Am 16. März 2015 wurde Mohamed Wa Baile mit 100 Franken gebüsst, weil er sich weigerte, einer polizeilichen Anordnung Folge zu leisten und sich auszuweisen.1 Die Kontrolle wurde im Polizeirapport wie folgt begründet: «Anlässlich der Patrouillentätigkeit […] fiel Schreibendem eine dunkelhäutige, männliche Person verdächtig auf. Dies aufgrund des Verhaltens der Person (M. Wa Baile wandte seinen Blick von mir ab, als er mich als Polizeibeamten erkannte und an mir vorbeigehen wollte). Da sich der Verdacht auf ein AuG-Delikt aufdrängte, entschloss ich mich, M. Wa Baile einer Personenkontrolle zu unterziehen.» Das Bezirksgericht Zürich bestätigte die Busse am 7. November 2016.2 Der Beschuldigte hat Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, dass seine Weigerung sich auszuweisen gerechtfertigt war. Er argumentiert, dass der Anlass der Polizeikontrolle das Diskriminierungsverbot verletze, daher an einem schwerwiegenden inhaltlichen Mangel leide und die Kontrolle deshalb nichtig sei.
Immer wieder geraten Menschen, die aufgrund ihres Erscheinungsbildes von den Polizisten als «fremd» bzw. ethnisch oder religiös «anders» wahrgenommen werden, in Polizeikontrollen. Dies belegen aktuelle Forschungsergebnisse und verschiedene Berichte von Nichtregierungsorganisationen, Ombudsstellen und den Kontrollierten selber.3 Vor allem Schwarze4 Menschen, Personen nordafrikanischer Herkunft, Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten, aber auch Menschen aus Südosteuropa sowie Jenische, Roma, Sinti und Manouches erfahren aktuell deutlich häufiger Polizeikontrollen als Menschen, die dem Stereotyp eines «autochthonen sesshaften Westeuropäers» entsprechen.5
Rechtswidrig ist ein polizeiliches «Profiling» dann, wenn die äussere Erscheinung wie die Hautfarbe, der als «fremd» zugeschriebene Phänotyp oder die mutmassliche Zugehörigkeit zu einer Religion ein mitentscheidendes Kriterium für eine polizeiliche Massnahme darstellt.6 Ausgenommen davon sind Kontrollen, die basierend auf einem bestimmten Täterprofil und in Bezug auf ein strafrechtlich relevantes Ereignis durchgeführt werden. So ist es etwa unproblematisch, nach einem Einbruchdiebstahl und bei entsprechenden Zeugenaussagen nach einer «gross gewachsenen Person mit asiatischem Erscheinungsbild» zu fahnden und dem Profil entsprechende Personen zu kontrollieren. Bei anderen polizeilichen Massnahmen muss die klärende Frage hingegen immer lauten: Würde der Polizeibeamte dieselbe Personenkontrolle auch bei einer «weissen» Person durchführen?
Im geschilderten Fall Wa Baile hat der Polizist im Rahmen seiner Einvernahme durch das Stadtrichteramt nicht erklärt, worin das spezifisch Verdächtige im Abwenden des Blickes bestanden habe und ob das auch einen Mann «westeuropäischer Erscheinung» im ähnlichen Lebensalter verdächtig gemacht hätte. Damit bleibt unter dem Strich der diskriminierende Passus «dunkelhäutige, männliche Person verdächtig» aus dem Polizeirapport. Dieses Bedenken wurde im laufenden Verfahren von Seiten der Polizei nicht entkräftet, weshalb vorliegend die polizeiliche Vorgehensweise «Racial Profiling» bzw. «rassistisches Profiling»7 darstellt.8 Mangels qualifizierter Rechtfertigung ist dieses rechtswidrig.
