Mietrecht
Kenntnisse des Mietrechts beimAnwalt vorausgesetzt
Ein Anwalt kann sich nicht 13 Jahre nach dem Einzug in eine Wohnung auf einen Formmangel berufen, den er bereits beim Abschluss des Mietvertrags kannte. Das ist laut Bundesgericht rechtsmissbräuchlich.
Sachverhalt:
Ein Anwalt mietete in Freiburg eine Wohnung. Nach 13 Jahren forderte er rückwirkend eine Herabsetzung des Anfangsmietzinses. Denn der Vermieter habe damals das vorgeschriebene Formular nicht verwendet. Die Klage wird erst auf den Zeitpunkt der Klage gutgeheissen. Grund: Als Anwalt mit Mietrechtserfahrung hätte er seinen Herabsetzungsanspruch kennen müssen.
Aus den Erwägungen:
4.3 Wenn der Mietvertrag ohne Verwendung des amtlichen Formulars abgeschlossen oder die Mietzinserhöhung darauf nicht begründet wurde, kann der Mieter auf Festsetzung des Anfangsmietzinses durch den Richter und auf Rückerstattung des allenfalls zu viel bezahlten Betrages klagen. Es handelt sich dabei um eine Klagehäufung (Art. 90 ZPO). Die erste Klage zielt, nach Feststellung der Nichtigkeit des vereinbarten Mietzinses im Rahmen eines Vorentscheids, auf die richterliche Festsetzung des Mietzinses; die zweite Klage zielt – als Folge der ersten – auf die Rückerstattung der ohne gültigen Grund erbrachten Leistungen gemäss den Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung.
4.4 Solange ein laufender Mietvertrag besteht, der ohne Verwendung des amtlichen Formulars oder ohne Begründung der Mietzinserhöhung abgeschlossen wurde, kann sich der Mieter grundsätzlich immer auf den Formfehler bei der Mitteilung des Anfangsmietzinses berufen, und sei es nur, um die Festsetzung der künftigen Mietzinse zu erreichen, und zwar unabhängig von einer allfälligen Verjährung der Klage auf Rückerstattung der zu Unrecht bezahlten Mietzinse, wobei Rechtsmissbrauch vorbehalten bleibt.
5. Umstritten ist, ob die Vorinstanz zu Recht davon ausging, die Berufung des Beschwerdeführers auf den Formmangel (Nichtverwendung des amtlichen Formulars) sei rechtsmissbräuchlich.
5.2 Die Vorinstanz erwog mit der Erstinstanz, der Beschwerdeführer sei im Zeitpunkt des Vertragsschlusses ausgebildeter Jurist und Rechtsanwalt gewesen. Sein Anwaltspraktikum habe er in einer Kanzlei absolviert, die regelmässig Mieterinteressen vertrete. Zudem sei er während zwei oder drei Jahren Beisitzer bei der Schlichtungskommission für Mietverhältnisse des Sense- und Seebezirks gewesen. Er sei damit zweifelsohne rechtskundig. Aufgrund seiner Ausbildung und Berufserfahrung, namentlich auch der vertieften Auseinandersetzung mit dem Mietrecht, sei zu erwarten, dass er die Rechtslage zumindest in groben Zügen gekannt habe. Seine Aussage, er habe keine Kenntnis von der Pflicht zur Verwendung des amtlichen Formulars gehabt, sei nicht glaubwürdig und müsse als Schutzbehauptung zurückgewiesen werden.
5.3 Der Beschwerdeführer rügt, wenn die Vorinstanz allein aus der freiwilligen Erfüllung des Mietvertrags den Schluss ziehe, er habe rechtsmissbräuchlich gehandelt, widerspreche sie der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (mit Verweis auf BGE 140 III 583, E. 3.2.4). Diese setze nebst der freiwilligen Erfüllung auch einen ausdrücklichen Verzicht auf die Einhaltung der Formvorschrift voraus. Ein solcher ergebe sich weder aus den Akten, noch lasse er sich den vorinstanzlichen Feststellungen entnehmen. Zudem führe die Berufung auf den Formmangel nicht zu einer Ungerechtigkeit zwischen den Parteien, da sich diese hinsichtlich ihrer mietrechtlichen Fachkompetenz auf Augenhöhe befänden. Weiter verstosse die Vorinstanz auch gegen das Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 BV). Denn auch die frühere Eigentümerin bzw. ihre Immobilienverwaltung habe gewusst bzw. wissen müssen, dass zwingend das amtliche Formular zu verwenden sei.
5.3.2 Die Vorinstanz ist aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls zu Recht davon ausgegangen, die Berufung des Beschwerdeführers auf den Formmangel sei rechtsmissbräuchlich. Nichts ändert der Hinweis des Beschwerdeführers, die Parteien befänden sich betreffend Kenntnis des Mietrechts auf Augenhöhe. Dies kann nicht dazu führen, dass er sich erst nach 13 Jahren, nachdem eine Verhandlung über eine Mietzinsherabsetzung nicht nach seinen Erwartungen verlaufen war, auf einen Formmangel berufen kann, den er bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses kannte.
Auch mit dem Hinweis auf das Gleichbehandlungsgebot (Art. 8 BV) vermag der Beschwerdeführer nicht durchzudringen. Es ist vorliegend einzig zu beurteilen, ob die Berufung des Beschwerdeführers auf den Formmangel rechtsmissbräuchlich ist. Diesbezüglich hatte die Vorinstanz zu Recht auf die (Fach-)Kenntnisse des Beschwerdeführers und nicht diejenigen der früheren Eigentümerin abgestellt.
