Die Schweiz übernimmt seit dem Krieg in der Ukraine die Sanktionen der EU. Mittlerweile hat der Bundesrat gemäss dem Eidgenössischen Wirtschaftsdepartement das Vermögen von 1093 Personen und 80 Unternehmen und Organisationen gesperrt. Die Liste wurde im Laufe des Kriegs permanent erweitert.
Grundlage für die Sanktionen ist Artikel 184 Absatz 3 der Bundesverfassung. Er legitimiert den Bundesrat pauschal, zur «Wahrung der Interessen des Landes» befristete Verordnungen zu erlassen. Artikel 1 und 2 des Bundesgesetzes über die Durchsetzung von internationalen Sanktionen (Embargogesetz) ermächtigen die Landesregierung etwas spezifischer, Zwangsmassnahmen, die von der Uno, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder «von den wichtigsten Handelspartnern der Schweiz beschlossen worden sind», zu übernehmen. Zudem müssen wirtschaftliche Zwangsmassnahmen laut Embargogesetz der Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere der Menschenrechte dienen. Aus Anlass des Kriegs in der Ukraine erliess der Bundesrat die «Verordnung über Massnahmen im Zusammenhang mit der Lage in der Ukraine».
Gestützt auf Artikel 41 der UN-Charta wäre die Schweiz verpflichtet, die vom Uno-Sicherheitsrat beschlossenen «nicht-militärischen Sanktionen» zu übernehmen. Nur: Der Sicherheitsrat erliess in Bezug auf den Ukrainekrieg keine Sanktionen. Einzelne Staaten wie die USA oder Grossbritannien, aber auch die EU, verhängten hingegen seit Kriegsausbruch Sanktionen gegen Russland.
Kriterien für Sanktionierung bleiben geheim
Der Bundesrat hat die von der Europäischen Union «als wichtigem Handelspartner» beschlossenen Sanktionen weitgehend übernommen. Laut dem Aussendepartement und dem Bericht der parlamentarischen Verwaltungskontrolle dekretiert die Schweiz die von der EU verhängten Sanktionen aber «nicht direkt und ohne vorherige Prüfung». Der Bundesrat nehme eine Interessenabwägung vor, «die insbesondere die aussenpolitischen Ziele der Schweiz und ihre Neutralität» berücksichtige.
Der Bundesrat entscheidet somit im Einzelfall darüber, ob er die von der EU beschlossenen Sanktionen «ganz, teilweise oder gar nicht» übernimmt. Auf welche konkreten Kriterien er sich aber bei der gezielten Sanktionierung von Personen, Unternehmen oder Organisationen stützt, beantworten das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und das Wirtschaftsdepartement trotz mehrfacher Nachfrage von plädoyer nicht. Das Seco sagt einzig, die Entscheidung erfolge «aufgrund aussenpolitischer, aussenwirtschaftspolitischer und rechtlicher Kriterien». Es bleibt somit ein Staatsgeheimnis, wer weshalb sanktioniert wird.
Ein Beispiel, bei dem die Schweiz der EU nicht folgte: Russische Staatssender wie «RT» (früher «Russia Today») und «Sputnik» können in der Schweiz weiterhin empfangen werden. Der Bundesrat entschied Ende März, sich der Zensur des Senders durch die EU nicht anzuschliessen. Sein Argument: «Auch wenn es sich bei diesen Kanälen um Werkzeuge der Propaganda und Desinformation» handle, sei es wirksamer, unwahren Äusserungen mit Fakten zu begegnen, statt sie zu verbieten.
Gemäss dem Zürcher Finanzmarkt-Professor Samuel Kern Alexander übernimmt die Schweiz «seit den 1990er-Jahren die EU-Sanktionen mehrheitlich». Das bestätigt der Bericht des Bundesrats zur Sanktionspraxis 2017: Die Schweiz schliesse sich seit 1998 (Jugoslawienkrieg) den EU-Sanktionen grundsätzlich an. Laut Aussendepartment war dies bei Sanktionen gegen den Iran, Nordkorea und Russland nur teilweise der Fall.