Auswirkungen auf Betroffene und Gesellschaft
Rassistisch diskriminierende Polizeikontrollen werden von der Polizeiführung höchstens als Ergebnis einer falschen individuellen Einstellung oder unbewusster Vorurteile beim einzelnen Polizisten aufgefasst, v.a. im Zusammenhang mit jungen Polizeibeamten, denen es an Erfahrung fehle.9
Demgegenüber belegen zahlreiche Erfahrungsberichte von kontrollierten Personen sowie eine aktuelle Untersuchung der «Kollaborativen Forschungsgruppe Racial Profiling», einem Forschungsteam aus Wissenschaftlern, Aktivisten und Betroffenen diskriminierender Kontrollen,10 dass diskriminierende Polizeikontrollen weiter verbreitet sind als gemeinhin angenommen und nicht als Ausnahmeerscheinung eines individuellen Einstellungs- und Verhaltensproblems bagatellisiert werden können. Besonders relevant sind sie in Bezug auf junge Schwarze Männer in Situationen, in denen aufgrund der Hautfarbe von einem Aufenthalt ohne Anwesenheitsrecht oder Drogenhandel ausgegangen wird. Ebenfalls betroffen sind aufgrund des Erscheinungsbildes als «fremd» wahrgenommene Frauen, welche an Orten der Strassensexarbeit ohne konkreten Hinweis hinsichtlich einer Bewilligung für das Sexgewerbe kontrolliert werden. Fahrende Jenische, Sinti, Manouches und Roma erleben zudem auf Durchgangsplätzen tagtäglich polizeirechtlich begründetes Racial Profiling.11
Bei den Kontrollierten bewirken die Personenkontrollen Gefühle von Erniedrigung, Scham, Selbstzweifel, Angst und Wut. Sie hinterlassen die Menschen oft ohnmächtig, was zu Hilf- und Sprachlosigkeit bis zu körperlichen Reaktionen wie Zittern führen kann. Die Betroffenen fühlen sich zu Menschen zweiter Klasse degradiert und öffentlich zur Schau gestellt, besonders bei respektloser Behandlung. Auch von aussen vielleicht harmlos erscheinende Kontrollen werden zum Teil als einschneidende Erfahrungen geschildert, die mitunter körperlich und psychisch krank machen, vor allem wenn sie wiederholt stattfinden.
Als problematisch empfunden wird zudem die Reaktion von Dritten: Beobachter werden oft als teilnahmslos und ihre Blicke als irritierend und verurteilend erlebt. Nur selten würden umstehende Personen intervenieren, was den Kontrollierten ein Stück Sicherheit zurückgeben würde.12 Immer wieder werden Erfahrungen mit beleidigenden, unangemessenen und rassistischen Bemerkungen geschildert. Einzelne Interviewte sehen in den rassistischen Kontrollen Defizite in der Führungskultur der Polizei. Daher erstaune es nicht, so sinngemäss die Erklärung von Kontrollierten, dass die Polizisten meist nicht über Kompetenzen in der Selbstreflexion eigener rassistischer Muster verfügten. Wenn sich die Kontrollierten zur Wehr setzen und nach den Gründen für die Kontrolle fragen, reagieren die Polizisten laut den Schilderungen häufig mit Abwehr.13 Beobachter bestätigen, dass Polizisten auf kritische Fragen aggressiv und unprofessionell reagieren. Statt sich dem Rassismusvorwurf selbstkritisch zu stellen, würden sie deklarieren, dass sie keine Rassisten seien.
Nebst individuellen Diskriminierungserfahrungen verletzt Racial Profiling die kollektive Würde ganzer Gruppen, zementiert Stereotype und fördert eine fremdenfeindliche Stimmung. Durch die Kontrollen stehen die Betroffenen öffentlich und für die ganze Umgebung sichtbar als Kriminelle oder illegale Einwanderer da. Rassistische Polizeikontrollen belasten das Verhältnis der Polizei zu den betroffenen Minderheiten, indem sie Misstrauen schüren und im Kontakt Unsicherheiten und Missverständnisse schaffen. Die Bereitschaft in der Gesellschaft nimmt ab, im Bedarfsfall selber polizeiliche Dienste in Anspruch zu nehmen oder bei der Aufklärung von Straftaten behilflich zu sein.14
Der fehlende Wille innerhalb der Polizeikorps, sich ernsthaft mit den glaubhaft ausgewiesenen Auswirkungen von rassistischen Personenkontrollen auseinanderzusetzen, ist höchst problematisch. Werden Erfahrungen rassistischen Profilings verharmlost oder als rein subjektive Wahrnehmung abgestempelt, besteht die Gefahr, dass Rassismus in Polizeikorps und Gesellschaft bekräftigt wird.
Rechtfertigung des Vorgehens
Die Frage der Rechtfertigung von Racial Profiling wird im Folgenden am Beispiel des Verdachts auf «illegalen Aufenthalt» untersucht. Die Begrenzung irregulärer Zuwanderung ist ein völkerrechtlich legitimes Interesse nationalstaatlicher Verfassung. Gemäss Art. 121a BV steuert die Schweiz die Zuwanderung eigenständig. Nach Art. 9 des Ausländergesetzes (AuG) üben die Kantone auf ihrem Hoheitsgebiet die Personenkontrolle im Rahmen der Grenzkontrolle aus. Die Fahndung nach Personen, die sich ohne Anwesenheitsrecht in der Schweiz aufhalten, gehört zum gesetzlichen Aufgabenbereich der kantonalen Polizeikorps sowie des Grenzwachtkorps. Weil polizeiliche Personenkontrollen aber immer einen Grundrechtseingriff darstellen – betroffen sind einerseits die Achtung des Privatlebens nach Art. 13 BV sowie das Recht auf Bewegungsfreiheit gemäss Art. 10 Abs. 2 BV –, muss eine Personenkontrolle im Einzelfall gerechtfertigt sein.
