Emotionaler Widerstand beim Klienten
Prozess- und mediationsführende Anwälte haben für ihre Klienten eine psychische Bedeutung, die über die Rechtsvertretung weit hinausgeht. Sie müssen ihre Klienten emotional stützen, trösten und vor allem: aufklären. Die Unkenntnis der Rechtstheorie und -praxis ist riesig – an ihrer Stelle sitzen Illusionen und naive Gerechtigkeitsideen. Es sind kognitive Verzerrungen (engl. biases), die nicht einfach auszuräumen sind. Oft wird der Rechtsanwalt nicht einmal in die entscheidenden Fakten eingeweiht.
Die Ignoranz hat eine typische Struktur. Leute betrachten nur den Effekt einer Handlung und ignorieren Kausalität und Beweggründe der Prozessgegner. Andere fokussieren auf ihre Werturteile und Emotionen statt auf Tatsachen und Anforderungen an eine gerichtliche Beweisführung. Nicht selten verharren Klienten auf ihrer Position, obwohl sie insgeheim wissen, dass sie sich verrannt haben. Sie klammern sich an «Ratschläge» aus dem Internet. Anwälte wissen aus Erfahrung, dass die vorgeschriebene Aufklärung in rechtlichen Belangen bei den Klienten oft auf emotionalen Widerstand stösst. Der Widerstand kann im Lauf des Mandats durch Autosuggestion und durch moralische «Unterstützung» von ebenso schlecht informierten Freunden sogar noch genährt werden.
Aus Klientensicht ist es ein brutales Erwachen zu merken, wie schwierig es tatsächlich ist, seine rechtlichen Ansprüche durchzusetzen, sogar wenn sie berechtigt und nachweisbar sind. Selbst gebildete und psychisch stabile Klienten tun sich oftmals schwer damit.
Auch die Psychologie ist von populären Irrtümern betroffen, die sekundär in die Juristerei einfliessen, nämlich via Erwartungen, wie sich der Mensch im Allgemeinen zu verhalten habe und was normal respektive schlecht oder gestört sei. Die Wiege aller kognitiven Verzerrungen ist die egozentrische Weltsicht derer, die sich selber zum Modell des richtigen psychologischen Funktionierens nehmen. Man nennt es den illusionären Überlegenheits-Bias oder blinden Fleck. Die psychologische Forschung belegt, wie unterschiedlich die Menschen sind und dass es nicht eine optimale Persönlichkeit oder ein optimales psychisches Verarbeiten gibt. Dieses wissenschaftliche Ergebnis ist unumstritten.
So erfordert die Aufklärung über die relevanten Tatsachen, über deren Nachweisbarkeit, über die Rechtslage, die Prozesschancen und die Strategie viel Fingerspitzengefühl. Oft müssen Anwälte schlechte Nachrichten überbringen oder versuchen, dem Klienten ein aussichtsloses Unterfangen auszureden und mit ihm zusammen mit der Langwierigkeit der Verfahren leben. Was dies für sie bedeutet, führte der St. Galler Rechtsanwalt Frank Petermann aus: «Der Klient wird sich an seinen Anwalt klammern, ihn zum Teil mehrmals täglich anrufen und unwichtige Details klären wollen. Das kann für den Anwalt sehr belastend werden.»1
Am besten wäre es, wenn Klienten von sich aus einsichtig würden. Psychologische Gesprächsführung kann für die behutsame Anleitung des Klienten dienlich sein. Sie zielt darauf ab, den emotionalen Widerstand gering zu halten, und kann damit den Klienten zu mehr Einsicht und besserer Prozessfähigkeit verhelfen. Das wiederum reduziert die emotionale Belastung des Anwalts.
