plädoyer:Frau Bundesrätin, es gab eine Lex Furgler, eine Lex Koller – wird es eine Lex Widmer-Schlumpf geben?
Evelyne Widmer-Schlumpf: Ich sehe keinen Grund, einzelne Personen in Gesetzesnamen zu verewigen. An Gesetzen sind immer mehrere Leute beteiligt. Mitgeprägt habe ich aber etwa die Zusatzbotschaft zum Aktienrecht. Der Bundesrat hat bereits im Jahr 2007 – also vor meinem Amtsantritt – einen ersten Gesetzesentwurf verabschiedet. Im Jahr 2008 wurde die Revision mit weiteren Bestimmungen für einen verstärkten Schutz des Eigentums der Aktionäre ergänzt, weil wir den Entwicklungen auf den Finanzplätzen und in der Wirtschaft Rechnung tragen wollten. Die Revision des Aktienrechts soll noch in dieser Legislaturperiode abgeschlossen werden.
Kommen wir zu anderen Gesetzgebungsprojekten: Gibt es bereits einen Termin für ein revidiertes Versicherungsvertragsgesetz?
Ich bin die falsche Adressatin für diese Frage. Die Revision steht unter der Federführung des Eidgenössischen Finanzdepartements.
Ihr Vorgänger hat die Revision des Haftpflichtrechts in der Schublade versenkt. Haben Sie das herrenlose Dossier wieder an die Hand genommen?
Der Bundesrat hat bereits entschieden, dass er die Verjährungsfristen im Haftpflichtrecht verlängern will, damit Opfer auch bei Spätschäden Schadenersatzansprüche geltend machen können. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode konkrete Vorschläge machen, und ich gehe davon aus, dass wir Ende Jahr einen Vorentwurf in die Vernehmlassung schicken können. Angesichts des fehlenden Konsenses hat der Bundesrat hingegen auf eine umfassende Revision und Vereinheitlichung des Haftpflichtrechts verzichtet.
Stichwort Strafgesetzbuch: Im Jahr 2007 ist der revidierte Allgemeine Teil in Kraft getreten – und schon wieder soll zurückbuchstabiert werden. Ist es sinnvoll, dass man ohne neue empirische Daten bereits Änderungen am Sanktionskatalog vornimmt?
Wir machen zwar eine Evaluation, aber in einzelnen Bereichen können und wollen wir nicht jahrelang warten, bis die detaillierten Resultate dieser Überprüfung vorliegen. Wir haben grundlegende Probleme mit dem neuen Sanktionensystem. Ich befragte letztes Jahr die Kantone. Sie sind die Hauptanwender des Gesetzes und müssen es umsetzen. Die Rückmeldungen der Strafverfolgungsbehören, der Gerichte und der zuständigen Justizdirektoren haben meine Einschätzung bestätigt. Es gibt Dinge, die nicht funktionieren.
Was meinen Sie konkret?
Zum Beispiel die bedingte Geldstrafe oder die bedingte gemeinnützige Arbeit, welche niemanden abschreckt. Es geht nicht darum, den ganzen AT zu revidieren, sondern punktuell dort, wo die eingeführten Änderungen nicht wirksam sind. Ich gehöre nicht zu denen, die jeweils umgehend den gesellschaftlichen und politischen Befindlichkeiten nachgeben und entsprechende Gesetze machen möchten. Aber wenn man schon vom System her weiss, dass etwas nicht optimal funktionieren kann, dann sollte man diese Teile anpassen. Sonst riskiert man, dass immer gleich das ganze Strafsystem in Frage gestellt wird.
Woher wissen Sie, dass die neu eingeführten Sanktionen nichts taugen? Selbst Bundesrichter und Strafrechtsprofessoren haben noch zu wenige Fakten, um die Wirksamkeit der neuen Sanktionen zu beurteilen. Will man auf Prävention setzen, müsste man doch erst die Rückfallquoten der neuen Sanktionen kennen.
In den Achtzigerjahren waren Prävention und Resozialisierung das oberste Credo. Danach haben wir etwa auch das Strassenverkehrsgesetz ausgerichtet. Ich teilte damals die Meinung, man müsse vermehrt auch auf Prävention und Resozialisierung setzen. Doch die Kunst des Strafrechts liegt im Spagat zwischen notwendiger Prävention und notwendiger Repression. Ich glaube, das ist im Erwachsenenstrafrecht nicht überall gelungen. Da müssen wir die Repression teilweise verstärken, ohne dabei die Prävention zu vergessen. Wir müssen auch der Befindlichkeit der Bevölkerung Rechnung tragen. Wir müssen also versuchen, das Strafrecht anzupassen, ohne gleich ins andere Extrem zu verfallen.