Sanktionsgrund “guter Steuerzahler in Russland”
Die Ukraine-Verordnung sieht insbesondere Massnahmen zur Beschränkung des Handels mit «militärischen Gütern, Gütern für die Ölraffination, den Energiesektor und Luxusgütern» sowie weitreichende «Finanzsanktionen und Ein- und Durchreiseverbote» vor. Am 27. April übernahm der Bundesrat das neuste EU-Sanktionspaket gegen über 200 zusätzliche Personen und Organisationen. Es enthält auch Einfuhrverbote für Braun- und Steinkohle, Holz, Zement sowie für Waren wie Meeresfrüchte, Kaviar und Wodka.
Ein Unternehmen muss nicht direkt in russischer Staatshand sein, um auf der Sanktionsliste zu landen. Auch private Unternehmen oder Personen, die in Russland hohe Steuern bezahlen, sind betroffen. Die auf der Seco-Liste Genannten dürfen laut der Verordnung des Bundesrats nicht in die Schweiz einreisen. Zudem müssen die Banken ihre Vermögenswerte sperren. Beispiel: Viktor Rashnikov ist ein russischer Milliardär und Eigentümer sowie Vorsitzender des Verwaltungsrats des Unternehmens «Magnitogorsk Iron & Steel Works» (MMK). In der aktuellen Verordnung des Bundesrats von Mitte April lautet der Sanktionierungsgrund: «Die MMK ist einer der grössten Steuerzahler Russlands. Die Steuerbelastung des Unternehmens ist in letzter Zeit gestiegen, was zu erheblich höheren Einnahmen für den russischen Staatshaushalt geführt hat.» Er sei also ein «führender russischer Unternehmer, der in Wirtschaftszweigen tätig ist, die eine wesentliche Einnahmequelle für die Regierung der Russischen Föderation darstellen».
Bei den sanktionierten Personen handelt es sich mehrheitlich um russische Unterhaus-Parlamentarier und Beamte aus praktisch allen Ministerien sowie die Geschäftsleiter russischer Staatsunternehmen. Dazu kommen Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats, hochrangige Beamte und Militärangehörige sowie Geschäftsleute. Die Sanktionen zielen auch auf das familiäre Umfeld dieser Personen ab. So sanktioniert der Bundesrat etwa Anastasia Ignatova. Sie ist die Stieftochter von Sergei Chemezov, dem Vorstandsvorsitzenden des russischen Staatsunternehmens Rostec. Grund: «Als Stieftochter von Sergei Chemezov besitzt sie über Offshore-Gesellschaften grosse Vermögenswerte in Verbindung mit ihm.»
Bislang zwei Gesuche zur Entfernung aus der Liste
Alexander Pumpiansky lebt in Genf. Er ist der Sohn von Dmitri Pumpiansky, einem milliardenschweren Stahlmagnaten, der mit seiner Frau ebenfalls sanktioniert ist. Wegen seiner Einbürgerung ist der Sohn zwar keinen Reisebeschränkungen unterworfen, aber seine Konten sind gesperrt. Laut der Zeitung «Tribune de Genève» lebt der Genfer einzig von dem Bargeld, das er noch besitzt. Er kritisiert, er werde «als schuldig angesehen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich zu verteidigen oder zu erklären». Können sich die sanktionierten Personen gegen den Listeneintrag tatsächlich nicht wehren? Laut Seco-Sprecher Fabian Maienfisch ist eine Anhörung der Betroffenen vorab nicht möglich. Sanktionen müssten ohne Vorakündigung ausgesprochen werden, um die Wirksamkeit zu gewährleisten. Nach erfolgter Sanktionierung könnten Personen, Unternehmen und Organisationen beim Wirtschaftsdepartement ein Delisting-Gesuch einreichen. Das Departement prüfe es und stelle eine anfechtbare Verfügung aus. Bei einer Abweisung des Löschungsantrags könne der Betroffene sich beim Bundesverwaltungsgericht beschweren. Bis heute habe das Departement zwei Delisting-Gesuche erhalten. «Es liegen aber noch keine Verfügungen vor, somit waren auch noch keine Beschwerden möglich.»