Das Erstgespräch
Das allererste Gespräch – das Instruktionsgespräch – mit einem neuen Klienten soll ihm den Weg für die weitere Zusammenarbeit mit seinem Anwalt weisen. Mit psychologischen Kenntnissen kann man viele Pflöcke setzen, um die gefürchtete Beratungsresistenz zu vermeiden oder zumindest zu verringern. Das Erstgespräch legt das Vertrauensfundament.2 Es zeigt dem Klienten, dass man ihm zuhört und sein Anliegen versteht. Dies ist wichtig, denn die spätere Zusammenarbeit wird für beide Seiten psychologisch anspruchsvoll.
Petermann weist darauf hin, dass es realistischer ist, dem Klienten seine schwer erträglichen Ängste bewusst zu machen, als sie aufzulösen.3 Die Grenzen der Veränderbarkeit des Menschen sind enger gezogen, als man gemeinhin annimmt.
Schliesslich geht es im Erstgespräch um die Instruktion und die Modalitäten der Zusammenarbeit. Diese auszuführen gehört allerdings nicht in die Kompetenz der Autorin.
Erheben des Lebenssachverhalts
Folgende Techniken eignen sich zum Erfragen des Lebenssachverhalts: Aktives Zuhören, Sokratischer Dialog und zirkuläres Fragen aus der systemischen Familientherapie. Zu allen gibt es Lehrfilme auf Youtube.
Das «aktive Zuhören» nach Carl Rogers ist die Basistechnik.4 Es beinhaltet, dass die Fachperson ihre eigene Ambivalenz und ihr Wissen zunächst im Zaum hält und sich ganz auf die Anliegen des Hilfesuchenden konzentriert. Zur Steuerung des Gesprächs in die relevante Richtung kann man echo-artig die hilfreichsten Stichwörter aufnehmen und zurückspiegeln.5 Zusammenfassungen des Gesagten, um zu hören, ob man richtig verstanden hat, sind ebenso dienlich. Ein sogenannter freier Bericht über die Geschehnisse kann dem Anwalt mehr Aufschlüsse geben als das Abhaken eines Fragenkatalogs und schützt ihn zuweilen vor unliebsamen Überraschungen.
Psychologische Gesprächsführung kann nur gelingen, wenn sie von emotionaler Echtheit getragen ist. Das Gegenüber spürt Unechtheit, obwohl es sie aus Höflichkeit in den seltensten Fällen anzusprechen wagt. Die Gretchenfrage «Glauben Sie mir nicht?» sollte man also nicht mit «Doch, doch!» beantworten, wenn es nicht stimmt. Besser ist es klarzustellen, dass man immer kritisch an die Dinge herangeht und alles mehrfach hinterfragt. Im Rechtswesen geht es zudem nur in geringem Mass darum, jemandem zu glauben – aber in hohem Mass um die Beweisbarkeit der Behauptungen. Der reine Glaube nützt dem Klienten nichts.
Wenn der Anwalt den Eindruck hat, dass sein Klient ins Irrationale abgleite oder sich in «Richtung Absurdistan» bewege, empfiehlt sich Sokrates’ Mäeutik – wörtlich: die Geburtshilfe der Vernunft. Die Technik ist wiederum simpel, sie besteht darin, immer und immer wieder nach dem «Warum» zu fragen. Man erfährt damit ganz nebenbei die Erwartungen, die der Klient an einen hat, auf die man später zurückkommen kann. Brückner empfiehlt, sich dumm zu stellen und zu sagen: «Das begreife ich nicht», oder: «Das leuchtet mir nicht ein.»6
Im Umgang mit Uneinsichtigkeit und Aggressivität von Klienten können zirkuläre Fragen hilfreich sein, nämlich: «Wie denken Sie, werden die Richter auf Ihre Art reagieren? Was werden wohl die Richter von Ihnen denken, wenn Sie das so sagen?» 7 Ein Beispiel dazu: Die Schreibende hatte als Psychotherapeutin im Strafvollzug einen mehrfach wegen Gewaltdelikten, zuletzt vorsätzlicher Tötung, verurteilten Patienten, der durch seine impulsive Aggressivität überall Angst und Schrecken säte. Er war – wie er selbst sagte – nicht der Intelligenteste. Freimütig offenbarte er, er halte sich in seinem Leben «streng an die Bibel», da er sie im Arrest ausgiebig studiert habe. Ihm gefalle besonders das Motto: «Mein ist die Rache» (5. Mose 32:35) und der Spruch: «Zertrete deine Feinde wie Läuse am Boden.» Dieser findet sich gar nicht in der Bibel, aber es gibt ähnliche, etwa Lukas 19:27: «Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, dass ich über sie herrschen sollte, bringet her und erwürget sie vor mir.» Ich fragte den Insassen, ob der Pfarrer die Bibel auch so auslege. Da musste er schmunzeln und zugeben, dass der Pfarrer die Bibel ganz anders zitiere, gar nicht im Sinn der Rechtfertigung von Rachegelüsten.