Soll auch das Jugendstrafrecht repressiver werden?
Was für das Erwachsenenstrafrecht gilt, gilt nicht notgedrungen für das Jugendstrafrecht. Wir wissen, dass Freiheitsstrafen nach dem Muster des Erwachsenenstrafrechts für Minderjährige bezüg-lich Rückfallverhütung kontra-produktiv sein können. Deshalb müssen wir beim Jugendstrafrecht weiterhin in erster Linie auf Er-ziehungs- und Therapiemassnahmen – notabene in Einrichtungen mit klar geregeltem Tagsablauf – setzen. Letztendlich ist es das Ziel, die jungen Leute wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Wir haben heute die Möglichkeit, Freiheitsstrafen und Massnahmen bis zum Alter von 22 Jahren auszusprechen. Diese Altersgrenze erweist sich in verschiedenen Fällen als nicht sinnvoll. Wir werden daher vorschlagen, diese auf 25 Jahre anzuheben.
Die Opfer von Straftaten sind vor allem daran interessiert, dass die Täter keine weiteren Straftaten begehen. Müsste man nicht aus diesem Grund die Prävention deutlich stärker gewichten als die Repression?
Das Opfer – wie auch sein ganzer Umkreis, seine Familie – hat auch ein Interesse daran, dass der Täter wirklich bestraft wird. Denken Sie an das Opfer der Schweizer Jugendlichen in München beispielsweise – ich glaube nicht, dass sein Hauptinteresse bloss darin liegt, dass die drei eine solche Tat nicht wiederholen. Der Mann will doch, dass die Tat bestraft wird.
Im internationalen Vergleich werden Sie wahrscheinlich von den anderen europäischen Justizministern und -ministerinnen beneidet, weil die Schweiz eine so tiefe Kriminalitätsrate hat.
Die Schweiz hat vor allem eine tiefe Rückfallquote. Darum sage ich klar: Wir haben ein gutes Strafrecht, und auch ein grundsätzlich gutes Jugendstrafrecht. Auch wenn immer wieder das Gegenteil gesagt wird. Das System in Bayern zum Beispiel ist sehr repressiv im Vergleich zum schweizerischen, das ein «Erziehungsstrafrecht» ist. Die bayrische Justizministerin war ganz erstaunt, dass bei uns die Rückfallquote der jugendlichen Straftäter nur bei ungefähr 33 Prozent liegt. Im deutschen System beträgt sie über 70 Prozent. Sie will sich nun vertieft mit unserem Strafsystem auseinandersetzen.
Welche weiteren wichtigen Gesetze wollen Sie in der laufenden Legislaturperiode möglichst noch fertigstellen?
Im Besonderen Teil des Strafrechts wollen wir die Strafrahmen zeitgemässer gestalten und harmonisieren. Heute haben wir ja im Bereich der Vermögensdelikte relativ harte Strafen im Vergleich zu den Delikten gegen Leib und Leben. Da wollen wir die Mindest- und Maximalstrafrahmen anpassen. Die Vorlage werden wir noch im Sommer in den Bundesrat bringen und dann die Vernehmlassung möglichst rasch durchführen, weil ich im nächsten Jahr die Botschaft vorlegen möchte.
Und dann steht ja noch die Abstimmung über die Abzocker-Initiative an. Wann wird sie dem Volk vorgelegt?
Die Volksabstimmung über die Minder-Initiative und den direkten Gegenvorschlag, der mehr oder weniger unserer Zusatzbotschaft entspricht, planen wir für nächstes Jahr im Februar. Danach wird die Anschlussgesetzgebung, insbesondere im Aktienrecht, weiterberaten werden können.
In der letzten Session hat eine weitere Initiative die Gemüter im Parlament erhitzt: Die Ausschaffungs-Initiative.