5.3.3 Zusammenfassend verletzt es kein Bundesrecht, wenn die Vorinstanz aufgrund der konkreten Umstände im Einzelfall zum Ergebnis gelangte, die Berufung auf den Formmangel (Nichtverwendung des amtlichen Formulars) durch den Beschwerdeführer sei rechtsmissbräuchlich.
8. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Bundesgericht, Entscheid 4A_83/2022 vom 22.8.2022
Strafprozessrecht
Übertretung: Im Zweifel ist Verfahren einzustellen
Ein Statthalteramt im Kanton Zürich ist nicht befugt, Fälle mit einer Anklage vor Gericht zu bringen. Die Übertretungsbehörden sind lediglich legitimiert, einen Strafbefehl zu erlassen oder das Verfahren einzustellen.
Sachverhalt:
Eine Stadt im Kanton Zürich wirft einem Architekten vor, er habe während eines laufenden Baubewilligungsverfahrens eine Villa illegal abgebrochen. Das Statthalteramt erliess eine Einstellungsverfügung. Die Stadt erhob Beschwerde vor dem Obergericht des Kantons Zürich. Sie beantragte, die Einstellungsverfügung solle aufgehoben werden und der Architekt sei wegen der Widerhandlung gegen das kantonale Planungs- und Baugesetz schuldig zu sprechen.
Aus den Erwägungen:
3.1 Ist der Übertretungstatbestand nicht erfüllt, so stellt die Übertretungsstrafbehörde das Verfahren mit einer kurz begründeten Verfügung ein (Art. 357 Abs. 3 StPO). Nach der konstanten Praxis des Obergerichts des Kantons Zürich gilt: Während die Staatsanwaltschaft in jenen Fällen, in denen sich die Schuld der beschuldigten Person aus den Akten nicht mit der nach Art. 352 Abs. 1 StPO erforderlichen Klarheit ergibt, umgekehrt aber auch nicht als derart unwahrscheinlich erscheint, dass sich eine Einstellung nach Art. 319 Abs. 1 StPO rechtfertigt, Anklage erheben kann (Art. 324 Abs. 1 StPO), steht dieser Weg der Verwaltungs- beziehungsweise Übertretungsbehörde nicht offen. Diese hat nur die Möglichkeit, entweder einen Strafbefehl zu erlassen, oder aber das Verfahren einzustellen. Daraus folgt, dass die Strafbefehlsvoraussetzung eines ausreichend geklärten Sachverhalts im verwaltungsbehördlichen Kompetenzbereich grosszügiger (eben nur sinngemäss, Art. 357 Abs. 2 StPO) auszulegen, aber auch der Grundsatz in dubio pro duriore nicht mit der gleichen Strenge zu handhaben ist. Mit anderen Worten kommt der Übertretungsstrafbehörde bei ihrem Entscheid über die Einstellung eines Strafverfahrens ein grösserer Ermessensspielraum zu. Auch in beweismässigen Konstellationen, in welchen das Ausmass der Zweifel an der Straflosigkeit der beschuldigten Person bei staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeit eine Anklage geböte, kann sich unter Umständen eine Einstellung rechtfertigen, wenn eine Übertretungsstrafbehörde über den Fortgang des Strafverfahrens zu entscheiden hat.
Ferner gilt unabhängig von den prozessualen Möglichkeiten der zuständigen Strafbehörde der Grundsatz, dass je schwerer der Tatvorwurf wiegt, desto eher der Fall dem Gericht vorzulegen ist (vgl. BGE 138 IV 186, E. 4.1 am Ende), im Umkehrschluss also bei geringfügigeren Delikten eher eine Einstellung in Frage kommt. Dies ist bereits bei der Frage der gebotenen Untersuchungstiefe zu berücksichtigen.
Nach Art. 308 Abs. 1 StPO besteht der Zweck der Strafuntersuchung darin, den Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht so weit abzuklären, dass das Vorverfahren abgeschlossen werden kann. Bei der Verfolgung dieses Zwecks steht der Strafverfolgungsbehörde ein gewisser Ermessensspielraum zu. Sie hat zwar diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die zur Klärung des Falls Wesentliches beizutragen vermögen. Sie ist aber nicht verpflichtet, alle erdenklichen Ermittlungshandlungen vorzunehmen und jeder Spur und jedem Hinweis nachzugehen, auch wenn die geschädigte Person sich solches vorstellt. Letzteres gilt in besonderem Masse im Übertretungsstrafverfahren.
Die staatlichen Ressourcen sind auch im Bereich der Strafverfolgung nicht unbegrenzt, was dem gesetzlichen Verfolgungszwang (Art. 7 Abs. 1 StPO) faktische Grenzen setzt. Eine entsprechende Priorisierung ist unumgänglich. Während bei ungelösten Kapitalverbrechen auch die entfernte Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns eine Beweisabnahme rechtfertigen kann, ist eine solche bei eigentlichen Bagatelldelikten nur angezeigt, wenn handfeste Anhaltspunkte dafür bestehen, dass etwas Entscheidendes dabei herauskommt.