Diese Ratschläge tönen einfach und ungeschulte Beobachter meinen, ein solches Gespräch sei ganz natürlich – fast ohne Nachfragen – abgelaufen. Jedoch ist die Anwendung der Techniken hohe Schule und will geübt sein. Emotional ist es ungewohnt, ganz beim andern Menschen zu bleiben, die eigene Untätigkeit auszuhalten und nicht sofort zu Ratschlägen und Beurteilungen zu springen. Das professionelle Zuhören verschafft dem Klienten Raum zum Beruhigen und Nachdenken.
Dummen Ideen oder aggressiven Emotionen zuhören
Nicht alles, was «dumm» oder «böse» wirkt, ist es auch. Im fachlichen Gespräch wird man herauszufinden versuchen, was sich hinter dem vordergründigen Phänomen versteckt. Hinter der Wut kann beispielsweise bei Scheidungen enttäuschte Liebe stehen. Wer die Aggression des anderen sofort zensurieren will, unterdrückt auch dessen Liebes- und Konfliktlösungsfähigkeit, bringt ihn also kein Jota vorwärts.
Im Alltag ist man versucht, tatsächlich oder vermeintlich dumme Ideen oder aggressive Emotionen des Gegenübers vehement zu bekämpfen. Das ist ein klassischer Fehler beim Zuhören. Das Abklemmenwollen solcher Themen hilft oft gar nicht, es verrät aber einen Mangel an Vertrauen in die Selbstkontrolle des Gesprächspartners. Dies wirkt erwiesenermassen kontraproduktiv. Baumeister, Masicampo und De Wall konnten mit einem klug ausgedachten Experiment zeigen, dass das Vertrauen in ihre Steuerungsfähigkeit die Menschen darin stärkt.8 Hilfreich ist es, solche Projekte in allen Varianten zu Ende denken zu lassen. Dabei soll man anmerken, dass man wohl wisse, dass der Klient diese niemals direkt umsetzen würde, sondern dass er ein freies Brainstorming machen möchte. Dadurch wird die Moral des Klienten gestärkt und zugleich das Vertrauen zwischen Anwalt und Klient. Man erhält zudem weitere Einsichten und der Klient ist vor dem Ausagieren allfälliger Dummheiten gewarnt worden.
Aus psychologischer Sicht verhindert eine vorschnelle Zensur der untauglichen Ideen, dass sich später gute Ideen entwickeln können. Man darf aber darauf aufmerksam machen, dass die Kunst des Sichwehrens darin besteht, dass man dosiert und sehr vorsichtig vorgeht, dass man Misserfolge einstecken kann, nicht gleichzeitig mehrere Kampffronten eröffnet und die Zahl der Angegriffenen möglichst klein hält. In der Diskussion über die Umsetzbarkeit solcher Ideen führt man am besten Beispiele ähnlicher Szenarien aus der Zeitung und dem Leben an und vertraut darauf, dass die Betroffenen selber kreative Wege im Umgang mit ihren Aggressionen oder «dummen» Ideen finden werden. Das Erzählen von ähnlich gelagerten Beispielen ist manchmal hilfreicher als akademische Ausführungen, denn es zeigt auf, wie das Recht – im Zusammenspiel mit den Medien – in der Praxis mit allen Nebenwirkungen funktioniert.
