Der Zürcher Anwaltsverband und die Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich haben nach der Einführung des «Anwalts der ersten Stunde» wenig zu kritisieren. Grundsätzlich sei die Neuerung gut angelaufen. Sie beanstanden aber die Rechtsbelehrung durch die Kantonspolizei Zürich. Denn dort heisst es in einer schriftlichen Information für die Verhafteten: «Sie sind berechtigt, eine Verteidigung auf eigenes Kostenrisiko zu bestellen.» Dieser Hinweis auf die Kosten ist unrichtig und schreckt ab, so die Kritik der Strafverteidiger. Die Anwaltschaft macht klar: «Ein faires Verfahren beginnt in der ersten Stunde.» Sie fordert, den Hinweis auf das Kostenrisiko wegzulassen und die Belehrung mit der klaren Frage abzuschliessen: «Wollen Sie vor Beginn der Einvernahme mit einer Anwältin oder einem Anwalt reden?»
Marcel Strebel, Chef der Informationsabteilung der Zürcher Kantonspolizei hat dafür kein Gehör: «Die Kantonspolizei sieht derzeit keinen Anlass, von der bestehenden Praxis abzuweichen.»
Auch im Kanton Bern ist die Rechtsbelehrung aus Sicht der Anwälte problematisch: «Es wird darin ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein ‹Missbrauch› der prozessualen Rechte zu deren Entzug oder Einschränkung führen könne», beanstandeten die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB) bereits Ende Februar. Das sei zwar eine leere, aber in der Situation der Befragung oder Festnahme eine «furchterregende Drohung».
Thomas Sollberger, Chef der Kriminalabteilung bei der Kantonspolizei Bern, erklärt den Wortlaut damit, wie die Merkblätter entstanden sind: «Wir haben alte Merkblätter der Staatsanwaltschaft übernommen und gekürzt. Dieser Passus ist uns nicht aufgefallen und hat bisher auch noch nie zur Diskussion Anlass gegeben.» Man sei aber in regelmässigem Kontakt mit der Generalstaatsanwaltschaft und es könne gut sein, dass das Merkblatt entsprechend angepasst werde.
Anwälte müssen teilweise gratis arbeiten
Ebenfalls Kritik üben die DJB an der Entschädigung der Anwälte: Es kann nämlich vorkommen, dass diese gratis arbeiten, wenn der Fall nicht in einer amtlichen Verteidigung endet und die verhaftete Person zahlungsunfähig ist. «Ansonsten ist aber alles sehr gut angelaufen», sagt Simone Rebmann, Geschäftsführerin der DJB.
Die gleiche Art der Honorierung gilt laut Lorenz Erni, Präsident des Vereins Pikett Strafverteidigung, auch im Kanton Zürich. Auch er spricht vom Risiko der Anwälte, «Gratisarbeit leisten zu müssen».
Anders läuft es im Kanton St. Gallen: «Wer als Anwalt aufgeboten wird, erhält drei Stundenansätze garantiert», sagt Markus Joos, Präsident des St. Gallischen Anwaltsverbandes. Auch sonst habe er keine Klagen gehört - und die Rechtsbelehrung sei in Ordnung.
Ähnlich positiv äussert sich Markus Steiner, Präsident des «Vereins Anwalt der ersten Stunde» im Kanton Schwyz: «Es ist zwar noch früh für konkrete Aussagen. Aber ich höre, dass es funktioniert.» In Schwyz bildet die Honorierung des Anwalts der ersten Stunde einen Teil der Verfahrenskosten. Der Staat trägt also die Anwaltskosten und überbindet diese je nach Verfahrensausgang der beschuldigten Person.
Restriktive Praxis im Baselbiet
Das gleiche Vorgehen bezüglich Honorierung hat der Kanton Basel-Stadt gewählt. «Im Stadtkanton funktioniert das Pikett weitgehend reibungslos», sagt Nikolaus Tamm, Geschäftsführer des «Vereins Pikett Strafverteidigung», der für die beiden Basel das Pikett organisiert. Kritik gibt es einzig an der Art der Rechtsbelehrung: Inhaltlich stimme das Merkblatt, sagt der Basler Anwalt und Professor für Strafprozessrecht Niklaus Ruckstuhl. Doch es umfasse drei Seiten und müsse nach dem Lesen zurückgegeben werden. Die Beschuldigten seien überfordert, den Inhalt eines so umfangreichen Merkblattes zu erfassen und sich das alles auch noch zu merken.
Weniger zufrieden ist Nikolaus Tamm mit Basel-Landschaft: «Das Pikett wird sehr zurückhaltend aufgeboten», so Tamm. «Eigentlich nur, wenn die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung erfüllt sind.» So habe auch noch nie das Risiko bestanden, dass ein Anwalt der ersten Stunde seine Arbeit gratis gemacht habe. Denn auch im Baselbiet würde das Inkassorisiko beim Anwalt liegen.
Kontroverse um SchKG-Gebühren
Auch die Umsetzung der schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) verläuft nicht überall reibungslos. So hat die II. Zivilkammer des Zürcher Obergerichts in einem Urteil vom 23. Februar 2011 die ZPO kühn interpretiert: Die bundesrätliche Verordnung über den SchKG-Gebührentarif habe keine gesetzliche Grundlage mehr, da die ZPO den Kantonen das Festsetzen der Tarife für die Kosten gerichtlicher SchKG-Sachen überlasse. Die Artikel 48 ff. der Gebührenverordnung zum SchKG (GebV SchKG) seien deshalb nicht mehr anwendbar. Die Gerichtskosten für die Konkurseröffnung seien neu nach kantonalem Tarif zu bestimmen.
David Rüetschi vom Bundesamt für Justiz (BJ) findet diesen Entscheid «geradezu tollkühn». Er befürchtet erhebliche Auswirkungen: «Das würde bedeuten, dass nicht nur die Konkurseröffnungen, sondern auch die Rechtsöffnungen und andere Summarverfahren nicht mehr der eidgenössischen Gebührenverordnung unterstünden.»
Gleicher Meinung wie Rüetschi ist die I. Zivilkammer des Zürcher Obergerichts. Sie entschied am 8. Februar 2011, die Gebührenordnung des SchKG ginge als lex specialis den Artikeln 95 und 96 ZPO?vor. Das rechtfertige sich auch in der Sache: «Betreibungsrechtliche Summarsachen haben nicht die gleiche Bedeutung wie andere Gerichtsverfahren.» Die Anwendung der SchKG-Gebührenordnung führt gegenüber den Gerichtskosten nach ZPO zu deutlich tieferen Gebühren.
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