3.3 Die Beschwerdeführerin führt in der Beschwerde zunächst jene Verdachtsmomente auf, welche das Statthalteramt auch berücksichtigt hat, ohne aber darzulegen, weshalb die diesbezüglichen Erwägungen des Statthalteramts unzutreffend sein sollen. So hat das Statthalteramt berücksichtigt, dass der Beschwerdegegner 1 der Ansprechpartner der Behörde war und die Baugesuche eingereicht hatte. Es hat auch berücksichtigt, dass er ein finanzielles Interesse am Abbruch hatte. Damit legt die Beschwerdeführerin nicht dar, weshalb der Beschwerdegegner 1 die Verantwortung für den Abbruch tragen soll. Dass der Beschwerdegegner 1 weder Reue noch Einsicht gezeigt habe, ist kein Hinweis auf ein strafbares Verhalten. Auch eine unschuldige Person zeigt wohl regelmässig weder Reue noch Einsicht. Auch wenn der Beschwerdegegner 1 am Abbruch finanziell interessiert war, bedeutet dies nicht, dass er den Abbruch in Auftrag gab und sich zu einer Straftat verleiten liess. Auch wenn er vom geplanten (illegalen) Abbruch wusste und die Bauherrschaft nicht abmahnte, lässt ihn dies nicht zum Täter oder Gehilfen werden. Einerseits ist nicht erstellt, dass er tatsächlich Kenntnis vom Abbruchauftrag an das Subunternehmen hatte und andererseits ist fahrlässige Gehilfenschaft nicht strafbar. Auch wenn der Beschwerdegegner 1 durch sein Verhalten die Behörden davon abhielt, Massnahmen zur Verhinderung des Abbruchs zu ergreifen, so liegt kein Hinweis vor, dass er dies mit dem Vorsatz tat, den (illegalen) Abbruch wissentlich und willentlich zu ermöglichen oder zu fördern.
Die Beschwerdeführerin moniert, das Statthalteramt habe ungeeignete Beweise erhoben, um den Sachverhalt abzuklären. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist die Herausgabe der Architektenpläne nicht zielführend. Selbst wenn der Beschwerdegegner 1 die Abbruchpläne vor dem Abbruch erstellt hätte, würde dies nicht beweisen, dass er den Abbruchauftrag erteilt hat. Die Durchsuchung von E-Mail-Korrespondenzen oder Telefonen ist zum heutigen Zeitpunkt nicht erfolgsversprechend. Die involvierten Personen hatten mittlerweile über vier Jahre Zeit, um entsprechende Nachweise verschwinden zu lassen. Insofern erscheint die (aufwendige) Sicherstellung, Durchsuchung und Beschlagnahme von elektronischen Daten heute als unverhältnismässig. Weitere Beweiserhebungen schlägt die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde nicht vor.
3.4 Unter Würdigung der gesamten Umstände überschreitet das Statthalteramt seinen Ermessenspielraum nicht, wenn es das Verfahren einstellt. Damit ist auch der Antrag der Beschwerdeführerin, das Statthalteramt sei anzuhalten, den Beschwerdegegner zu bestrafen, unbegründet.
Obergericht Zürich, Entscheid UE200235 vom 26.7.2021
Kommentar:
In E. 3.1 wird bestätigt, dass nach ständiger Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Zürich einzig die Staatsanwaltschaft Anklage vor Gericht erheben kann. Die Übertretungsstrafbehörde dürfe demgegenüber nur einen Strafbefehl erlassen oder das Verfahren einstellen. Dabei stützt sich das Obergericht auf Art. 357 Abs. 2 StPO, welcher besagt, dass sich das Übertretungsstrafverfahren sinngemäss nach den Vorschriften über das Strafbefehlsverfahren richtet. Diese Auffassung überzeugt darum nicht, weil sich aus Art. 357 Abs. 1 StPO ergibt, dass die Übertretungsstrafbehörden die Befugnisse der Staatsanwaltschaft haben. Zudem wird sowohl die Strafbefehlsvoraussetzung eines ausreichend geklärten Sachverhalts als auch der Grundsatz in dubio pro duriore ausgehöhlt, wobei Ersteres angesichts der Unschuldsvermutung bedenklich ist, was nachfolgend am Beispiel des als Übertretung ausgestalteten Delikts der sexuellen Belästigung (Art. 198 StGB) veranschaulicht wird.
Gerade bei «Vier-Augen-Delikten» oder «Aussage-gegen-Aussage»-Konstellationen sind weder die Voraussetzungen eines Strafbefehls noch jene einer Einstellung erfüllt, sofern die Aussagen einer der beiden involvierten Personen nicht eindeutig weniger glaubhaft sind. Es handelt sich um klassische Konstellationen, in welchen das Gericht zu entscheiden hätte. Weil die Möglichkeit einer Anklage nicht zur Verfügung steht, ist die Übertretungsstrafbehörde gegebenenfalls gezwungen, obschon die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind, einen Strafbefehl zu erlassen, gegen welchen sich die beschuldigte Person dann zur Wehr setzen muss, um eine gerichtliche Beurteilung zu erreichen. Ferner ist nach der Praxis des Obergerichts auch eine Nichtanhandnahmeverfügung ausgeschlossen, was nicht minder fragwürdig ist. Wenn bereits aufgrund Anzeige oder Polizeirapport feststeht, dass kein Straftatbestand erfüllt ist (am Beispiel der sexuellen Belästigung: mangels eindeutig sexuellen Bezugs), müsste – formell korrekt – vor der Einstellung zunächst eine Untersuchung eröffnet werden.
