beschwerdeführerin aus Mogadischu, der Hauptstadt Somalias im Süden des Landes, wo sie auch aufwuchs.
Sie hat in ihrem Heimatland – soweit ersichtlich abgesehen von ihrem Vater, von dessen Ehefrau (Stiefmutter) sie misshandelt wurde, keine Verwandtschaft mehr. Insofern kann für den Fall einer Rückkehr nicht von einem tragfähigen Beziehungsnetz ausgegangen werden, auf das die Beschwerdeführerin zurückgreifen könnte. Angesichts dieser Verhältnisse sind die Möglichkeiten einer Wiedereingliederung der alleinstehenden Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsland als spärlich bis kaum vorhanden zu bezeichnen.
4. Zusammenfassend hält sich die Beschwerdeführerin bei straf- und betreibungsrechtlich ungetrübtem Leumund fast neuneinhalb Jahre – bei Ablauf des aktuell gültigen F-Ausweises werden es rund zehn Jahre sein – rechtmässig in der Schweiz auf, wo sie einen Teil ihrer prägenden Jugendjahre verbrachte. Ihre Kenntnisse der Landessprache entsprechen den Anforderungen, sodass unter Berücksichtigung ihres ehrenamtlichen Engagements auf eine genügende bis gute sprachlich-soziale Integration zu schliessen ist.
In Anbetracht des skizzierten Gesamtbilds entspricht die Handhabung der Bestimmung zur Härtefallbewilligung durch die Vorinstanz keiner pflichtgemässen Ermessensausübung mehr. Die Vorinstanz berücksichtigte wesentliche Umstände nicht (Erwerb von Bildung; Verbesserung der finanziellen Prognose; ehrenamtliche Tätigkeit) oder nur ungenügend (fast neuneinhalbjähriger Aufenthalt; kaum Möglichkeiten zur Wiedereingliederung; vorläufige Aufnahme gilt in absehbarer Zukunft weiter) und verlieh damit im Ergebnis den momentanen finanziellen Verhältnissen unverhältnismässig viel Gewicht. Dieses Vorgehen qualifiziert sich insgesamt als rechtsfehlerhafte Ermessensausübung. Sodann verlangt auch das Verhältnismässigkeitsprinzip, die Beschwerdeführerin im konkreten Fall nicht länger den rechtlichen und faktischen Einschränkungen zu unterwerfen, die der Status der vorläufigen Aufnahme für sie nach sich zieht. Folglich erweist sich die Beschwerde als begründet. Sie ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid der Vorinstanz vom 7. Mai 2021 aufzuheben. Die Angelegenheit ist an das Migrationsamt zurückzuweisen und dieses anzuweisen, sie dem SEM als Gesuch um Erteilung einer Härtefallbewilligung zu unterbreiten.
Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Urteil B 2021/122 vom 30.9.2021
Staatsrecht
Urner Demo-Beschränkung war rechtens
Die Kantone dürfen aus sachlich haltbaren Gründen eine andere Beurteilung des Risikos vornehmen und strengere Massnahmen anordnen als andere Kantone oder der Bund.
Sachverhalt:
Der Regierungsrat des Kantons Uri erliess am 26. März 2021 das totalrevidierte Reglement zur Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus. Die zulässige Teilnehmerzahl bei politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen wurde auf 300 Personen beschränkt. Dagegen erhob die Beschwerdegegnerin vor Bundesgericht Klage. Ohne Erfolg: Die Urner Regelung behandle laut Bundesgericht Kundgebungen anders als private Versammlungen. Damit würde der besonderen Natur von Kundgebungen Rechnung getragen. Die Beschränkung auf 300 Teilnehmer entleert diese nicht ihres Zwecks und liegt innerhalb des weiten Ermessensspielraums der Kantone.
Aus den Erwägungen:
5.3 Das angefochtene Reglement stellt eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit dar. Grundrechtseinschränkungen sind zulässig, wenn sie eine hinreichende gesetzliche Grundlage haben, durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sind, verhältnismässig sind und den Kerngehalt nicht antasten (Art. 36 BV)
5.5.1 Das Element der Erforderlichkeit verlangt, dass das angestrebte Ziel nicht mit weniger einschneidenden Massnahmen erreicht werden kann. Dabei kann es in aller Regel nicht darum gehen, die Notwendigkeit einer risikoreduzierenden Massnahme mit Ja oder Nein zu beantworten, sondern es geht um eine graduelle Abstufung. Je einschneidender Massnahmen getroffen werden, desto wirksamer lassen sich die Risiken begrenzen, desto stärker sind in der Regel aber auch die unerwünschten Auswirkungen der Massnahmen. Je grösser das Risiko ist, desto eher sind risikoreduzierende Massnahmen gerechtfertigt bzw. geboten. Zur Prüfung der Verhältnismässigkeit sind die Risiken soweit möglich zu quantifizieren, wobei nicht nur auf die denkbaren Worst-case-Szenarien abzustellen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit dieser Szenarien zu berücksichtigen ist. Umgekehrt müssen auch die negativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Massnahmen berücksichtigt werden und schliesslich Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden. Prioritär sind Massnahmen zu treffen, bei denen das Verhältnis zwischen Risikoreduktion und unerwünschten Konsequenzen am besten ist.