Bei zuverlässigen Klienten kann das Ausführen aggressiver Ideen als schriftliche Hausaufgabe geschehen. Dazu ein Beispiel: Eine behinderte Frau, die mit diversen Tricks um ihr väterliches Erbe geprellt worden war, wollte der zweiten Ehefrau ihres Vaters, die sie dafür verantwortlich machte, einmal einen «Hassbrief» schreiben, um ihr so richtig die Kappe zu waschen. So empfahl die Schreibende, den Brief ungefiltert zu Papier zu bringen, ohne ihn abzuschicken. Danach könne man entscheiden, ob und was davon eventuell geschrieben werden könnte. Der fertige «Hassbrief» stellte sich als überhaupt nicht extrem heraus, sondern er enthielt viele berechtigte Punkte der Enttäuschung, die die Frau ohne weiteres hätte kommunizieren dürfen. Sie fand dann allerdings, sie müsse es gar nicht mehr.
Die Sicht der Gegenpartei ausloten
Wir alle neigen zur Klage: «Die Welt ist böse und ich bin das Opfer!» Wie kann man jemanden aus dieser Sackgasse befreien? Hier empfehlen sich wieder die zirkulären Fragen. Man gebe als Aufgabe, die Situation aus der Perspektive der Prozessgegner zu schildern, indem man etwa fragt: «Wenn jetzt Ihr Arbeitgeber hier sässe, was würde er über Sie, über Ihre Leistung, über Ihren Teamgeist und über den aktuellen Konflikt sagen?» Weiter kann man als Hausaufgabe geben, dass der Klient quasi gegen sich selbst argumentiert und ermittelt. Er soll sich möglichst umfassend darüber klar werden, wo seine eigenen Fehler und Schwachpunkte liegen. Je besser ihm dies gelingt, desto besser kann der Anwalt seine Strategie gestalten, desto mehr ist man nachher vor unliebsamen Überraschungen gefeit.
Dieser Teil der Betreuung dient neben der Faktengewinnung dazu, die psychische Prozesstauglichkeit des Mandanten abzuklären.9
Entscheidungsfindung unterstützen
Das Motivational Interview wurde von den Psychologen William Miller und Stephen Rollnick für die ärztliche Sprechstunde entwickelt und eignet sich sehr für die Anwaltspraxis.10 Man hat nämlich festgestellt, dass gute Ratschläge und Warnungen vor gesundheitlichen Folgen bei Patienten die nötigen Verhaltensänderungen häufig nicht in Gang bringen. Mit einer Technik des Abwägens von Vor- und Nachteilen werden Widerstand und Ambivalenz des Klienten zuerst anerkannt und stehen gelassen. Sie sind normale Phasen vor jeder Verhaltensänderung. Ein Klient kann nicht einfach mit Appellen an die Vernunft überredet werden.
Geht es beispielsweise darum abzuwägen, ob der Klient vom Schweigerecht Gebrauch machen solle oder besser vom Geständnisbonus, fragt man, ob man den inneren Zwiespalt zusammen näher anschauen wolle – ohne über den eigentlichen Sachverhalt zu reden. Hingegen kann man über Risiken und Chancen aufklären, die mit beiden Strategien verbunden sind. Das Hin und Her kann eine Weile dauern, lohnt sich aber, wenn es sich um einen wichtigen Fall handelt. In Pro-kontra-Erwägungen bei Opfern und Zeugen, die verängstigt sind oder bedroht wurden, kann man im richtigen Moment darüber informieren, dass sich das Risiko von Repressalien der Täterschaft mit «genagelter» Aussage in der Konfrontationseinvernahme sehr stark verringert, wohingegen ein einsamer Geheimnisträger für die Täterschaft eine dauernde Bedrohung darstellt. In der Schweiz gibt es jährlich Abertausende von Verfahren. Wie man aus der kriminologischen Literatur weiss, sind Einschüchterungsversuche gegen Opfer, Zeugen und Mittäter in Strafverfahren recht verbreitet. Gemäss dem British Crime Survey wurden 15 Prozent der Zeugen, die Kenntnisse über die Täterschaft hatten, bedroht11 (zu drei Vierteln vom Beschuldigten selbst und zu einem Viertel von dessen Umfeld). Zeugenmord ist hingegen hierzulande – anders als im Krimi – nahezu inexistent, etwa gleich wahrscheinlich, wie an diesem Tag unter das Tram zu kommen, wenn man am Morgen zum Haus hinausgeht.