Die Praxis des Obergerichts stellt die Übertretungsstrafbehörde im Falle von Art. 198 StGB vor ein weiteres Problem: Bei einer Verurteilung zu einer Strafe wegen sexueller Belästigung an oder vor einem minderjährigen Opfer wäre nach Art. 67 Abs. 3 lit. c StGB vom Gericht ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot zu prüfen. Daher müsste die Übertretungsstrafbehörde entweder das Verfahren zur Anklageerhebung an die Staatsanwaltschaft überweisen, obwohl eine Überweisung nach Art. 357 Abs. 4 StPO nur bei Vergehen und Verbrechen vorgesehen ist, oder dem Tätigkeitsverbot würde – entgegen dem Wortlaut des Gesetzes – im Kanton Zürich in diesem Umfang die Anwendung versagt. Im Übrigen kann gemäss § 91 GOG ZH die Übertretungsstrafbehörde vor den kantonalen Instanzen Rechtsmittel erheben, weshalb ebenfalls nicht nachvollziehbar ist, dass sie nicht Anklage erheben können soll. Es wäre daher wünschenswert, wenn das Obergericht auf seine Praxis zurückkäme und Übertretungsstrafbehörden dieselben Befugnisse zustünden wie der Staatsanwaltschaft.
Natalie Stauber, Juristin, Statthalteramt Andelfingen ZH
Strafvollzug
Vollzugsbehörde darf keineElektroschocks anordnen
Eine medizinische Zwangsbehandlung mit elektrischen Impulsen ist ein schwerer Grundrechtseingriff. Sie bedarf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage. Die Vollzugsbehörden könnten für die Anordnung einer medizinischen Zwangsmassnahme im Massnahmevollzug höchstens zuständig sein, soweit diese sich im Rahmen der im Strafurteil vorgezeichneten Behandlung bewegt.
Sachverhalt:
Das Bezirksgericht Zürich urteilte, der Beschuldigte habe im Zustand der nicht selbstverschuldeten Schuldunfähigkeit mehrere Tatbestände erfüllt. Es ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme an. Die vollziehende Klinik stellte beim kantonalen Amt für Justizvollzug den Antrag auf eine zwangsweise durchgeführte Behandlung mit Stromimpulsen zur Therapie einer paranoiden Schizophrenie. Die Klinik argumentierte, das Behandlungspersonal stosse an seine Grenzen, und eine Behandlung mit Medikamenten habe auch bei einer Höchstdosierung zu keiner Besserung geführt. Der Betroffene habe die meiste Zeit in Isolation verbracht – mit «mobiler Fixation». Das Vollzugsamt holte ein ärztliches Gutachten ein und ordnete die Elektroschocktherapie an. Der Betroffene wehrte sich mit einem Anwalt ohne Erfolg vor der Justizdirektion des Kantons Zürich. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hingegen hiess seine Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
3.1 Eine medikamentöse Zwangsbehandlung stellt einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit im Sinn der körperlichen und geistigen Integrität nach Art. 10 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101) und Art. 8 Ziff. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; SR 0.101) dar und betrifft die Menschenwürde gemäss Art. 7 BV zentral. Als schwerer Eingriff in die genannten verfassungsmässigen Rechte bedarf eine medikamentöse Zwangsbehandlung nach Art. 36 BV einer klaren und ausdrücklichen Regelung in einem formellen Gesetz und muss durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz der Grundrechte Dritter gerechtfertigt sein und sich als verhältnismässig erweisen; schliesslich darf der Kerngehalt des Grundrechts nicht angetastet werden (BGE 130 I 16, E. 3 mit Hinweisen). Nichts anderes muss bei einer nicht medikamentösen Zwangsbehandlung mittels elektrischer Impulse (dazu unten E. 4.3) gelten.
3.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stellt die Zwangsmedikation keine eigenständige Freiheitsbeschränkung dar, die vom Strafgericht neben der stationären therapeutischen Massnahme speziell angeordnet werden müsste (BGer, 6. April 2017, 6B_963/2016, E. 1.2). Auch wenn der Richter im Strafurteil lediglich die Art der angeordneten Massnahme bezeichnet, so ergeben sich aus den Erwägungen und den medizinischen Untersuchungen, auf welche diese Bezug nehmen, der konkrete Zweck der Massnahme und die näheren Umstände der Behandlung (BGE 130 IV 49, E. 3.2). Steht bereits bei der Anordnung der Massnahme fest, dass zur Behandlung des Täters eine zwangsweise Verabreichung von Medikamenten unumgänglich ist, wird der Strafrichter dies – zumindest in den Urteilserwägungen – ausdrücklich festhalten. Es ist aber auch denkbar, dass sich die Notwendigkeit einer Zwangsmedikation erst im Verlauf des Massnahmevollzugs herausstellt. Diesfalls sind die Vollzugsbehörden für deren Anordnung zuständig, soweit sie dem Zweck der Massnahme entspricht und sich in den Rahmen der Behandlung einfügt, wie er im Strafurteil vorgezeichnet ist (BGE 130 IV 49, E. 3.3; BGer, 26. Februar 2015, 5A_96/2015, E. 4.1).
