Auf dem diplomatischen Parkett ist er ein respektierter Mann. Andreas Schwab, EU-Abgeordneter aus Deutschland, hält ihn für einen «hochkompetenten Diplomaten, der den Auftrag der Schweizer Regierung und des Schweizer Volkes mit Nachdruck vertritt». Roberto Balzaretti ist seit gut drei Jahren Schweizer Botschafter bei der Europäischen Union in Brüssel und leitet ein Team von rund 50 Mitarbeitern.
In Brüssel vertritt und verteidigt er die Interessen der Schweiz. «Wir versuchen, aktiv Einfluss auf Prozesse und Entscheide der EU zu nehmen, die für die Schweiz relevant sind.» Alles, was in der EU diskutiert werde, lande als Dossier schliesslich auch auf seinem Arbeitstisch – von der Finanz- und Wirtschaftskrise über die Migra-tion bis zu den Beziehungen zu Russland oder dem Freihandelsabkommen TTIP.
Habe er ein Anliegen, bekomme er unproblematisch Zugang zu den Ansprechpartnern. Verhandlungen würden meistens die Kollegen führen, die aus Bern kommen. Seine Rolle sei die Vorbereitung und Begleitung, sagt Balzaretti. Er tauscht sich täglich mit dem Direktor für Europäische Angelegenheiten, mit dem Staatssekretär und den Bundesämtern aus.
Heute sei alles vernetzter. Und gleichzeitig seien die Freiräume für eigene Entscheidungen kleiner geworden. Balzaretti: «Man ist immer mehr drahtgesteuert als ferngesteuert.» Aber Botschafter anderer Länder, Institutionsvertreter, Vertreter von Unternehmen usw. treffe er immer noch vor Ort. «Ich bin alleine an der Front. Das macht diese Arbeit spannend», sagt der heute 50-Jährige.
Bevor Balzaretti 2012 Botschafter Jacques de Watteville ablöste, war er Generalsekretär des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Den Posten gab ihm die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Die SP-Politikerin und der parteilose Tessiner aus Mendrisio kannten sich: Balzaretti war zuvor ihr persönlicher Berater.
Als Stagiaire bei den EWR-Verhandlungen
Mit 26 Jahren, gleich nach dem Abschluss in Staatsrecht an der Universität Bern, trat er 1991 ins EDA ein. Daneben schrieb er bis 1997 seine Dissertation über Privateigentum und Raumplanung in der Tessiner Gesetzgebung. 1992 sammelte er als Stagiaire Erfahrungen in der Brüsseler Mission und erlebte die Endphase der Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Balzaretti begleitete den damaligen Botschafter Benedikt von Tscharner bei der Übergabe des Beitrittsgesuchs zur Europäischen Gemeinschaft, das seither im Archiv des Rates in Brüssel liegt.
Heute kommt dem Botschafter die Herkulesaufgabe zu, die EU nach dem Ja des Schweizer Volkes zur Masseneinwanderungsinitiative davon zu überzeugen, mit der Schweiz «die Personenfreizügigkeit neu zu definieren». Der Diplomat macht sich nichts vor: «Eine Neuverhandlung wird schwierig. Was wir hier wollen, ist nicht das, was wir früher mit der EU vereinbart haben.» Man habe dem Volk zu glauben gegeben, «dass wir allein über Dinge entscheiden können, die wir mit der anderen Partei vereinbart haben. Aber ein Abkommen können wir allein nicht abändern ohne das Einverständnis der anderen Seite».
Das Abstimmungsresultat habe in Brüssel alle überrascht. «Wir haben über zwei Monate nichts anderes getan als zu erklären, was geschehen ist, wie es zum Entscheid kam und welches die kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Konsequenzen sind.»
In Brüssel werde die Schweiz als Profiteurin empfunden. Deshalb seien alle seine Reden und Interventionen gespickt mit Zahlen, wie viel die Schweiz für dieses Europa tue. Balzaretti holt aus: «1,3 Millionen europäische Bürger arbeiten in der Schweiz. 10 Prozent der EU-Bürger, die das eigene Land verlassen haben, sind in der Schweiz. Dazu kommen mehr als
300 000 Grenzgänger. Plus die Direktinvestitionen von rund 500 Milliarden Euro der Schweizer Wirtschaft in Europa, und dann noch die Alpentransversale sowie der Gotthardtunnel.»
“Die EU ist sehr mit sich selbst beschäftigt”
All diese Fakten müsse er seinen europäischen Kollegen immer wieder in Erinnerung rufen: «Es ist nicht so, dass die EU kein Interesse an der Schweiz hat. Die EU ist aber so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie kaum Zeit hat für Partner, auch wenn sie wichtig sind. Aber es ist unser Job, sie daran zu erinnern, dass es uns noch gibt.» Und die Schweiz brauche die EU mehr als umgekehrt, sagt der Botschafter. Wieder nennt er Zahlen: Die Schweiz exportiere rund 55 Prozent ihrer Produkte in die EU. Die EU wiederum exportiert rund 10 Prozent ihrer Waren und 12 Prozent der Dienstleistungen in die Schweiz. Dann weist er auf die enorme Bedeutung unserer Grenzregionen hin: «Baden-Württemberg ist für die Schweiz wirtschaftlich so wichtig wie die USA oder China.» Der Warenaustausch allein zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg habe 2014 bei 31,8 Milliarden Franken gelegen. Zum Vergleich: Bei den USA waren es 48,4 Milliarden, bei China 29 Milliarden.
Für Balzaretti ist die aktuelle Flüchtlingswelle «epochal». «Das wird mittelfristig mit der Verteilung von einigen Tausend Flüchtlingen in den europäischen Ländern nicht geregelt. Man muss den Menschen in Europa klarmachen, dass sich dieses Problem nicht von selbst löst.» Niemand habe klare Lösungsvorschläge für diese enorme Herausforderung. Es seien eine Million Menschen unterwegs. «Eine Million!», wiederholt der Botschafter. «Und wenn eine Million weg ist, kommt die nächste.» Die meisten Flüchtlinge seien aber nicht in Europa, sondern würden von den Nachbarländern in den Konfliktregionen aufgenommen.
Was schlägt Balzaretti vor? «Wir müssen bereit sein, mit allen anderen Dublin-Staaten unseren Teil zu leisten und anzuerkennen, dass die Flüchtlingswelle eine gemeinsame Herausforderung ist. Es braucht Hilfe vor Ort, Unterstützung von Anreise- und Transitstaaten und gemeinsame Regeln für alle europäischen Staaten.» Es könne nicht sein, dass Italien, Griechenland und Malta die ganze Last tragen müssten, nur weil sie am Rande Europas seien und Meereszugang hätten. «Es kann aber auch nicht sein, dass schliesslich einige Staaten wie Deutschland oder Schweden die meisten Flüchtlinge aufnehmen.»
Findet der fünffache Familienvater noch Zeit für Hobbys und Familie? «Wenn ich Zeit habe, steige ich aufs Fahrrad oder mache einen Spaziergang mit meinen zwei Hunden.» Oder er gehe zum Training. Balzaretti beherrscht den koreanischen Kampfsport Taekwondo und hat bereits den blauen Gürtel. «Einzig der rote und schwarze fehlen mir.»
Die wird er in Brüssel nicht mehr machen können. Nächstes Jahr kehrt Balzaretti nämlich in die Schweiz zurück und tritt die neue Aufgabe als Direktor der Direktion für Völkerrecht in Bern an. Gleichzeitig wird der Jurist die Funktion des Rechtsberaters des EDA übernehmen.