Zulässig ist eine Personenkontrolle unter den Voraussetzungen, dass sie geeignet und erforderlich ist, um die illegale (präziser: illegalisierte) Zuwanderung zu bekämpfen, und andererseits für die betroffenen Personen eine zumutbare Grundrechtseinschränkung darstellt. Weil sich der Aufenthalt in der Regel nicht durch genauer bestimmbare Verhaltensweisen offenbart, geraten faktisch vorwiegend «ausländisch aussehende» Menschen nichtwestlicher Erscheinung ins Visier der Polizei. Es sind also körperliche Merkmale und die damit verbundene Zuschreibung des «illegalen Aufenthalts», die für eine Personenkontrolle ausschlaggebend sind.
Ob solche Kontrollen «ausländisch» erscheinender Menschen zur Bekämpfung der illegalen/illegalisierten Einwanderung geeignet sind, ist fragwürdig. Die stereotypen Erscheinungsprofile von «ansässigen Einheimischen» und «Fremden» stimmen immer weniger mit der postmigrantischen15 Realität unseres Landes überein. Die Schweizer Gesellschaft hat sich durch die Migration längst verändert. Immer mehr Menschen leben hier und gestalten die Gesellschaft mit, obwohl ihre Vorfahren und sie selbst nicht so aussehen, wie sich viele «typische Schweizer» vorstellen. Ausserdem halten sich die meisten Ausländer mit Anwesenheitsrecht in der Schweiz auf.
Selbst wenn man Racial Profiling als geeignet und erforderlich zur Bekämpfung illegaler/illegalisierter Einwanderung betrachten würde: Zumutbar und damit verhältnismässig im engeren Sinne ist es nicht. Einerseits dienen Kontrollen wegen Verdachts auf illegalen/illegalisierten Aufenthalt nicht dem Schutz hochwertiger Verfassungsgüter wie Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit oder persönliche Freiheit (Art. 10 BV). Andererseits ist die Eingriffsintensität für die betroffenen Personen als besonders hoch einzustufen, weil die Kontrollen in keiner Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten stehen.
Die negativen individuellen und gesellschaftlichen Folgen – namentlich Zementierung von strukturellem Rassismus – wiegen weitaus schwerer als die kaum effektive, auf willkürliche Erfahrungswerte abgestützte Kontrolle aufgrund des «ausländischen» Erscheinungsbildes. Demnach dürfen sich ausländerrechtliche Kontrollen nicht auf die äussere Erscheinung stützen, sondern müssen stets mit dem individuellen Verhalten begründet sein. Eine Anknüpfung an die Hautfarbe oder fremdethnische Erscheinungen stellt somit einen Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 8 BV dar, welches besagt, dass niemand aufgrund der Herkunft oder der Rasse diskriminiert werden darf. Der Uno-Menschenrechtsausschuss hält in seiner Entscheidung Lecraft gegen Spanien fest, dass körperliche oder ethnische Merkmale niemals als Verdachtsmoment für ein fehlendes Aufenthaltsrecht herangezogen werden dürfen.16
Problematisch sind Kontrollen dunkelhäutiger und nordafrikanisch aussehender Männer in Schweizer Zügen, welche zusätzlich zum Diskriminierungsverbot auch im Hinblick auf die Schweizer Verpflichtungen im Rahmen des Schengener Grenzkodex fraglich sind. Betroffen sind Züge, die zum Beispiel bei Chiasso/Como über die Grenze fahren, ebenso wie solche, die eine Anbindung an grenzüberschreitende Züge ermöglichen. Ins Inland verlagerte Grenzkontrollen hatte die Schweiz mit dem Schengen-Beitritt 2008 als Ersatzmassnahme für den Abbau der Binnengrenzen eingeführt. Die rechtlichen Grundlagen (Art. 100 ff. Zollgesetz bzw. Art. 224 ff. der Zollverordnung) enthalten allerdings keine Anhaltspunkte und Kriterien für die Durchführung von Personenkontrollen. Diese fehlende Bestimmtheit ist gemäss Schengener Grenzkodex rechtlich heikel: So hatte der Europäische Gerichtshof im Melki-Urteil vom 22. Juni 2010 festgehalten, dass nationale Regelungen, welche die Polizei – ausdrücklich, faktisch oder auch «versteckt» – zu Personenkontrollen zum Zweck der Migrationskontrolle ermächtigen, rechtsstaatliche Anforderungen der Normenklarheit und Bestimmtheit erfüllen müssen, um willkürliche Kontrollen zu vermeiden.
