Am Abend des 2. Januar 2012 versammelten sich Würdenträger aus Politik, Wirtschaft und Kirche in der festlich beleuchteten Budapester Oper, um eine «neue Zeitrechnung» zu feiern: Am Tag zuvor war die neue ungarische Verfassung in Kraft getreten. Vor der Oper demonstrierten gleichzeitig Zehntausende Bürger gegen die schleichende Abschaffung der Demokratie. Doch ihr Ruf «Die Republik gibt es noch!» konnte die Feierlaune von Ministerpräsident Viktor Orbán nicht trüben. Für ihn war die neue Verfassung krönender Abschluss der «Revolution an den Wahlurnen», die mit dem Wahlsieg seiner Partei «Fidesz» im Sommer 2010 begonnen hatte.
Fidesz gewann damals 263 der 386 Sitze im ungarischen Parlament und kann seither mit Zwei-drittelmehrheit Gesetze nach Lust und Laune verändern. Als die Regierungspartei am 18. April 2011 die neue Verfassung beschloss, verliessen die meisten Oppositionspolitiker den Saal. Die Regierung liess dieses Zeichen des Protests ebenso unbeeindruckt wie die Bedenken von EU-Kommission und Europarat. Habe sich der Staub erst einmal gelegt, schrieb Ungarns Aussenminister János Martonyi an seine Kollegen in der EU, werde die neue Verfassung «anerkannt und entsprechend geachtet» werden.
Drohung der europäischen Justizkommissarin
Heute, eineinhalb Jahre später, ist die Kritik an der Verfassung lauter und heftiger als je zuvor. Sie kommt von Juristen und der Zivilgesellschaft in Ungarn ebenso wie von der «Venedig-Kommission» des Europarats und von der Europäischen Union. Die EU-Kommission hält einige Verfassungsartikel für unvereinbar mit europäischem Recht. Justizkommissarin Viviane Reding droht mit einem Ausschlussverfahren: Man werde nicht nur prüfen, sondern «auch handeln».
Besonders scharf kritisiert wird die vierte Revision der ungarischen Verfassung. Sie wurde notwendig, weil das Verfassungsgericht im November 2012 «Übergangsbestimmungen» aufhob, die zwar Verfassungsrang hatten, aber nicht in der Verfassung verankert waren. Worauf die Regierungspartei mit der Revision die meisten von den Richtern kritisierten Gesetze in die Verfassung aufnahm – und sie damit der Beurteilung des Verfassungsgerichts entzog.
Politische Opposition ohne Sprachrohr
Als ersten Schritt eines Vertragsverletzungsverfahrens schickte EU-Kommissarin Reding drei Warnbriefe nach Budapest: Es geht um eine Verfassungsklausel, die das Parlament verpflichtet, für allfällige Zahlungen an die EU eine Sondersteuer einzuführen und darin auch den Urheber (also die EU) zu nennen. Weiter beanstandet die Kommission, dass die oberste Justizverwaltungsbehörde, das beim Ministerpräsidenten angesiedelte «Landesgerichtsamt», Verfahren nach Belieben von einem Gericht zu einem anderen verschieben kann. Damit sei die Unabhängigkeit der Justiz bedroht. Als dritten Punkt muss die ungarische Regierung einen Verfassungsartikel erklären, der Wahlwerbung in privaten TV- und Radiosendern verbietet. Werbung in öffentlich-rechtlichen Medien bleibt zwar erlaubt, doch diese Medien werden ausnahmslos von Anhängern der Regierungspartei kontrolliert. Dass die Opposition unter diesen Bedingungen gleiche Chancen bekommt, ist unwahrscheinlich.
Ministerpräsident Orbán sagte in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» im April 2013, er habe diese vierte Verfassungsänderung nicht gewollt. Aber wenn er «schon zum vierten Mal Hand an die Verfassung legen» müsse, dann sollten auch die weiteren Entscheidungen umgesetzt werden. So setzte Fidesz mit der Verfassungsrevision alle Urteile das Verfassungsgerichts aus der Zeit vor 2012 ausser Kraft. Die Richter dürfen ihre rechtliche Argumentation nur mehr auf die neue Verfassung stützen. Der Rechtsprofessor an der Budapester Loránd-Eötvös-Universität, Gábor Halmai, bezeichnet das als «Degradierung von 20 Jahren Rechtsprechung».
Für Herbert Küpper, Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht in Regensburg und Autor der «Einführung in das ungarische Recht», ist die ungarische Verfassung Ausdruck eines Kulturkampfes zwischen einer traditionell-nationalistisch-antikapitalistischen und einer westeuropäisch-liberalen Richtung. Wobei die Traditionalisten mit Zweidrittelmehrheit ihre Ideologie im Grundgesetz festschreiben konnten: «Die Verfassung bedient Fidesz-Anhänger, zeigt aber allen anderen: Ihr gehört nicht dazu.»
