Würden Sie Ihren Ehepartner auslosen? Oder Ihre Freunde? Natürlich nicht», sagt Andrea Caroni in einer Onlinediskussion zur «Justizinitiative». Der Ausserrhoder FDP-Ständerat und Präsident der parlamentarischen Gerichtskommission will mit diesem Vergleich verdeutlichen, wie abwegig die Forderung der «Justizinitiative» ist, künftig das Los oder eben den Zufall entscheiden zu lassen, wer am Bundesgericht Recht spricht. Margit Osterloh kann über die Gleichsetzung nur fassungslos den Kopf schütteln. Die Ökonomieprofessorin entgegnet: «Selbstverständlich würde auch ich meinen Partner nicht per Los wählen.» Sie wähle ihn aufgrund direkter, unmittelbarer gegenseitiger Beziehung und Liebe, «das ist genau das, was wir bei Richtern nicht wollen. Sie sollen unabhängig sein!»
Auch Mark Livschitz, Rechtsanwalt und Experte in Korruptionsbekämpfung, vermag Caronis Argument nichts abzugewinnen. Er mahnt den Ausserrhoder Kollegen, sich bewusst zu werden, worum es bei der Richterwahl im Kern geht: «Stellen Sie sich vor, Sie sagen Ihrer Frau: Ich werde dich heiraten, wenn du mir pro Jahr 10000 Franken bezahlst. Und alle sechs Jahre überprüfe ich, ob ich dich noch will. Das käme vermutlich nicht gut an.»
Die Diskussion pro und contra Justizinitiative fand Mitte August auf der Plattform Weblaw.ch live statt. Neben Caroni, Osterloh und Livschitz nahm Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser daran teil. Caroni und Glaser wollen am heutigen Wahlverfahren hinter verschlossenen Türen durch eine Parlamentskommission festhalten. Osterloh und Livschitz befürworten den Vorschlag der Initiative, über die das Volk am 28. November abstimmen wird. Sie fordert, dass künftig eine vom Bundesrat eingesetzte Fachkommission die persönliche Qualifikation der Bewerber prüft und eine Vorauswahl trifft. Unter den genügend qualifizierten Kandidatinnen soll dann das Los entscheiden. Wer einmal Bundesrichter ist, soll dies bis zum 70. Lebensjahr bleiben dürfen. Das Parlament könnte laut Initiative die Richter nur bei schweren Verletzungen der Amtspflicht oder Krankheit abberufen.
Heute müssen die höchsten Richter alle sechs Jahre zur Wiederwahl antreten. Die 38 Richterstellen werden analog zur Wählerstärke der Parteien besetzt. Die SVP stellt somit am meisten Richter auf, die GLP am wenigsten. Die Vergabe der Richterstellen nach Parteibuch ist nirgendwo schriftlich festgehalten, wird aber seit Jahrzehnten so praktiziert: Der letzte parteilose Bundesrichter wurde 1943 gewählt. Parteilose haben faktisch also keine Chance auf eine Stelle am Bundesgericht.
Blosse Akklamation statt echte Wahl
Für den Zürcher Staatsrechtler Andreas Glaser hat sich die Wahl durch das Parlament «bewährt». Er befürchtet, die demokratische Legitimation der Richter würde erheblich geschwächt, wenn sie nicht «von der ganzen Breite des Parlaments» gewählt würden. Eine vom Bundesrat eingesetzte Fachkommission, «deren Mitglieder wir nicht kennen und die dem Bundesrat hörig ist», mache die Richter von der Exekutive abhängig. «Die Macht liegt dann beim Bundesrat, er setzt am Ende die Bundesrichter ein.» Dabei sollten die Gerichte des Bundes zur Kontrolle der Exekutive dienen.
Rechtsanwalt Livschitz widerspricht: «Das Parlament wählt die Richter nicht!» Ein Blick in die Wahlprotokolle zeige, was sich im Parlament wirklich zutrage: «Es findet eine reine Akklamation statt – von bereits im Vorfeld hinter verschlossenen Türen in Kommissionen gefällten Entscheiden.» Diese Vorgehensweise sei weder transparent noch überprüfbar und entspreche nicht einer demokratisch legitimierten Richterwahl. Für ihn und Margit Osterloh ist zudem klar: Mit der Beschränkung auf Parteimitglieder werde einer Mehrheit der Bevölkerung der Zugang zu Richterstellen faktisch verwehrt. Osterloh verweist darauf, dass die Berücksichtigung der Parteizugehörigkeit nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entpricht. «Heute sind noch etwa sieben Prozent der Bevölkerung in Parteien organisiert. Zählen wir die Sympathisanten dazu, kommen wir auf 30 Prozent.» Das sei herzlich wenig. «Das bisherige System erhöht die Legitimität der Wahlen also nicht. Zudem schränkt es den Pool der geeigneten Kandidaten enorm ein.»