3.3 Gegen eine Abstützung medizinischer Zwangsmassnahmen auf Art. 59 StGB spricht, dass schwerwiegende Einschränkungen von Grundrechten im Gesetz selbst vorgesehen sein müssen (Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV) und darin einer hinreichend bestimmten Grundlage bedürfen (Astrid Epiney in: Bernhard Waldmann /Eva Maria Belser / Astrid Epiney [Hrsg.], Schweizerische Bundesverfassung [BV], Basler Kommentar, Basel 2015, Art. 36 N. 35 f.). Diesen Anforderungen wird Art. 59 StGB nicht gerecht (Marianne Heer / Elmar Habermeyer in: Marcel Alexander Niggli / Hans Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Strafrecht, 4. Aufl., Basel 2018, Art. 59 N. 84–86). Im Kanton Zürich besteht indes mit dem Patientinnen- und Patientengesetz vom 5. April 2004 (PatientenG; LS 813.13) eine ausreichende formell-gesetzliche Grundlage für Zwangsbehandlungen (vgl. OGr, 23. April 2019, PA190012-O/U, E. 2.1).
3.4 Zuständig für die Anordnung von Zwangsmassnahmen nach dem PatientenG sind die verantwortlichen Ärztinnen und Ärzte sowie in Notsituationen bis zu deren Eintreffen das zuständige Fachpersonal (§ 27 Abs. 1 PatientenG). Für das Verfahren und den Rechtsschutz sind die Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs sowie des Einführungsgesetzes zum Kindes- und Erwachsenenschutz vom 25. Juni 2012 zu den freiheitseinschränkenden Massnahmen und den Zwangsbehandlungen im Rahmen fürsorgerischer Unterbringungen sinngemäss anwendbar (§ 27 Abs. 2 PatientenG). Der Rechtsweg gegen die ärztliche Anordnung führt demnach in erster Instanz ans Einzelgericht des Bezirksgerichts; gegen dessen Entscheid kann sodann Beschwerde an das Obergericht geführt werden (vgl. § 62 und 64 EG KESR). Dieser spezial-gesetzlich vorgesehene Instanzenzug ermöglicht – im Gegensatz zum verwaltungsrechtlichen – rasch(er)en Rechtsschutz.
4.1 Der Beschwerdegegner wäre nach der dargestellten Ordnung nur für die Anordnung einer medizinischen Zwangsbehandlung zuständig, wenn diese im Sinn der bundesgerichtlichen Rechtsprechung innerhalb des vom Strafurteil vorgezeichneten Rahmens läge und mithin lediglich als Vollzug desselben zu betrachten wäre. Für eine Zuständigkeit der Vollzugsbehörde zur Anordnung von medizinischen Zwangsbehandlungen, die ausserhalb des Rahmens der im Strafurteil angeordneten Behandlung liegen, vermag Art. 59 StGB hingegen von vornherein keine taugliche gesetzliche Grundlage darzustellen.
Im Kanton Zürich besteht im Übrigen ohnehin kein Bedarf, die Anordnung medizinischer Zwangsbehandlungen – jedenfalls ausserhalb des vom Strafurteil vorgegebenen Rahmens – unmittelbar auf das StGB abzustützen, ermöglicht die kantonale Patientengesetzgebung doch die Anordnung von Zwangsbehandlungen, wenn solche notwendig sind, um eine ernsthafte und unmittelbare Gefahr für die Gesundheit oder das Leben von Personen abzuwenden.
4.2 Im Strafurteil vom 29. August 2019 hatte das Bezirksgericht Zürich erwogen, dass der Beschwerdeführer aufgrund einer gutachterlich diagnostizierten paranoiden Schizophrenie massnahmebedürftig sei. In seinem Gutachten habe med. pract. E darauf hingewiesen, dass schizophrene Erkrankungen durch Medikamente, Psychoedukation und sozialpsychiatrische Massnahmen (Etablierung einer geeigneten Wohnform und Tagesstrukturierung) grundsätzlich gut behandelbar seien. Aufgrund des sehr engen Zusammenhangs der paranoiden Schizophrenie mit den begangenen Straftaten stehe beim Beschwerdeführer eine suffiziente Behandlung der Störung ganz klar gegenüber deliktorientierten Behandlungsmethoden im Vordergrund.
Im stationären Massnahmesetting bestünde nach Einschätzung des Gutachters die Möglichkeit, mit ausreichend Geduld und falls notwendig mit Hilfe der Anordnung einer Zwangsmedikation eine anhaltende Verbesserung des psychischen Zustands zu erreichen. Das Bezirksgericht hatte demzufolge die Möglichkeit einer Zwangsmedikation in Betracht gezogen. Die später von PD Dr. med. D im Gutachten vom Januar 2022 erkannte weitgehende pharmakologische Behandlungsresistenz war damals hingegen noch nicht thematisiert worden. Entsprechend findet sich im Strafurteil kein Hinweis auf die Möglichkeit einer Behandlung der psychischen Störung des Beschwerdeführers mit einer elektrokonvulsiven Therapie.
4.3 Die Elektrokonvulsionstherapie ist eine Methode zur Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder mittels elektrischer Reizung des Gehirns, wobei unter intensivmedizinischen Bedingungen in Kurznarkose und unter Muskelrelaxation behandelt wird. Zwei Elektroden werden am Kopf des Patienten platziert und mit Kurzpulsströmen wird ein für den Patienten aufgrund der Muskelrelaxation nicht spürbarer, generalisierter epileptischer Anfall von mindestens 25 bis 30 Sekunden Dauer induziert, der zu erheblichen neurochemischen Folgewirkungen im Gehirn führt, zum Beispiel endokrinologischen Veränderungen, Steigerung der Affinität von Neurotransmittern zu ihren Rezeptoren sowie Veränderung der Rezeptorendichte in bestimmten Arealen des Gehirns.