Struktureller Rassismus
Neben den Regelungen im Ausländer- und Zollrecht bildet auch das Strafrecht Teil der strukturellen Mängel im geltenden Recht, die rassistisches Profiling befördern. Die Strafprozessordnung macht keine genügend präzisen Vorgaben zu Inhalt, Zweck und Grenzen von Personenkontrollen. Gemäss Art. 215 StPO ist für eine Anhaltung kein konkreter Strafverdacht vorausgesetzt. Es genügt, dass ein Zusammenhang der betreffenden Person mit Delikten als möglich erscheint. Als Kriterien nennt das Bundesgericht «objektive Gründe, besondere Umstände, spezielle Verdachtselemente» wie die «Anwesenheit in der Nähe eines Tatorts, eine Ähnlichkeit mit einer gesuchten Person, Verdachtselemente hinsichtlich einer Straftat und dergleichen».17 Dieser Kreis möglicherweise betroffener Personen ist demnach angesichts der fehlenden – oder kaum vorhandenen – Eingriffsschwelle sehr weit gezogen. Die Grenze findet sich erst in beliebigen und schikanösen Kontrollen. Je weitreichender polizeiliche Befugnisse sind, je unpräziser sie ausgestaltet sind, desto grösser ist die Gefahr willkürlichen polizeilichen Handelns.
Der letztlich entscheidende Risikofaktor für diskriminierende Polizeikontrollen bildet der strukturelle Rassismus:18 Gesellschaftlich verankerte rassistische Bilder prägen auch Mitarbeiter der Polizei. Die historisch gewachsene Vorstellung der «Überlegenheit einer europäischen, christlichen Kultur», die sich im Kolonialismus und transatlantischen Sklavenhandel verfestigte, führte zu unterschiedlichsten rassistischen Mythenbildungen, die bis heute wirksam sind. Typisch sind etwa die Narrative eines «unterlegenen, unzivilisierten Schwarzafrika», antimuslimisch rassistische Zuschreibungen rund um das Grundmuster eines «patriarchalen, gewaltförmigen Orients» sowie antiziganistische Stereotype, die «eigene» Fahrende wie Jenische zur Sesshaftigkeit zwang und «fremde» Fahrende wie Sinti, Manouches und andere Roma abschob.
Durch die meist unbewusste Vorstellung der Ungleichheit oder Minderwertigkeit dieser Gruppen wird der polizeiliche Zugriff auf die Gruppenangehörigen erleichtert. Dies gilt umso mehr in Zeiten der erhöhten Immigration und der medial angetriebenen Ängste europäischer Gesellschaften vor dem Verlust von Sicherheit und Privilegien. Die Erwartungen der Gesellschaft an die Polizei steigen, den öffentlichen Raum zu disziplinieren, das Ausländer- und Strafrecht durchzusetzen und dabei bestimmte Gruppen verstärkt zu kontrollieren.
Ineffektiver Rechtsschutz
Hinzu kommt, dass die Polizisten nicht mit einer Sanktion für diskriminierendes Handeln rechnen müssen. Disziplinarverfahren werden nur selten eingeleitet. Beschwerden an eine polizeiinterne Anlaufstelle oder informelle Rechtsbehelfe sind nicht bekannt oder werden kaum genutzt, zudem führen sie für die Kontrollierten selten zu einer befriedigenden Lösung. Schliesslich hat der Rechtsweg praktisch keine Bedeutung, denn eine ganze Reihe von prozessualen, ökonomischen und psychologischen Hürden behindern den Zugang zur Justiz:
Straf- und verwaltungsrechtliche Verfahren dauern lange und sind mit hohen Kostenrisiken verbunden.19 Die wenigsten polizeilich Kontrollierten wehren sich, weil sie befürchten, sich dadurch zu stark zu exponieren und schutzlos der Gefahr erneuter Diskriminierung auszusetzen. Es ist für die Polizisten einfach, durch autoritäres Auftreten die kontrollierten Personen davon abzuhalten, etwas gegen das erfahrene Unrecht zu unternehmen. Die meisten Kontrollierten wählen daher eine introvertiert-defensive Taktik.
