Die Ausgestaltung der Anwaltsprüfung ist Sache der Kantone. Und entsprechend widerspiegelt das Examen die Eigenheiten der jeweiligen Standorte. «Im Kanton Bern werden die Prüflinge darauf vorbereitet, in der Bundesverwaltung zu arbeiten. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass das Staats- und das Verwaltungsrecht einen hohen Stellenwert geniessen», sagt Stephan Bernard, Zürcher Rechtsanwalt mit Berner Wurzeln. Und in Zürich? «Da ist die Prüfung stark am Wirtschaftsstandort ausgerichtet.» Die Zürcher Anwaltsprüfung sei eigentlich eine Handelsrechtsprüfung. «Die Prüfungsvorbereitung zielt eindeutig auf die Tätigkeit in einer der Grosskanzleien ab», so Bernard.
Mehr Familien- und Sozialversicherungsrecht
Ein Umstand, an dem sich die Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich (DJZ) stossen. Ende September reichten sie dem Obergericht einen Antrag ein, der eine Änderung der Anwaltsprüfungsverordnung anregt. Konkret geht es um den Paragraphen 10, der die Prüfungsfächer regelt: Statt Schuldbetreibungs- und Konkursrecht soll zum Beispiel nur noch Schuldbetreibungsrecht geprüft werden. Das Prüfungsfach «Übriges Zivilrecht (einschliesslich internationales Privatrecht)» soll durch das Fach «Familienrecht» ersetzt werden. Neu als Prüfungsstoff hinzukommen soll öffentliches Verfahrensrecht, insbesondere das Migrations- und Sozialversicherungsrecht.
Das Sozialversicherungsrecht wird nach Ansicht der DJZ an der heutigen Anwaltsprüfung vernachlässigt. «Dabei erreicht es allein am Bundesgericht Fallzahlen, die beinahe denen des gesamten Privatrechts entsprechen», heisst es in der Begründung des Antrags. 2020 behandelte das Bundesgericht 1449 Fälle im Sozialversicherungsrecht. Zum Vergleich: Die Zahl der erbrechtlichen Fälle beläuft sich auf 57, die gesellschaftsrechtlichen auf 46.
Gross sind die Unterschiede auch am Bundesverwaltungsgericht: Es behandelte vergangenes Jahr 4687 migrationsrechtliche Fälle, aber nur 123 handelsrechtliche. Im Strafrecht ist in der Praxis laut Strafurteilsstatistik primär das sogenannte Nebenstrafrecht relevant, zum Beispiel Verkehrs- und Betäubungsmitteldelikte.
Die DJZ kommen zum Schluss, die heutige Gewichtung der Fächer für die Anwaltsprüfung entspreche nicht den Anforderungen für forensisch tätige Rechtsanwälte und somit nicht dem Bedürfnis der Rechtsuchenden.
Eine weitere Forderung: Die schriftlichen Prüfungen sollen anonym abgelegt werden. Das garantiere, dass in keinem Fall «auch nur der Anschein der Befangenheit aufkommt». Ob es diesbezüglich unter dem aktuellen System Probleme gibt, führen die DJZ indes nicht aus. Aus dem neunköpfigen DJZ-Vorstand wollte sich gegenüber plädoyer niemand zu dieser Frage und zum Antrag im Allgemeinen äussern.
Stephan Bernard, der Mitglied der DJZ ist, unterstützt das Anliegen des Antrags sehr. Zentral scheint ihm aber ein anderer Punkt: «Die Anwaltsprüfung ist heute eine rein technische, kognitive Prüfung. Es wird vor allem Stoff gepaukt», sagt er. Für den Anwaltsberuf zentral seien aber auch psychosoziale, ethische oder strategische Kompetenzen. Anders als im angelsächsischen Raum blieben diese in der derzeitigen Anwaltsausbildung unberücksichtigt.
Anwaltsverband relativiert die Kritik
Adrian Kammerer, Präsident des Zürcher Anwaltsverbandes, widerspricht der Meinung, dass die Anwaltsprüfung einseitig auf die Interessen des Wirtschaftsstandorts Zürich ausgerichtet sei. «Für viele Anwälte gehört nicht nur die Tätigkeit vor Gericht zur täglichen Praxis», sagt er. Gerade bei Wirtschaftsanwälten machten die Abwicklung von Transaktionen im Finanzierungsbereich, das Begleiten von Vertragsverhandlungen sowie die Durchführung von Mediationen einen Grossteil der Arbeit aus. Die Kandidaten würden an der Zürcher Anwaltsprüfung heute thematisch breit geprüft. Einzelne Fächer wie zum Beispiel Sozialversicherungsrecht stärker zu gewichten, hält Kammerer für vertretbar.
Das Zürcher Obergericht, das für den Erlass der Anwaltsprüfungsverordnung zuständig ist, will zum Antrag der DJZ noch keine Einschätzung abgeben.