Die Ausschaffungs-Initiative wird nicht einfach werden. Sie ist zwar nicht völkerrechtskonform, verstösst aber nicht gegen zwingendes Völkerrecht. Das Parlament hat sie nun auf Antrag des Bundesrates für gültig erklärt, aber zur Ablehnung empfohlen und stattdessen einen direkten Gegenvorschlag gemacht. Bei der Gültigerklärung hat das Parlament zugunsten der Volksrechte und der direkten Demokratie entschieden. Das war nur möglich, weil es differenziert hat zwischen «ausweisen» und «ausschaffen» (die Ausweisung zwangsweise vollstrecken). Die Behörden könnten also entscheiden, dass jemand ausgewiesen werden muss. Der Entscheid wird dann aber nicht vollstreckt, das heisst die Person wird nicht ausgeschafft, wenn das Non-Refoulement-Prinzip dem als temporäres Vollstreckungshindernis entgegensteht. Nur unter dieser Prämisse, mit dieser Zweiteilung, konnte die Initiative für gültig erklärt werden.
Beim Polizeiaufgabengesetz ist die Vernehmlassung seit Mitte März abgeschlossen. Kritisiert wird unter anderem eine Einschränkung der bürgerlichen Rechte – etwa durch eine Ausweitung der polizeilichen Überwachungsmöglichkeiten ohne dringenden Tatverdacht.
Mich hat erstaunt, dass das Gesetz in den Medien so stark kritisiert wurde. Die Vernehmlassung verlief viel positiver als es dargestellt wurde. Materiell machen wir nichts Neues. Wir versuchen nur, die verschiedenen polizeigesetzlichen Regelungen, die heute in vielen Spezialgesetzen verteilt sind, in einem einzigen Gesetz zusammenzuführen.
Darf die Polizei unter dem neuen Gesetz Leute ohne konkreten Tatverdacht abhören?
Nein, das werden wir auch künftig nicht machen. Polizeiliche Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Privatkommunikation bleiben an einem Tatverdacht und ein justizielles Genehmigungsverfahren gebunden.
Darf die Bundeskriminalpolizei künftig auch ohne konkreten Tatverdacht Daten über Personen sammeln?
Zwecks Aufdeckung schwerstkrimineller Netzwerke darf die Bundeskriminalpolizei in ihrer Eigenschaft als kriminalpolizeiliche Zentralstelle aus öffentlich zugänglichen Quellen Informationen einholen, Private befragen oder im öffentlichen Raum observieren. Diese Mittel, die übrigens auch jedem Privatdetektiv und jedem Journalisten zustehen, sind bereits im geltenden Zentralstellengesetz vorgesehen. Von der Regelung ausgenommen sind, wie erwähnt, Eingriffe in private Sphären, die stets eine justizielle Genehmigung voraussetzen.
Es gibt also durch das Polizeiaufgabengesetz keine neuen Polizei-kompetenzen für den Bund?
Nein. Es wird sich gegenüber heute materiell nichts ändern. Wir nehmen nur bestehende Erlasse zusammen und strukturieren sie neu, wobei die Verfahren und Inhalte klarer und konkreter geregelt werden, beispielsweise eben für die Observation oder den Einsatz von Vertrauenspersonen.
Konflikte zwischen Exekutive und Judikative häufen sich. Im Fall Tinner hat die Exekutive während eines laufenden Strafverfahrens Akten vernichtet. Der Fall wurde vom Gerichtshof für Menschenrechte angenommen. Hat der Bundesrat seine Kompetenzen überschritten?
Das Bundesgericht hat das Verhalten der Exekutive auf der ganzen Linie gestützt. Entgegen vielen Behauptungen hat der Bundesrat kein Notrecht angewendet, sondern «intra legem» oder genauer «intra constitutionem» gehandelt. Denn die Bundesverfassung berechtigt den Bundesrat gemäss den Artikeln 184 und 185 klar, unter gewissen Voraussetzungen Verfügungen und Verordnungen zu erlassen. Darum ist es völlig unangebracht, wenn nachher eine Strafbehörde meint, der Bundesrat hätte seine in der Bundesverfassung verankerten Kompetenzen nicht wahrnehmen dürfen. Wir schreiben dem Bundesstrafgericht auch nicht vor, wie es die Strafprozessordnung auszulegen hat. Oder nach welchen Kriterien das Bundesverwaltungsgericht im UBS-Fall zu entscheiden hat. Ich finde es wichtig, dass man anerkennt, wer welche Kompetenzen hat. Und dass das Bundesstrafgericht akzeptiert, wo die Exekutive in ihrem verfassungsrechtlichen Rahmen tätig wird. Die Kompetenzen der anderen Gewalt zu akzeptieren und damit die Gewaltenteilung zu respektieren, schliesst nicht aus, dass man in einem konkreten Fall auch eine abweichende Meinung äussern kann.