Empirie zeigt: Mehr fachlich starke Kandidaten dank Los
Osterloh ist überzeugt, dass eine Annahme der Justizinitiative dies ändern würde. Die Professorin weiss aus ihren empirischen Studien, dass sich bei einer Besetzung von Stellen allein schon bei der Ankündigung eines fokussierten Losverfahrens «drei Mal mehr fachlich starke, engagierte und leistungsfähige Kandidaten» melden als sonst. Glaser wendet ein, damit werde die Auswahl der Bewerber eingeengt, weil sich einzig Experten melden würden. Vorteil des heutigen Systems sei auch, dass sogar Nichtjuristen kandidieren könnten. Livschitz vermag darin keinen Vorteil zu erkennen: «Solche Leute gehören nicht an ein höchstes Gericht.»
Mandatssteuer als Korruption
Umstritten am aktuellen System ist auch die «Mandatssteuer»: Gewählte Richter müssen den Parteien einen Teil ihres Lohns abgeben. Der Betrag ist bei den Grünen mit jährlich 15000 Franken pro Kopf am höchsten. Bei den Sozialdemokraten (SP) sind es 13000 Franken, bei der Mitte laut Medienberichten 6000 Franken. Die FDP beziffert den gesamten Betrag der Abgaben aller ihrer Bundesrichter auf 35 000 Franken pro Jahr. Die Mitte und die Schweizer Volkspartei (SVP) machen nicht transparent, wie hoch die Gesamtbeiträge ihrer Bundesrichter pro Jahr sind.
Diese indirekte Parteienfinanzierung durch Mandatsabgaben ist auch nach Auffassung von Patrick Guidon, dem Präsidenten der Schweizerischen Richtervereinigung, «nicht länger haltbar», wie er in einem Interview in der «Neuen Zürcher Zeitung» sagte. Damit werde die Gewaltentrennung verletzt. Zu dieser Einschätzung kam auch die Anti-Korruptionsorganisation des Europarats (Greco), welche die Schweiz wegen der Mandatssteuer gerüffelt hat. Selbst Glaser sagte in der Onlinediskussion, die Mandatssteuer komme «in die Nähe der Korruption». Für Caroni hingegen hat dies nichts mit Korruption oder «Ämterkauf» zu tun.
Parlament spricht über das Problem, handelt aber nicht
Der Nationalrat empfiehlt die Initiative mit 191 zu 1 zur Ablehnung – die Gegenstimme stammte von Lukas Reimann (SVP). Der Ständerat lehnte sie einstimmig ab. Das Parlament schickte nicht einmal einen Gegenvorschlag ins Rennen. Osterloh ist enttäuscht: Das zeige klar auf, wie reformfaul das Parlament in dieser Sache sei, obwohl es permanent von der Notwendigkeit spreche, das Wahlsystem zu verbessern.
Andrea Caroni hat zwei Monate vor der Abstimmung ein überparteiliches Nein-Komitee gegründet. Im Co-Präsidium sitzen neben ihm die Urner Mitte-Ständerätin Heidi Z’graggen und die Präsidentin der Rechtskommission, die Genfer SP-Nationalrätin Laurence Rielle Fehlmann. Von den Grünen ist der Genfer Nicolas Walder dabei, von den Grünliberalen der Aargauer Beat Flach. Die SVP ist mit dem Genfer Nationalrat und Anwalt Yves Nidegger an Bord. Die Parteien erklären gegenüber plädoyer, praktisch kein Geld für eine Kampagne einzusetzen, oder sie schweigen sich darüber aus.
Der Unternehmer Adrian Gasser, der die Justizinitiative lanciert hat, spricht von «über einer Million Franken», die er für den Abstimmungskampf einsetzen wolle. Das sei zwar viel Geld, «aber angesichts der breiten Gegnerschaft notwendig».