5.5.2 Das Bundesgericht prüft bei Grundrechtseingriffen die Verhältnismässigkeit frei. Es auferlegt sich aber eine gewisse Zurückhaltung, wenn sich ausgesprochene Ermessensfragen stellen oder besondere örtliche Umstände zu würdigen sind, welche die kantonalen Behörden besser kennen und überblicken als das Bundesgericht (BGE 142 I 162, E. 3.2.2; 142 I 76, E. 3.3; 118 la 175, E. 3a). Dasselbe gilt für die relative Gewichtung, die den einzelnen involvierten Rechtsgütern und Interessen beizumessen ist, weshalb auch hier den politischen Behörden ein Beurteilungsspielraum zusteht (BGE 146 11 17, E. 6.4). Solange in keiner Rechtsnorm festgelegt ist, wie hoch das akzeptable Risiko bzw. das erforderliche Sicherheitsniveau ist, steht auch nicht fest, wo die Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Risiken liegt (BGE 143 II 518, E. 5.7). Es ist alsdann nicht in erster Linie Sache der Gerichte, sondern des Verordnungsgebers oder der zuständigen Fachbehörden, das akzeptable Risiko festzulegen (BGE 139 II 185, E. 9.3). Andernfalls obliegt diese Aufgabe den Gerichten.
6.3.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet die vom Regierungsrat angeführten Zahlen als solche nicht, wirft allerdings in der Replik die Frage auf, ob nicht einfach die gute Teststrategie im Kanton Uri für die hohen Fallzahlen verantwortlich sei. Dass eine gute Teststrategie derart hohe Unterschiede in den Fallzahlen erklärt, ist eher unwahrscheinlich.
6.3.4 Als milderes Mittel käme zunächst eine höhere Teilnehmerzahl als 300 in Frage. Es ist indes davon auszugehen, dass dies mit einem höheren Ansteckungs- bzw. Verbreitungsrisiko verbunden wäre. Zwar ist die Ansteckungsgefahr im Freien nach dem aktuellen Stand des Wissens wohl geringer als in geschlossenen Räumen. Dennoch kann gestützt auf die verschiedenen Untersuchungen, wie bereits erwähnt, eine relevante Ansteckungsgefahr im Freien nicht ausgeschlossen werden. Wenn der Regierungsrat die Teilnehmerzahl auf 300 begrenzt hat, so hat er damit das akzeptable Risiko in zulässiger Weise festgelegt. Den Kantonen ist es nicht verwehrt, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aus sachlich haltbaren Gründen eine andere Risikobeurteilung vorzunehmen und dementsprechend strengere risikoreduzierende Massnahmen anzuordnen als andere Kantone oder der Bund; dies ist keine Verletzung der Rechtsgleichheit, sondern vielmehr Konsequenz des Föderalismus.
6.4.3 Durch die Begrenzung der Teilnehmenden auf 300 Personen wird die Versammlungsfreiheit in Bezug auf politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen zwar eingeschränkt; indessen wird weder die für solche Veranstaltungen typische Appell- und Publizitätswirkung übermässig beeinträchtigt noch die Ausübung der Versammlungsfreiheit verunmöglicht.
6.5 Schliesslich hat der Regierungsrat der Verhältnismässigkeit insoweit Rechnung getragen, als er die Geltungsdauer des Reglements befristet hat.
6.6 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die hier angefochtene Reglementsbestimmung sowohl das unbestrittene öffentliche Interesse am Gesundheitsschutz als auch die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einem demokratischen Rechtsstaat und die privaten Interessen an Kundgebungen berücksichtigt. Die Begrenzung der Teilnehmerzahl an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 300 Personen liegt im Rahmen des weiten kantonalen Beurteilungsspielraums (vgl. E. 5.5.5 hiervor) und erweist sich als verhältnismässig. Die angefochtene Bestimmung im kantonalen Covid-19-Reglement verletzt das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht (Art. 22 BV).
7.4 Wie dargelegt (vgl. E. 4 hiervor), wird durch die angefochtene Reglementsbestimmung die Durchführung von politischen Kundgebungen nicht verboten. Es wird lediglich die Teilnehmerzahl begrenzt, nicht aber die Möglichkeit, an solchen Kundgebungen politische Auffassungen zu äussern. Die Meinungsbildung wird inhaltlich in keiner Weise eingeschränkt.
Bundesgericht, Urteil 2C_290/2021 vom 3.9.2021