«Ungarische Nation» vor Beleidigung geschützt
Auch die umstrittene vierte Revision spiegelt diesen Kulturkampf wider. Ein paar Konzessionen an die Kritiker stehen weitere Schwächungen des Verfassungsgerichts und Detailregelungen gegenüber, die leicht für parteipolitische Machtspiele missbraucht werden könnten. Dass jetzt der Schutz der Menschenwürde über jenen der Meinungsfreiheit gestellt wird, könnte einen grösseren Schutz für Juden oder Roma vor Hasskampagnen bedeuten. Die Verfassung schützt aber nicht nur «ethnische, rassische oder religiöse Gemeinschaften» vor Beleidigung, sondern auch «die ungarische Nation». Wie das gemeint ist, wird nicht erklärt. Ungarns Regierung deutet jedoch Kritik an ihr häufig zu Kritik an der Nation um. Diese könnte in Zukunft unter Berufung auf die Verfassung unter Strafe gestellt werden.
Aus Sicht Orbáns sind solche Überlegungen böswillige Interpretationen seiner unwissenden Gegner. Die Regierung investiert viel Zeit und Geld, um Europa die Rechtmässigkeit der neuen Verfassung zu erklären. Der Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog, tourt durch die Hauptstädte, hält Vorträge, gibt Interviews. «Wir haben es versäumt, die Dinge so zu erklären, dass die Prozesse in Ungarn für Aussenstehende verständlich sind», sagte Balog dem EU-Blog «EurActiv.de». Aussenminister Martonyi kündigte die Einberufung eines «Weisenrats» an: Europäische Verfassungsexperten sollten die neue Verfassung prüfen. Kritik der EU-Kommission oder der Venedig-Kommission will die Regierung ernst nehmen.
In die Kritik mischen sich auch einige wenige positive Stimmen. Der ehemalige deutsche Verteidigungsminister und Staatsrechtler Rupert Scholz (CDU) bescheinigte im Interview mit der «Budapester Zeitung» der Verfassung herausragende Qualitäten: Sie sei «insgesamt sehr modern im Sinne westlicher Rechtsstaatlichkeit und Demokratie».
Moderne Elemente in die Verfassung aufgenommen
Auch die Kritiker bescheinigen der Verfassung durchaus moderne Elemente. Herbert Küpper etwa betont den verbesserten Grundrechtsschutz und die Möglichkeit zu einer echten Verfassungsbeschwerde. Umweltschutz und Nachhaltigkeit werden zu Verfassungswerten erklärt. Die seit 1989 immer wieder diskutierte Verkleinerung des Parlaments von 386 auf 199 Sitze wird mit den nächsten Wahlen 2014 umgesetzt. Der Staat darf sich nur mit höchstens 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschulden. Dennoch überwiegen Bedenken, dass die Verfassung weniger der Modernisierung als der Schwächung der Demokratie diene.
Die Verfassung an sich könnte funktionieren, meint der ungarische Jurist Csaba Györy. Aber dass nun fast jede Detailregelung, die der Regierung wichtig erscheint, in die Verfassung geschrieben werde, sei klarer Missbrauch. Die vierte Änderung der Verfassung habe aus Ungarn einen «Rechtsstaat von Regierungs Gnaden» gemacht.
In den ersten Monaten nach dem Wahlsieg änderte die Regierungspartei erst einmal die alte Verfassung nach ihren Vorstellungen. Als Fidesz im Oktober 2010 die Besteuerung hoher Abgangsentschädigungen von Managern mit 98 Prozent beschloss, legte sich das Verfassungsgericht jedoch quer. Fidesz reagierte sofort – und verbot den Verfassungsrichtern die Überprüfung von Budget- und Finanzgesetzen. Selbst die Sympathisanten Orbáns beurteilten dieses Vorgehen als respektlos und als Sündenfall.
Nach diesem Muster ging es weiter: Jedes Mal, wenn die Verfassungshüter ein Gesetz kritisch beurteilten, wurde es flugs in den Verfassungsrang gehoben. Debatten gab es nicht. Auf diese Weise bekam ein Gesetz Verfassungsstatus, das die Sanktionierung von Menschen ermöglicht, die auf der Strasse leben. Csaba Györy fürchtet den Verfall der Verfassungskultur. «Wenn diese Regierung so wenig Respekt zeigt, könnten sich zukünftige Regierungen daran ein Vorbild nehmen.»
Sowjetische Restanzen aus dem Kodex entfernt
Das neue Grundgesetz wurde in acht Monaten aus dem Boden gestampft. Warum Ungarn so schnell eine neue Verfassung brauchte, kann die Regierung bis heute nicht schlüssig erklären. Vertreter der Fidesz sagen, dass damit letzte Reste kommunistischer Ideologie aus dem Kodex entfernt wurden. Tatsächlich stammte die alte Verfassung aus dem Jahr 1949, als die Sowjetunion in Ungarn ein Satellitenregime installierte. Allerdings wurde der Verfassungstext nach 1989 gründlich überarbeitet. Gábor Halmai war in den 1990er-Jahren Berater des damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts (und späteren Staatspräsidenten) László Sólyom. Er charakterisiert das Verfassungsgericht nach der Wende als eines der mächtigsten in Europa: «Es gab eine strenge Kontrolle der Gesetzgebung, es gab eine ‹Popularbeschwerde›, mit der jeder Bürger die Überprüfung der Verfassungsmässigkeit aller Gesetze beantragen konnte. Das alles wurde mit der neuen Verfassung abgeschafft.» Halmai bezeichnet in einem Artikel die Entmachtung des Verfassungsgerichts als «Rache des Imperiums».