Wer extrovertiert-offensiv agiert und z. B. kritische Fragen stellt oder sich gegen körperliche Übergriffe zur Wehr setzt, riskiert eine Anzeige wegen Nichtbefolgens polizeilicher Anordnung (Polizeirecht), Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) oder Gewalt und Drohung gegen Beamte (Art. 285 StGB). Wer gegen eine Busse Einsprache erhebt oder gegen die Kontrolle ein verwaltungsrechtliches Verfahren anstrebt, hat eine schwierige Ausgangslage. Wenn das diskriminierende Entscheidungskriterium nicht eindeutig ist und zugegeben wird oder gar mit einer rassistischen Aussage erfolgt, ist die Beweisführung kaum aussichtsreich.
Im Fall von Wa Baile begründete der Polizist den Verdacht auf illegalen Aufenthalt nicht mit einem offen rassistischen Beweggrund, sondern mit dem Abwenden des Blicks, der ihm bei der dunkelhäutigen, männlichen Person verdächtig aufgefallen sei. Das Bezirksgericht Zürich sah darin kein rassistisches Motiv.20 Erfolgt die Kontrolle an neuralgischen Orten und zu Stosszeiten, wie im Fall von Wa Baile am HB Zürich, ist es noch schwieriger, sich auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Denn dies bedeutet, dass das Gericht dem öffentlichen Interesse des Funktionierens staatlicher Autorität eine Grenze setzen müsste, die bei den im Umgang mit Rassismus ungeübten Schweizer Korps und in der Politik auf grossen Widerstand stossen würde.
Entscheidet sich eine Person, sich rechtlich zur Wehr zu setzen, untersuchen im Vorverfahren die Staatsanwaltschaft und die Polizei die Vorwürfe. Das heisst, im Normalfall wird eine Strafanzeige gegen Angehörige der Polizei von Personen und Stellen behandelt, die in ihrem Alltag auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Beschuldigten oder dessen Vorgesetzten angewiesen sind. Häufig sind die Ermittlungen während der Voruntersuchung unzulänglich, weil sich Kollegen gegenseitig schützen und absprechen oder weil die Staatsanwaltschaft nicht konsequent genug ermittelt. Kaum je wird nach dem Vorverfahren überhaupt ein Strafverfahren eingeleitet.21
Der erfahrene Anwalt Bruno Steiner berichtet zudem, dass bei der ersten Einvernahme die Übersetzung häufig von den Beamten selbst gemacht und das Protokoll in Absprache mit den Beteiligten erstellt wird. Ferner würden die gemachten Schilderungen in kritischen Fällen vom polizeiinternen Rechtsdienst überarbeitet. Damit komme der Polizei praktisch die alleinige Definitionsmacht bei der Erstellung des Sachverhalts zu, welcher die Grundlage für das spätere Verfahren bildet. Steiner beruft sich dabei auf den Fall Wilson A., welcher exemplarisch aufzeigt, wie schwierig eine juristische Aufarbeitung von polizeilichem Fehlverhalten ist.
Gemäss der Anklageschrift wurde Wilson A. am 19. Oktober 2009 im Rahmen einer Personenkontrolle von zwei Polizisten und einer Polizistin geschlagen, auf den Boden gedrückt und aus nächster Nähe mit Pfefferspray besprüht. Dies, obwohl er die Polizisten darauf hingewiesen hatte, dass er eine Herzoperation hinter sich hat und sie ihn nicht anfassen sollen. Die Ärzte hielten später fest, dass jede physische Gewalt bei einem herzkranken Patienten wie Wilson A. lebensgefährlich sein könne.
Nur dank der hartnäckigen und akribischen Arbeit seines Anwalts und erst nach mehreren kantonalen und bundesgerichtlichen Urteilen – einerseits zur zweifachen rechtswidrigen Einstellung des Verfahrens, andererseits zur Befangenheit der untersuchenden Staatsanwältin – wird der Fall über sieben Jahre später vor dem Bezirksgericht Zürich verhandelt. In der Regel verfügen Betroffene nicht über die persönlichen und finanziellen Ressourcen, um einen solch aufreibenden Prozess durchzustehen. Die psychischen Belastungen seien zuweilen dramatisch und der effektive Arbeitsaufwand der Rechtsvertretung werde in einem solchen Fall niemals entschädigt, so Bruno Steiner. Zudem seien die Erfolgschancen in der Regel äusserst gering: «Wir kämpfen einen Kampf, in welchem der Klient genau wissen muss, dass er ihn mit aller Wahrscheinlichkeit verlieren wird und er eben gleichwohl zu führen ist.» Da die Erfolgsquote zumeist gegen null läuft und das Verfahren eine weitere Entwürdigung und sekundäre Viktimisierung mit sich bringe, rate er in den meisten Fällen vom Rechtsweg ab.