Diskussion der Fehler des Klienten
Niemand spricht gern über seine Fehler, lieber sucht man diese bei den anderen. In der Anwaltspraxis ist jedoch oft genau das nötig, um den optimalen Erfolg zu erreichen – zumindest im Zivilrecht.
Doch was ist der optimale Erfolg? Ist das beste Ergebnis, unter allen Umständen rechtlich zu obsiegen oder die Gegenpartei zum Schweigen zu bringen? Aus psychologischer Sicht gäbe es dazu einiges zu sagen, denn der langfristig optimale Ausgang eines Konflikts ist nicht notwendigerweise der, den sich der Klient am Anfang der Beratung explizit wünscht.
Hilfreich für das Gespräch mit dem Klienten, der sich in ein faktenwidriges Gespinst verrannt hat oder der ganz offensichtlich schuldig respektive verantwortlich ist, ist die philosophische Frage von Blaise Pascal: Qui suis-je, d’où viens-je, où vais-je? Dazu gehört es zu fragen, ob der Klient den Vorteil des Abstreitens in Kauf nimmt für den Nachteil der quälenden Befürchtungen, dass sein dunkles Geheimnis entdeckt und er blossgestellt werde – Ängste, die nicht selten in eine chronische Belastungsstörung münden.
Aus psychologischer Sicht möchte ich ein Wort zum Thema Verzeihen anfügen. Verzeihen ist das Privileg und das Fernziel derjenigen, die von einem Unrecht betroffen sind. Man kann es nur geschehen lassen, man darf es nicht einfordern oder gar für sich selbst als Nichtbetroffener usurpieren. Man kann den Weg zum Verzeihen aber ebnen, indem man ein Unrecht nicht leugnet, nicht einfach wegschaut und mithilft, den Konsequenzen davon zu begegnen.
Der informierte Klient
Gebildete Klienten haben sich ausgiebig mit der Ratgeberliteratur über ihre rechtliche Lage kundig gemacht. Einerseits bieten sie eine gewisse Gewähr dafür, dass sie intelligent an die Sache herangehen wollen und ein gewisses Grundverständnis dafür aufbringen, dass es im landläufigen Sinn keine «Gerechtigkeit» geben kann. Man kann ihnen gut erklären, dass das Recht nur einen Kompromiss darstellt, der oft nicht den vollkommen gerechten Ausgleich zwischen den Parteien anstrebt, sondern einfach eine Ordnung in der Gesellschaft herstellen will und dabei die Benachteiligung gewisser Personen respektive Situationen in Kauf nimmt.
Selbst diese Klienten stolpern über Klippen: Einerseits ist es ohne Kenntnis der Grundprinzipien und der Kommentare kaum möglich, Gesetzestexte adäquat auszulegen, andererseits muss man die Rechtspraxis kennen, das heisst die Möglichkeiten des Prozessgegners, die Grenzen des Rechts auszureizen und eventuell mit Tricks zu umgehen. Der informierte Klient gibt sich oft nicht damit zufrieden, dass sein Anwalt von etwas abrät. Er will genau wissen, warum die Idee nicht umsetzbar ist – das weiss die Schreibende aus eigener Erfahrung als Klientin. Da ist es durchaus angebracht, aus der Gerichtspraxis zu erzählen und von den vielen Möglichkeiten des Scheiterns und des Sichverrennens. Im Extremfall muss man auf die Konsequenzen eines verlorenen langjährigen Rechtsstreits aufmerksam machen, der zum Ruin der Finanzen und der Gesundheit führen kann. Arbeitsersparend ist es, solchen Klienten weitere Literatur zur Lektüre anzubieten, etwa die Publikationen von Brückner, Petermann oder Hafter, in denen die sozialen und psychologischen Mechanismen von Gerichtsprozessen sowie taktische Ratschläge anschaulich dargelegt werden.12, 13, 14 Der Klient kann dann die Vorschläge seines Anwalts besser verstehen.