Eine solche Verabreichung elektrischer Reize liegt klarerweise ausserhalb des durch die Erwägungen des Strafgerichts bei der Anordnung der stationären Massnahme gesteckten Rahmens, welcher – wenn überhaupt – höchstens eine zwangsweise Verabreichung von Medikamenten umfasste. Der Beschwerdegegner durfte die ausserhalb der vom Strafurteil vorgezeichneten Behandlung liegende elektrokonvulsive Therapie demzufolge nicht gestützt auf Art. 59 StGB beziehungsweise das Strafurteil anordnen. § 26 PatientenG scheidet als mögliche Grundlage der angefochtenen Verfügung aus, weil der Beschwerdegegner für die Anordnung von Zwangsbehandlungen nach diesem Gesetz nicht zuständig ist.
4.4 Die angefochtene Verfügung erweist sich demnach als rechtswidrig und ist aufzuheben.
Verwaltungsgericht Zürich, Urteil VB.2022.00419 vom 6.10.2022
Sozialversicherungsrecht
Versicherte: Recht auf Äusserung zum Gutachtensauftrag
Eine Unfallversicherung muss dem Versicherten vor Vergabe eines medizinischen Gutachtens Gelegenheit geben, zur Person des Gutachters und zu den Fragen Stellung zu nehmen. Sonst liegt eine schwere Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, die im Rechtsmittelverfahren nicht geheilt werden kann.
Sachverhalt:
Der Kläger knickte beim Spazierengehen mit dem rechten Fuss ab und verletzte sich dabei am Knöchel. Er war über seinen Arbeitgeber gegen Unfälle versichert. Die Unfallversicherung stellte nach einem Jahr ihre Zahlungen ein. Sie stützte sich dabei auf interne Abklärungen sowie ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten. Dieses wertete die gesundheitlichen Beschwerden nicht als Unfallfolgen, sondern als Symptome einer zufällig nach dem Ereignis festgestellten Erkrankung am Sprungbein. Gemäss dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus wurden Gutachten in Auftrag gegeben, ohne dies dem Beschwerdeführer mitzuteilen. Damit war der Beschwerdeführer ausserstande, sich zum Gutachtensauftrag oder zum Beweisergebnis zu äussern.
Aus den Erwägungen:
2.2 Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 144 I 11, E. 5.3). Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheids veranlasst wird oder nicht. Eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs kann allerdings geheilt werden, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt als auch die Rechtslage frei überprüfen kann.
2.3 Die Heilungsmöglichkeit entfällt, wenn der Gehörsanspruch regelmässig verletzt wird. So ist es nicht Sinn der Heilung, dass Verwaltungsbehörden sich über den Grundsatz des rechtlichen Gehörs hinwegsetzen und darauf vertrauen, dass solche Verfahrensmängel in einem allfällig angehobenen Gerichtsverfahren behoben werden. Die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs bildet sodann häufig nur einen unvollkommenen Ersatz für eine unterlassene vorgängige Anhörung.
3.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, er sei über die Einholung des Gutachtens bei Dr. med. B nicht informiert worden, weshalb er auch keine Ergänzungsfragen habe stellen können. Dies stelle eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Das Gutachten sei aus dem Recht zu weisen, zumal es sich bei diesem lediglich um eine Aktenbeurteilung und nicht um ein eigentliches medizinisches Gutachten handle. Darüber hinaus habe Dr. B zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung bereits ein Entwurf des Einspracheentscheids vorgelegen, weshalb an seiner Unabhängigkeit erhebliche Zweifel bestünden.
3.2 Die Beschwerdegegnerin hält dem entgegen, eine Gehörsverletzung im Zusammenhang mit dem Gutachten von Dr. B liege nicht vor. Bei versicherungsinternen Abklärungen seien die Mitwirkungsrechte eingeschränkt und eine Gehörsverletzung sei im Rahmen des vorliegenden Verfahrens ohnehin als geheilt zu betrachten. Sodann handle es sich nicht um ein eigentliches medizinisches Gutachten, welches zu Ergänzungsfragen berechtigt hätte. Vielmehr sei es eine ergänzende und umfassende fachärztliche Beurteilung. Demgemäss sei das Gutachten entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers nicht aus dem Recht zu weisen.
4.1 Unbestritten und aktenkundig ist, dass der Beschwerdeführer von der Beschwerdegegnerin weder vor Erlass der Verfügung noch vor Erlass des vorliegend angefochtenen Einspracheentscheids über die entscheidwesentlichen Vorgänge und Grundlagen orientiert wurde. Insbesondere die medizinischen Akten von Dr. F, Dr. G und Dr. B, auf welche sich die Beschwerdegegnerin in ihren Entscheiden ausdrücklich abstützt, wurden in Auftrag gegeben, ohne dies dem Beschwerdeführer mitzuteilen. Damit war der Beschwerdeführer ausserstande, sich zum Gutachtensauftrag oder zum Beweisergebnis zu äussern, zumal ihm diese Gelegenheit selbst vor Erlass der Verfügung bzw. des Einspracheentscheids nicht zuteil wurde. Damit wurde sein Anspruch auf rechtliches Gehör zumindest im Einspracheverfahren verletzt. Ihm wurde zu keinem Zeitpunkt Gelegenheit gegeben, seinen Standpunkt wirksam zur Geltung zu bringen, wodurch er zur Geltendmachung seiner Rügen in das vorliegende Verfahren gedrängt wurde. In Anbetracht dieser Umstände ist die Gehörsverletzung als schwer zu bezeichnen, wobei offenbleiben kann, ob es sich bei den streitbetroffenen Gutachten um versicherungsinterne oder -externe handelt. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin ist im Einspracheverfahren nämlich grundsätzlich und im Zusammenhang mit versicherungsinternen Gutachten im Besonderen das rechtliche Gehör zu gewähren.