Im Fall von Wilson A. hat der zuständige Einzelrichter nun in der Verhandlung vom 21. November 2016 die Gefahr für die Justiz erkannt und die Staatsanwaltschaft aufgefordert, die Anklage um den Tatbestand der Gefährdung des Lebens zu ergänzen. Bemerkenswert ist die Begründung des Gerichts: Eine Ergänzung der Anklage sei vor allem in Anbetracht der Tatsache angebracht, dass erstens «Polizisten angeklagt sind» und zweitens «der Privatkläger eine schwarze Hautfarbe hat». Das Interesse der Öffentlichkeit an einer richterlichen Beurteilung, an der Ermittlung der historischen Wahrheit sowie das Interesse an einem fairen Verfahren seien besonders hoch zu gewichten. Letztlich gehe es auch um die Glaubwürdigkeit der Justiz.
Inzwischen hat die Staatsanwältin den Tatbestand um die «Gefährdung des Lebens» erweitert. Dabei hat sie es aber unterlassen, den Strafantrag (bedingte Geldstrafe von 100 Tagessätzen) zu erhöhen. Das erschien auch dem Einzelrichter als tief bemessen. Daher verfügte er am 16. Dezember 2016 die Überweisung an das Kollegialgericht, das im Gegensatz zum Einzelgericht befugt ist, Freiheitsstrafen über zwölf Monaten auszusprechen. Die Gerichtsverhandlung wurde für den 13. Juni 2017 mit dem Reservetermin 15. Juni angesetzt.
Nötige Massnahmen
Die Anerkennung des institutionellen Rassismus durch Verantwortungsträger wird von Fachpersonen als wegweisend betrachtet.22 Dies zeigt etwa der Blick nach Grossbritannien, wo Rassismus in der Polizeiarbeit seit rund zwanzig Jahren problematisiert und von den Regierungsverantwortlichen und der operativen Polizeiführung ernst genommen wird. In einer Rede von 2012 wies die heutige Premierministerin Theresa May auf die negativen Effekte von Racial Profiling hin: «Es handelt sich um eine Verschwendung von polizeilicher Arbeitszeit. Es ist ungerecht, insbesondere gegenüber jungen, schwarzen Männern, und es ist schlecht für das öffentliche Vertrauen in die Polizei.»
Die rechtssoziologische Forschung belegt, dass es unerlässlich ist, das wenig spezifische und von der Polizeiarbeit «ferne» völker- und verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot in polizeirechtlichen Vorschriften und Dienstanweisungen zu konkretisieren.23 Auf diese Weise kann besser gewährleistet werden, dass die Prävention von Racial Profiling in den Leitideen, Routinen, Führungsstilen sowie in der Verteilung der Ressourcen und der Kommunikation der Polizeikorps und des Grenzwachtkorps Bedeutung erlangt. Als Kernstück einer erfolgreichen Polizeireform müssen konkrete Rechtsgrundlagen und Vorschriften geschaffen werden, die die Kriterien für Personenkontrollen genau umschreiben.24 Zusätzlich braucht es Regelungen, welche die Prävention des Racial Profiling in der Organisationsentwicklung, im Ausbildungs- und Personalmanagement, in Inter- und Supervision sowie Dialog und Vertrauensbildung verankern.