Was würden Sie dazu sagen, wenn eine Regierung während Ihrer U-Haft Verfahrensakten vernichten würde?
Eine derartige Entscheidung der Exekutive lässt sich nur in ausserordentlichen, äusserst seltenen Situationen rechtfertigen, wenn ganz gewichtige öffentliche Interessen auf dem Spiel stehen. Den Entscheid, dass man die Akten vernichten soll, fällte der Bundesrat gestützt auf den Antrag meines Vorgängers im Jahr 2007. Meines Erachtens stellt sich in dieser Angelegenheit aber die Frage, warum man fünf Jahre oder mehr braucht, um ein Ermittlungsverfahren wie dieses durchzuführen.
Ein weiterer Konfliktfall zwischen Exekutive und Judikative: Nachdem das Bundesgericht die Duvalier-Gelder freigegeben hatte, entschied der Bundesrat, das Geld im Hinblick auf ein neues Gesetz weiterhin zu blockieren.
Da muss man sich fragen, ob es richtig wäre, humanitäre Hilfe in Millionenhöhe zu leisten und gleichzeitig Geld, das eigentlich dem Staat beziehungsweise der Bevölkerung gehört, nicht zurückzugeben. Ich bin Juristin aus tiefster Überzeugung, aber nicht einfach buchstabentreu. Recht muss auch moralisch vertretbar sein. Die Rückerstattung der unrechtmässig erworbenen Gelder an den Duvalier-Clan wäre moralisch und aussenpolitisch nicht vertretbar gewesen. Und die Blockierung war nicht widerrechtlich, sie erfolgte gestützt auf unsere verfassungsmässigen Kompetenzen. Wir haben noch einmal kurzfristig blockiert und schaffen nun eine gesetzliche Grundlage, die es uns ermöglicht, das Recht in Übereinstimmung mit gewissen moralischen Vorstellungen zu bringen.
Wird das nun häufiger vorkommen, dass der Bundesrat Entscheide des Bundesgerichts ins Gegenteil verkehrt?
Wir verkehren keineswegs den Entscheid des Bundesgerichts in sein Gegenteil: Mit diesem Vorgehen kommen wir vielmehr der Aufforderung des Bundesgerichts nach, eine Lösung für die Rückerstattung von Potentatengelder zu suchen.
Muss sich der Staat Ihrer Ansicht nach an die rechtsstaatlichen Normen halten? Konkret: Hätte die Schweiz die CD mit den deliktisch erworbenen Daten potenzieller Steuersünder auch gekauft und ausgewertet?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Der Staat hat sich an gesetzliche Regelungen zu halten. Der Entscheid in Deutschland war ein rein politischer Entscheid. Im Übrigen hat auch der deutsche Anwaltsverband klar zum Ausdruck gebracht, dass so etwas nicht toleriert werden sollte. Ich bin überzeugt, dass man über die Ausweitung der Zusammenarbeit in der Amts- und Rechtshilfe letztendlich zum gleichen Ziel kommt, aber auf einem unter Rechtsstaaten vertretbaren Weg.
Es gibt andere Fälle, bei denen sich Staaten nicht an ihre Gesetze halten. Wir wissen zum Beispiel, dass sich Geheimdienste über das Gesetz hinwegsetzen und Menschen extra legem sogar umbringen. Hält sich der Schweizer Geheimdienst eigentlich an unsere Gesetze?
Der Schweizer Geheimdienst ist nicht in meinem Departement integriert. Und ich will nicht behaupten, dass ich jede Tätigkeit kenne. Ich stand aber ein Jahr dem dem Dienst für Analyse und Prävention (DAP) vor. Das ist zwar nicht ein Geheimdienst, er ist jedoch in einem ähnlichen Bereich tätig. Vom DAP habe ich mir öfters zeigen lassen, was sie genau machen – und das war immer im legalen Rahmen. Weil ich heute nicht mehr zuständig bin, weiss ich es zwar nicht mehr, gehe aber unverändert davon aus, dass sich der Schweizer Geheimdienst an seine Grenzen hält.