Starke Persönlichkeiten konfrontieren
Wer kennt nicht die «starken» Persönlichkeiten, die keinerlei Schwächen oder Fehler zugeben und rigide an ihrer Darstellung festhalten? Ein ungeschminktes Vorhalten aller Ungereimtheiten wird von ihnen als massiver Angriff auf ihr – letztlich fragiles – Selbstwertgefühl verstanden. Der Vorhalt «jetzt müssen wir einmal Klartext reden» bewirkt nur einen Wutausbruch und den Abbruch der Beziehung, das heisst das Ende des Mandats. Wie soll man hier vorgehen? Hier ist verbales «Aikido» nach Elgin angesagt, indem man sich selbst die Rolle des Angreifers auf das Ehrgefühl des Klienten herausnimmt.15 Man kann den Advocatus Diaboli spielen oder man kann anführen, man wisse aus Erfahrung, wie die Medien oder die Gegenpartei den Sachverhalt auslegen und zuspitzen können, was dann in eine ganz andere Richtung gehe, als es dem Klienten dienlich sei. Aus dieser «ganz anderen» Perspektive könnten die Argumente des Klienten als Ausweichen, Vertuschen oder Verwedeln interpretiert werden – was in casu genauer auszuarbeiten ist.
Eine ungünstige Rezeption der Argumente des Klienten würde nun erfahrungsgemäss den «Jagdtrieb» der Gegenpartei oder den der Medien nur noch mehr erhöhen. Wenn gewisse Fakten gegen seine Argumente sprechen, riskierte der Klient unter Umständen, mit dem L-Wort behandelt zu werden, sprich: Man unterstellt ihm öffentlich, dass er lüge. Sodann kann man den Klienten anregen, bessere Argumente zu finden oder «sogar» in Betracht zu ziehen, gewisse Eingeständnisse zu machen.
Traumatisierte Klienten
Einige Klienten haben Schweres erlebt und brauchen deshalb rechtliche Hilfe. Manchmal begegnet man der Meinung, wer ein Trauma erlebt habe, solle es «möglichst vergessen, um darüber hinwegzukommen». In Wirklichkeit gibt es zwar tatsächlich Leute, die gern vergessen wollen, es gibt aber keine Studien, die belegen könnten, dass dies langfristig wirklich gut für sie sei. Empirisch viel besser belegt ist hingegen das umgekehrte Szenario. Forschungen über die Kommunikation von medizinischen Zwischenfällen, welche in Leape et al. zusammengefasst sind, belegen, dass der Wunsch nach restloser Aufklärung bei nahezu allen betroffenen Patienten vorhanden ist.16
Der langfristig stark gesundheitsschädigende Effekt von Redeverboten, Verleugnen, Schönreden und Verharmlosen ist übrigens wissenschaftlich erwiesen. Es gibt eine ausgezeichnete Studie über das Bewahrenmüssen von Geheimnissen im militärischen Bereich – aus den Senfgasversuchen an amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Schnurr et al. stellten fest, dass das Schweigenmüssen die Rate an posttraumatischen Belastungssyndromen stark erhöhte (auf 80 Prozent), welche dann ihrerseits mit einem zwei- bis fünffach erhöhten Risiko einhergingen, dass die Betroffenen im späteren Leben an Herzkreislaufkrankheiten, Krebs und Lungenkrankheiten erkrankten – im Vergleich zu andern Personen, welche dieselben Geheimnisse kannten, aber keiner Schweigepflicht unterstellt waren und daher seltener traumatisiert wurden.17
Traumata hinterlassen nicht generell eine lebenslange psychische Störung, aber sie verändern die Person und ihre Lebensziele.18 Die Forschung spricht vom posttraumatischen Wachstum. Langfristig finden viele Menschen den Sinn schwerwiegender Erlebnisse darin, zugunsten der Aufklärung oder zum Schutz anderer aktiv zu werden. Doch ist das nicht ohne rechtliche Tücken, denn die Gegenseite will ja die Aufklärung partout verhindern. Hier kann der Anwalt helfen, Ziele realistisch zu gestalten und gesetzeskonform umzusetzen, damit der Klient wieder zum Gefühl von Selbstwirksamkeit zurückfinden kann.