Ausserdem ist mittels verbindlicher Vorgaben die Erfassung und Überwachung von Daten zu Personenkontrollen voranzutreiben. Hierfür stellt das Quittungssystem einen zentralen Pfeiler dar. Die Polizisten stellen dabei für jede Personenkontrolle eine Quittung aus, die allgemeine Angaben zur Kontrolle – wie etwa Datum, Zeit, Ort oder über die Durchführung einer Leibesvisitation enthält. Auch sollen die Quittungen Angaben zum kontrollierenden Beamten, zur kontrollierten Person, zum Anlass der Kontrolle festhalten und Auskunft zum Kontrollergebnis geben – also dazu, ob sich der Anfangsverdacht bestätigt hat. Dank dieser kontinuierlichen Datensammlung könnten Entwicklungen beobachtet werden und durch die Veröffentlichung der anonymisierten Daten wäre es NGOs möglich, sich einzubringen. Sodann trägt sie dazu bei, dass der Anlass einer Kontrolle kritisch reflektiert wird und Lehren für künftige Dienstanweisungen und Polizeieinsätze gezogen werden können. Die Anzahl Kontrollen nehmen ab. Die Massnahme hat sich in Grossbritannien als wirksam erwiesen und wird von vielen Polizisten geschätzt, weil sie vor Diskriminierungsvorwürfen geschützt werden.25
Der Fall von Wilson A. zeigt, dass der Zugang zur Justiz den von rassistischen Polizeikontrollen Betroffenen in der Praxis faktisch verwehrt ist. Daher fordern internationale Menschenrechtsgremien von der Schweiz, dass sie in den Kantonen und Städten unabhängige Untersuchungsinstanzen schafft, die befugt sind, sämtliche Beschwerden wegen Diskriminierungserfahrungen, Misshandlungen oder rassistischem Profiling durch die Polizei unparteiisch zu untersuchen, Vermittlungsprozesse in Gang zu setzen und falls nötig eine Strafanzeige zu deponieren.26 Eine mögliche Alternative ist es, auf städtischer, kantonaler und Bundesebene Ombudsstellen einzuführen. Allerdings geben die wenigen bestehenden Ombudsstellen rassistischen Polizeikontrollen – mit Ausnahme der Stadt Zürich – nicht die nötige Aufmerksamkeit, um diesen spezifisch auf die Polizei ausgerichteten Empfehlungen gerecht zu werden.27
Ist eine Strafanzeige deponiert, so müssen die Kantone sicherstellen, dass eine unvoreingenommene und gründliche Strafuntersuchung stattfindet. Konkret geht es darum, dass die untersuchende Staatsanwaltschaft keine Beziehungen zu den Polizisten aufweist, gegen welche sie ermittelt. Anzeigen gegen die Polizei müssten durch ausserkantonale Staatsanwälte untersucht werden. Oder es müssten flexibel zusammensetzbare interkantonale Teams von Staatsanwälten eingesetzt werden. Dabei darf die Erstbefragung der an einem Vorfall beteiligten Polizisten nur unter dem Vorbehalt der Voreingenommenheit als Beweismittel in ein Rechtsverfahren einfliessen und auch vom Richter so gewichtet werden. Bei Verfahren wegen Nichtbefolgens polizeilicher Anordnung nach kantonalem bzw. kommunalem Übertretungsstrafrecht oder wegen Hinderung einer Amtshandlung nach StPO gilt der Grundsatz in dubio pro reo. Ist ein diskriminierendes Motiv aufgrund der gesamten Umstände wahrscheinlich, greift die Vermutung der Nichtigkeit der Polizeikontrolle, solange diese nicht von Seiten der Polizei mittels Vollbeweis beseitigt wird.
Fazit
Der grund- und menschenrechtlich fundierte Schutz vor Racial Profiling hängt massgeblich davon ab, ob die Polizeiführung und der Gesetzgeber die Bereitschaft zeigen, die Erfahrungen diskriminierender Polizeikontrollen als Ausdruck von strukturellem Rassismus anzugehen. Die Forschung zeigt, dass es in institutionell anspruchsvollen Kontexten wie der Polizei schwierig ist, vorurteilsfrei zu handeln.28 Deshalb bräuchte es im Praxisalltag Hilfestellungen, welche zu einer routinemässigen Auseinandersetzung mit Diskriminierungsrisiken führen, die derzeit in keinem Polizeikorps effektiv umgesetzt sind.29
Auf Seiten jener Akteure, die das Recht mobilisieren – NGOs, Anwälte und Rechtsberatungsstellen – ist zudem zu bedenken, dass Recht mehr ist als Verbote, Rechtsbrüche und Rechtsansprüche. Recht kann vielmehr dazu beitragen, Prozesse der Ermächtigung und Transformation anzustossen. Das Beispiel von Mohamed Wa Baile zeigt, dass ein Rechtsverfahren dazu dienen kann, Handlungsspielräume für antirassistische Interventionen auszubauen und jene Menschen, die von Rassismus betroffen sind, zu ermutigen, sich gemeinsam mit anderen dagegen zur Wehr zu setzen.
Vgl. Dokumentation www.human rights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/strafen/polizei/rassistisches-profiling-gerichtsverhandlung-praezedenzcharakter?search=1 (Zugriff: 6.3.2017).
Urteil GC 160218-L/U des Bezirksgerichts Zürich vom 7.11.2016.
Vgl. Zusammenstellung der Forschungsgruppe Racial Profiling: www.stop-racial-profiling.ch/de/berichte-studien (Zugriff: 6.3.2017).
Wir schreiben das Adjektiv «schwarz» gross (Schwarz), um zu betonen, dass mit Schwarzsein eine soziale Position bezeichnet werden soll. Der Begriff Schwarze Menschen bezieht sich auf ein emanzipatorisches Verständnis von Menschen, die sich selbst als Schwarze bezeichnen.