Grégoire Mangeat ist ehemaliger Präsident des Genfer Anwaltsverbands und vertritt Parteien in Fällen von Geldwäsche, Korruption und anderen Fällen von Wirtschaftskriminalität. Er verlangt vom Seco, beim Erlass von Sanktionen die verfassungsmässigen Rechte der Betroffenen und die Europäische Menschenrechtskonvention zu beachten. Das betreffe insbesondere die formellen Parteirechte im Rahmen des Verwaltungsverfahrens. Inhaltlich könnten die Betroffenen vor allem Verwechslungen der Person, die Nichtbeteiligung an der Invasion der Ukraine oder eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsgebots geltend machen.
Der Zürcher Professor Alexander stimmt Mangeat zu: Das Verhältnismässigkeitsprinzip verlange, dass die Massnahmen geeignet, in persönlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht erforderlich sowie für die betroffene Person zumutbar sind. Die Leitplanken setze das EGMR-Urteil 10593/08 von 2012. Damals wurde die Schweiz verurteilt, weil sie Sanktionsanordnungen des Uno-Sicherheitsrats nicht menschenrechtskonform umsetzte.
Anwaltsgeheimnis geht Ukraine-Verordnung vor
Die Ukraine-Verordnung verpflichtet in Artikel 16 konkret: «Personen und Institutionen, die Gelder halten oder verwalten oder von wirtschaftlichen Ressourcen wissen, von denen anzunehmen ist, dass sie unter die Sperrung nach Artikel 15 Absatz 1 fallen, müssen dies dem Seco unverzüglich melden.» Diese Meldung muss «die Namen der Begünstigten sowie Angaben zur Art und zum Wert der betreffenden Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen enthalten».
Gilt das nun auch für die Anwaltschaft? Laut Wirtschaftsdepartement und Seco sehe die Verordnung «nicht vor, dass Anwälte grundsätzlich von der Meldepflicht ausgenommen sind», so Sprecher Michael Wüthrich. Inwiefern diese mit dem Anwaltsgeheimnis vereinbar sei, werde abgeklärt.
Der Schweizerische Anwaltsverband beauftragte den Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli, diese Frage in einem Gutachten zu beantworten. Nigglis Antwort: Eine Einschränkung des Berufsgeheimnisses nach Artikel 321 StGB sei «durch eine Verordnung unzulässig und strafrechtlich zu unbestimmt». Umso mehr gelte das für eine mögliche Einschränkung des Anwaltsgeheimnisses im Sinne von Artikel 13 Anwaltsgesetz. «Um eine gültige Einschränkung zu begründen, bedürfte es einer klaren und ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage», so der Professor in seinem Gutachten. Auf die Frage, was gelte, wenn ein Anwalt nach Inkrafttreten der Verordnung beiläufig Kenntnis von Vermögenswerten erhalte, schreibt Niggli: «Ein Anwalt muss dies nicht melden, soweit er selbst keine fraglichen Vermögenswerte hält oder verwaltet. Er muss ein entsprechendes Mandat auch nicht ablehnen, soweit es nicht das Halten oder Verwalten entsprechender Vermögenswerte umfasst.» Wohl aber müsse der Anwalt aufgrund seiner Berufspflichten einen bestehenden oder zukünftigen Klienten auf die entsprechenden Vorgaben der Ukraine-Verordnung hinweisen.
Niggli beantwortet im Gutachten die Frage, ob aus gesperrten Mitteln das Honorar für das Mandat eines Anwalts zur Vertretung in Verfahren zur rechtlichen Überprüfung der Sperrung dieser Mittel beglichen werden kann, klar mit «Ja».