Betroffene können dank posttraumatischem Wachstum mit gewissen belastenden Situationen besser umgehen als andere Menschen. Beispielsweise verdankt man es dem Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer (1903 – 1968), dass zwischen 1950 und 1970 einige der schrecklichsten nationalsozialistischen Verbrecher – u. a. Ärzte – überhaupt vor Gericht kamen und ihre Taten aufgeklärt wurden. Die Anklagen waren nur dank grösster Hartnäckigkeit und Umsicht möglich, denn die Seilschaften des Dritten Reichs waren unter Ärzten und Juristen der damaligen BRD überall präsent. Bauer war 1933 als Jude und Sozialdemokrat selbst acht Monate im KZ interniert gewesen, dann gelang es ihm, nach Schweden zu flüchten. Das Aufdecken und Verändern von gesellschaftlichen Missständen und Ungleichgewichten wird oft erst durch Betroffene in Gang gebracht.
Schwierige und chronische Klienten
Chronische Klienten und Querulanten sind oft persönlichkeitsgestört. Es nützt nichts, ihnen ihr unmögliches Verhalten vorzuwerfen, das lässt die Situation nur eskalieren.
Besser versucht man, den Klienten subtil darauf hinzuführen, dass er an sich selbst leidet, indem man sagt: «Sie haben jetzt geschildert, was mit Ihrem Chef alles nicht in Ordnung war. Chefs sind oft nicht ideal. So ist das Leben: Man muss hart im Nehmen sein. Meine Frage an Sie ist: Warum können Sie das nicht ertragen?» Dann kommt zum Beispiel die Antwort: «Ich lasse mir nicht alles bieten, nicht mit mir!» Der Anwalt könnte darauf entgegnen: «Es kommen offenbar bei Ihnen Gefühle auf, die fast nicht zum Aushalten sind. Vielleicht gehen Ihnen in solchen Situationen bestimmte Gedanken durch den Kopf?» Hier könnte man wieder eine Zielbestimmung machen, was möchte der Klient in seinem Leben erreichen, wohin will er und was hält ihn davon ab. Die realistischen Ziele soll man ab und zu ins Spiel bringen.
Eine weitere Methode für den Umgang mit Klienten, die in destruktiven Kreisläufen gefangen sind, nennt sich provokative Therapie.19 Mit Ironie und Humor verteidigt man aktiv die Störung. Bei einer Prostituierten sagte der Therapeut en passant: «Es ist in der Tat überhaupt nicht einzusehen, wieso Sie für 3000 Franken im Monat als Verkäuferin arbeiten sollten, wenn Sie dieses Geld mit dem Escortservice locker in drei Tagen hereinholen.» Das bewirkte, dass die überraschte Patientin von sich aus auf die Nachteile ihrer Lebensführung zu sprechen kam. Sie könnte aber auch mit Gegenironie reagieren: «Das stellen Sie sich aber viel zu einfach vor, ich möchte Sie mal sehen, wenn Sie meinen Job machen müssten.» Dann bleibt man – anders als beim privaten Witzchen – standhaft und sagt: «Trotzdem, ich denke, es hat gute Gründe, wieso Sie beim Escort bleiben möchten.» Selbstredend soll diese Technik vorsichtig geübt und massvoll eingesetzt werden, immer nach Paracelsus’ Regel (1538): «Allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.»