Kijan Espahangizi et al., Racial/Ethnic Profiling. Institutioneller Rassismus – kein Einzelfallproblem, Öffentliche Stellungnahme zur institutionellen Verantwortung für diskriminierende Polizeikontrollen, 6.3.2016.
Doris Liebscher, «Racial Profiling im Lichte des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots», in:
NJW 2016, Heft 38, S. 2779 ff.
Zur rechtlichen Begrifflichkeit vgl. www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/rassismus/rassistisches-profiling/begriff (Zugriff: 6.3.2017).
U.E. gelangt hier gestützt auf die Bundesgerichtspraxis zum Nachweis innerer Vorgänge eine gesetzliche Vermutung zur Anwendung (vgl. Tarek Naguib / Kurt Pärli et al., Diskriminierungsrecht, Bern 2014, Rz 1043): Gemäss Polizeirapport
ist das diskriminierende Motiv sehr wahrscheinlich.
Vgl. Ausführungen Stefan Blättler, Präsident KKPKS, abrufbar unter: www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/strafen/polizei/fachtagung-diskriminierenden-personenkontrollen (Zugriff: 6.3.2017).
Vgl. www.stop-racial-profiling.ch/de/berichte-studien (Zugriff: 6.3.2017).
Angela Mattli, Rassistisches Profiling gegen Jenische, Sinti und Roma, www.humanrights.ch } Volltextsuche: «Mattli» (Zugriff: 10.1.2017).
Vgl. Zwischenbericht Forschungsgruppe Racial Profiling www.stop-racial-profiling.ch/de/berichte-studien (Zugriff: 6.3.2017); Florian Vock, Racial Profiling in der Schweiz. Erfahrungen, Erklärungen und Umgangsstrategien Betroffener, Freiburg 2017 (unveröff.); Rahel Pfiffner / Patrick Gfeller, Polizeiliche Routinekontrollen westafrikanischer Migranten in Zürich, Zürich 2012 (unveröff.); Denise Efionayi et al., Studie zu Anti-Schwarze-Rassismus im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung (Veröff. geplant); Tarek Naguib et al., Anti-Schwarze-Rassismus. Juristische Untersuchung zum Phänomen, Herausforderungen und Handlungsbedarf (Veröff. geplant).
Vock, a.a.O.
Vgl. Espahangizi et al., a.a.O.
Zum Begriff und seinem Verhältnis zur Rassismusfrage vgl. Kijan Espahangizi et al., «Rassismus in
der postmigrantischen Gesellschaft», in: Kijan Espahangizi et al. (Hrsg.), movements 1/2016, S. 9–23.
Vgl. Comm. Nr. 1493/2006 des Uno-Menschenrechtsausschusses vom 17.8.2009 betreffend Rosalind Williams Lecraft v. Spain – U.N. Doc. CCPR/C/96/D/1493/2006.
BGE 139 IV 128.
Ebenso: Urteil Nr. 4.158/05 der Kammer IV des EGMR vom 12.1.2010 betreffend Gillan
and Quinton gegen Vereinigtes Königreich; Naguib / Pärli,
a.a.O., Rz 739.
Walter Kälin / Reto Locher, Der Zugang zur Justiz in Diskriminierungsfällen. Synthesebericht, Bern 2015, S. 49 ff.
Urteil GC 160218-L/U des
Bezirksgerichts Zürich vom 7.11.2016, E. 3b.
Vgl. www.humanrights.ch/de/service/wegweiser/polizei-menschenrechte (Zugriff: 6.3.2017).
www.humanrights.ch/de/menschen rechte-schweiz/inneres/strafen/polizei/fachtagung-diskriminierenden-personenkontrollen
(Zugriff: 6.3.2017).
Zur verbesserten Wirksamkeit von gesetzlich konkretisierten Diskriminierungsverboten
gibt es eine Fülle an empirischen Untersuchungen.
Vgl. auch die Zusammenstellung von praxiserprobten Massnahmen in der Stellungnahme zu Racial/Ethnic Profiling vom 7.11.2016.
Vgl. www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/strafen/polizei/fachtagung
-diskriminierenden-personenkontrollen (Zugriff: 6.3.2017).
Zusammenstellung der Empfehlungen auf www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/empfehlungen/polizei/polizeigewalt/ (Zugriff: 6.3.2017).
Ombudsstellen gibt es heute in fünf Kantonen und vier Städten.
Mahzarin R. Banaji / Anthony
G. Greenwald / Eric Martin,
Blindspot: Hidden Biases of Good People, 2013.
Vgl. Übersicht www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/rassismus/rassistisches-profiling/schweiz/stellungnahmen-polizei (Zugriff: 6.3.2017).