4.4 Zusammenfassend liegt eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers vor, weshalb sich eine Rückweisung der Sache an die Beschwerdegegnerin als notwendig erweist. Sie wird neue Abklärungen zu tätigen haben, bei welchen sie die Verfahrensrechte des Beschwerdeführers rechtsgenüglich zu wahren hat.
Verwaltungsgericht Glarus, Entscheid VG.2022.00004 vom 12.5.2022
Verwaltungsverfahren
Eltern dürfen ihre Kinder im Schulstreit vertreten
Der Bezirksrat Horgen ZH wollte den Rekurs eines achtjährigen Mädchens, dessen Rechte von den Eltern wahrgenommen wurden, materiell nicht prüfen. Argument: Die Eltern seien in der Sache nicht betroffen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich war anderer Ansicht.
Sachverhalt:
Ein achtjähriges Mädchen aus Thalwil ZH wurde vom Hort verwiesen, bis es ein negatives PCR-Testergebnis gegen Covid-19 vorweisen könne. Daraufhin nahmen die Eltern das Mädchen ganz aus dem Hort und kündeten den Vertrag fristlos. Die Schulverwaltung pochte auf die zweimonatige Kündigungsfrist und die Zahlung der geschuldeten Hortbeiträge. Dagegen wehrte sich das Mädchen – vertreten durch seine Eltern – erfolglos beim Bezirksrat Horgen ZH. Dieser trat auf den Rekurs gar nicht ein, weil einzig die Eltern Parteien des Vertrags betreffend Betreuung des Mädchens und damit Schuldner der Hortbeiträge seien. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich sieht es anders und wirft der Vorinstanz überspitzten Formalismus vor.
Aus den Erwägungen:
2.2 Gemäss § 21 Abs. 1 VRG ist zum Rekurs berechtigt, wer durch die angefochtene Anordnung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat. Erforderlich ist, dass die rekurrierende Person einen eigenen, persönlichen praktischen Nutzen an der Rechtsmittelerhebung dartun kann. Die Wahrnehmung der Interessen Dritter genügt grundsätzlich nicht. So sind in erster Linie die Adressaten der angefochtenen Anordnung rechtsmittellegitimiert und Dritte praxisgemäss nur unter bestimmten Voraussetzungen befugt, Verfügungen anzufechten, welche die Verfügungsadressaten belasten, etwa, wenn sie sich aufgrund ihrer (vertraglichen oder gesetzlichen) Beziehung zum Verfügungsadressaten am Verfahrensausgang interessiert zeigen oder deswegen selbst unmittelbar von der angefochtenen Verfügung berührt sind.
In Schüler- bzw. Schulbelangen kommt die Befugnis zur Rechtsmittelerhebung insofern zunächst den von der strittigen Anordnung betroffenen Schülern zu, wobei urteilsunfähige Kinder den Prozess grundsätzlich durch ihre gesetzliche Vertretung, in der Regel also die sorgeberechtigten Eltern/ den sorgeberechtigten Elternteil, führen müssen. Darüber hinaus erkennt die Rechtsprechung des Bundes- und des Verwaltungsgerichts den Inhabern der elterlichen Sorge aber auch die Befugnis zu, die Rechte des minderjährigen Kindes in eigenem Namen auszuüben und vor Gericht für dieses geltend zu machen.
2.3 Auf die Qualifikation der Streitsache als Schulsache kommt es hier nicht an, weil die Beschwerdeführerin ungeachtet dessen jedenfalls stärker als jedermann von der Ausgangsverfügung betroffen und damit zur Rekurserhebung legitimiert ist. So hatte die Beschwerdegegnerin die Leistungen aus dem – laut Vorinstanz allein mit den Eltern eingegangenen –im Januar 2022 aufgelösten Vertrag über die schulergänzende Betreuung der Beschwerdeführerin unstreitig auch dieser gegenüber zu erbringen und steht das Mädchen insofern in einer besonderen Nähe zur Streitsache.
Selbst wenn die Rekurslegitimation der Beschwerdeführerin aber zu verneinen (gewesen) wäre, wäre der daraus gezogene Schluss der Vorinstanz, auf das Rechtsmittel vom 11. April 2022 nicht einzutreten, als überspitzt formalistisch einzustufen. So zeigt die betreffende Eingabe und die dieser beiliegenden Vollmacht ohne Weiteres, dass die Eltern der Beschwerdeführerin (auch) ein unabhängiges, eigenes Interesse an der Prozessführung vor der Vorinstanz gehabt hätten bzw. von einer kongruenten Interessenlage von Eltern und Kind auszugehen ist. Die Vorinstanz hätte die Beschwerdeführerin bzw. den von ihren Eltern mandatierten Rechtsvertreter daher mit Präsidialverfügung vom 13. April 2022 zumindest darauf hinweisen müssen, dass sie beabsichtige, auf den Rekurs mangels Rekurslegitimation der Beschwerdeführerin nicht einzutreten; stattdessen erscheint die genannte Zwischenverfügung der Vorinstanz fast schon irreführend, erweckt sie doch den Anschein, es ginge nur um die korrekte Abfassung des Rubrums.