Rückbesinnung auf König Stephan I.
Am neuen Verfassungstext arbeiteten parallel eine Abgeordnetengruppe der Fidesz und eine Expertengruppe des Ministerpräsidenten. Die Opposition fühlte sich überrollt und verweigerte die Teilnahme. Gewerkschaften, Interessensverbände und Vertreter der Zivilgesellschaft wurden nicht konsultiert. Auf eine Volksabstimmung über das neue Grundgesetz wurde verzichtet. Die Wähler bekamen stattdessen Fragebögen, in denen sie ihre Meinung kundtun konnten. Das Ergebnis bezeichnet Herbert Küpper als «schlampig, handwerklich schlecht gemacht und in Details widersprüchlich».
Den Anfang des Grundgesetzes macht eine Präambel mit dem Titel «Nationales Bekenntnis». In schwülstigen Formulierungen wird darin die Bedeutung des Christentums, der «Heiligen Krone» von König Stephan I. sowie der «historischen Verfassung» für den Erhalt der Nation betont. Gemeint ist ein mittelalterlicher Kodex, der das Verhältnis des Königs zu Volk und Adel regelt.
Man könnte die Präambel als «Verfassungslyrik» abtun, würde sie nicht zur normativen Kraft erklärt: «Alle Bestimmungen des Grundgesetzes sind im Einklang mit dem nationalen Bekenntnis und mit den Errungenschaften der historischen Verfassung zu interpretieren.» Müssen sich die Verfassungsrichter in ihren Urteilen an Regeln des Mittelalters halten? In einem Interview im Herbst 2011 wollte das einer der Verfassungsautoren nicht so eng sehen: «Direkte Rechte oder Verpflichtungen folgen aus der Präambel nicht», erklärte der damalige Fidesz-Abgeordnete László Salamon: «Sie bestimmt nur den Ethos.»
Es bleibe abzuwarten, wie die Verfassungsrichter die Präambel auslegten, so Gábor Halmai: «Niemand weiss, was mit ‹historischer Verfassung› gemeint ist. Gehören auch die Judengesetze der 1930er- und 1940er-Jahre dazu? Können die wieder angewandt werden?» Der Abgeordnete Salamon definierte die historische Verfassung als «alles, das bis zur Verfassung der Stalinisten 1949 zu den Gesetzen gehörte».
Das Verfassungsgericht wurde im Frühjahr 2013 von 11 auf 15 Mitglieder erweitert, womit die Richter aus den Reihen der Regierungspartei nun klar in der Mehrzahl sind. Auch László Salamon wurde zum Verfassungsrichter gewählt. Allerdings: Die Verfassungsrichter zeigten bisher stets ein beachtliches Mass an Unabhängigkeit.
Besonders umstritten, selbst in der sonst so homogen auftretenden Regierungspartei, ist die Rolle des Haushaltsrates. Seine drei Mitglieder (die Präsidenten des Rechnungshofes und der Nationalbank sowie ein vom Staatspräsidenten bestellter Vorsitzender) sollen sicherstellen, dass das Parlament die in der Verfassung festgeschriebene Schuldenbremse einhält. Verweigert der Haushaltsrat seine Zustimmung, kann der Staatspräsident das Parlament auflösen. Die Beteiligung der Exekutive an der Haushaltsgesetzgebung hält Herbert Küpper für einen fundamentalen Verstoss gegen den Parlamentarismus: «Das ist ein Bruch mit der europäischen und der ungarischen Verfassungstradition.»
Funktionsfähigkeit der Demokratie gefährdet
Als er noch Abgeordneter war, störte sich auch der heutige Verfassungsrichter Salamon an der «übertriebenen Macht, die dem Haushaltsrat zugestanden wird». Die Venedig-Kommission warnt vor ernsten Konsequenzen für die Funktionsfähigkeit der Demokratie. Ebenso bedenklich sind für die Venedig-Kommission die sogenannten «Kardinalsgesetze», auf die in der Verfassung immer wieder verwiesen wird. Diese Gesetze haben zwar nicht Verfassungsrang, können aber nur mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. Kultur, Religion, Moral, Sozioökonomie und Finanzpolitik sollten nicht auf diese Weise zementiert werden, kommentiert die Venedig-Kommission.
Öffentlichen Protest gegen die Verfassung gab es in Ungarn zuletzt Mitte März. Tausende Ungarn forderten in Budapest von Staatspräsident János Áder, er solle die vierte Revision der Verfassung nicht unterzeichnen. Der Präsident unterschrieb dennoch. Ungarns Ombudsman reichte darauf hin eine Verfassungsklage ein, weil über die umfangreichen Änderungen keine parlamentarische Debatte stattgefunden habe. Weil es sich um eine formale Frage handelt, darf das Verfassungsgericht die Beschwerde behandeln. Die Entscheidung der Richter stand bei Redaktionsschluss noch aus.