Für das langfristige Management von schwierigen Klienten möchte ich vorschlagen, neue Wege zu gehen, um die Belastungsfähigkeit der Klienten zu erhöhen: Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen – zum Beispiel des österreichischen Psychologen und Neurowissenschafters Niels Birbaumer20 – belegen die Wirksamkeit von Neurofeedback und Biofeedback zur Leistungssteigerung und zur grösseren Stressresistenz. Auch bei Persönlichkeitsstörungen – selbst bei Dissozialen nach Surmeli und Ertem21, bei schwer traumatisierten Personen, bei Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität und bei Suchtkranken helfen diese Methoden und lassen die Therapierten ausgeglichener und konzentrierter werden. Sie stellen zudem minimale Anforderungen an die Compliance des Patienten, er muss nur kommen, sich die Elektroden befestigen lassen und eine Stunde lang Filme anschauen. Dafür spürt er schon nach etwa fünf Sitzungen einen angenehmen entspannenden Effekt. Leider sind diese neuen Methoden noch wenig bekannt, weil keine mächtige Lobby dahintersteht.
Die verlorene Sache
In der verlorenen Sache gilt es, die Sunk-costs-Falle zu vermeiden. Wer schon sehr viel in etwas investiert hat, hat oft Mühe aufzugeben und riskiert unnötige weitere Verluste. Doch: Wie sage ich es meinem Kind? Die direkte Konfrontation mit der tatsächlich oder vermeintlich verlorenen Sache ist brutal und manchmal unwirksam.
Hilfreicher ist es, Klienten aufzufordern, selber mit einer Tabelle eine Bilanz zu erstellen, ähnlich wie in der Buchhaltung. Was haben bisherige Anstrengungen gebracht, was hat genützt, was hat nichts genützt und was waren die Kosten dafür? Was wären die Aussichten weiterer Aktionen, wenn man mögliche Gewinne und Verluste nebeneinander stellt und versucht, ihre Eintretenswahrscheinlichkeiten zu beziffern? Diese vom Klienten erstellte Tabelle kann durch den Anwalt mit fachlichen Informationen ergänzt werden.
Eigene berufliche Prägung bedenken
Es lohnt sich, sich der Prägung durch die eigene Berufserfahrung gewahr zu werden, die nicht in jedem Kontext das optimale Wissen oder den optimalen Diskurs liefert. In allen Berufsgruppen hat nämlich die Klientel statistisch gesehen spezielle Züge. Um ein Beispiel zu nehmen: Die psychischen Auswirkungen eines Konflikts sind juristisch kaum zu erfassen. So werden Klienten, die sich zur Klärung symbolischer psychologischer Konflikte an juristische Instanzen wenden, dort ungern gesehen und es handelt sich wohl um eine besondere Auswahl. Daher haben viele Juristen ein spezielles Bild solcher Leute – besonders wenn sie «bis nach Strassburg» gehen wollen. Das bedeutet nun aber nicht, dass jeder Klient, der über eine psychische Verletzung unglücklich ist, a priori schon in die Kategorie der mühsamen Querulanten gehört, wenn er sich brieflich an die zuständigen Instanzen wendet. Gut ist es hingegen, seine Berufserfahrung explizit ins Gespräch einzubringen, indem man sagt: «Als Anwalt sehe ich viele Menschen, die…»
Als Schlusswort möchte ich anführen, dass die Welt auch im Kleinen manchmal dringlichen Verbesserungsbedarf aufweist, sonst werden aus kleinen Problemen grosse. Kritik im zivilen Leben muss möglich sein und es sollen Wege der Klärung und Versöhnung von Konflikten beschritten werden, allerdings auf eine sozial akzeptierbare Art.
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