2.5 Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen erfüllt sind, wäre die Vorinstanz somit gehalten gewesen, auf den Rekurs der Beschwerdeführerin einzutreten bzw. die Angelegenheit zumindest als Rekurs ihrer Eltern materiell zu beurteilen. Kommt das Verwaltungsgericht zum Schluss, eine Vorinstanz sei auf ein Begehren zu Unrecht nicht eingetreten, weist es die Angelegenheit in der Regel zurück. Nachdem die Vorinstanz keine (summarische) materielle Prüfung vorgenommen hat und sich die Beschwerdegegnerin vor Verwaltungsgericht ebenfalls nicht zur Sache äusserte, besteht im vorliegenden Fall kein Anlass, von diesem Grundsatz abzuweichen. Die Angelegenheit ist vielmehr an die Vorinstanz zur materiellen Beurteilung zurückzuweisen.
Verwaltungsgericht Zürich, Entscheid VB.2022.00263 vom 14.9.2022
Schulrecht
Kein Anspruch auf eine umfassende Betreuung an der Uni
Ein Student hat gegenüber dem Betreuer einer wissenschaftlichen Arbeit lediglich Anspruch auf eine grundsätzliche Hilfestellung, damit seine Arbeit nicht völlig in die falsche Richtung läuft. Die eigentliche Aufgabe muss er selber erfüllen.
Sachverhalt:
Ein Student der Universität St. Gallen erzielte bei der Arbeit «Einführung in das wissenschaftliche Schreiben» eine ungenügende Note. Er rekurrierte dagegen und argumentierte, der Prüfungsverantwortliche habe ihm auf einen zweiten Entwurf geschrieben, er habe die Forschungsfrage «eingeschränkt und konkretisiert». Später in der offiziellen Bewertung hätte der Experte dann aber bemängelt, «es wäre unbedingt nötig gewesen, den Fokus der Forschungsfrage enger zu fassen». Die Rekurskommission der Uni wies das Rechtsmittel ab. Bei der angemessenen Betreuung einer wissenschaftlichen Arbeit geht es lediglich – im Sinne einer Dienstleistung – darum, eine grundsätzliche Hilfestellung zu gewähren, damit die Arbeit nicht völlig in eine falsche Richtung hinzielt. Letztlich liegt es aber am Studenten und nicht am Prüfungsverantwortlichen, die übernommene Aufgabe zu erfüllen. Zudem habe der Student an den mündlichen Besprechungen nicht teilgenommen. Im Zeitpunkt, als er seinen zweiten Entwurf einreichte, sei es dem Prüfungsverantwortlichen nicht mehr erlaubt, ihm detaillierte inhaltliche Tipps zu geben.
Aus den Erwägungen:
5. c) Letztlich besteht, auch wenn dies der Rekurrent in seiner Rekursergänzung verlangt, kein Anspruch auf weitergehende Hilfestellung. Bei der angemessenen Betreuung geht es lediglich – im Sinne einer Dienstleistung – darum, eine grundsätzliche Hilfestellung zu gewähren, damit die wissenschaftliche Arbeit nicht völlig in eine falsche Richtung hinzielt (vgl. in diesem Sinne BGE 136 I 229, E. 6.4). Einer solchen Hilfestellung ist der Prüfungsverantwortliche u.a. auch mit seinem Feedback nachgekommen. Letztlich liegt es aber an den Studierenden und nicht am Prüfungsverantwortlichen, die übertragene bzw. übernommene Aufgabe zu erfüllen. Mit dem Verfassen der wissenschaftlichen Hausarbeit müssen die Studierenden den Nachweis erbringen, dass sie über die Fähigkeiten der wissenschaftlichen Arbeitsweise verfügen. Würde eine weitergehende Hilfestellung, so wie sie der Rekurrent implizit mit einer Vorabkorrektur des überarbeiteten TP2 verlangte, geboten, müsste diese entsprechend bei der Bewertung mitberücksichtigt werden.
d) Insgesamt ergibt sich aus den Akten, dass der Rekurrent bei einer aktiven Kursteilnahme die Möglichkeit gehabt hätte, zusätzliches Feedback zu erhalten und im direkten Dialog herauszuhören, was der Prüfungsverantwortliche erwartet. Dem Rekurrenten hätte damit die Möglichkeit offen gestanden, die den Studierenden während den EWS-Kursen angebotenen, z.T. grosszügigen Hilfestellungen für das Verfassen einer wissenschaftlichen Hausarbeit, in Anspruch zu nehmen.
e) Abschliessend ist zu bemerken, dass sich der Rekurrent selbst widersprüchlich verhält, wenn er von den umfangreichen Möglichkeiten zur Hilfestellung zum Verfassen der wissenschaftlichen Hausarbeit bewusst nicht Gebrauch macht und im Nachhinein, nach Bekanntgabe der Note, dem Prüfungsverantwortlichen eine mangelhafte Betreuung vorwirft.
Der Rekurs gegen die Notenverfügung betreffend «Einführung in das wissenschaftliche Schreiben», wird abgewiesen und die Note bestätigt.
Rekurskommission der Universität St. Gallen, Entscheid 1/2022 vom 2.5.2022