plädoyer: Marcel Senn, in Ihrem aktuellen Buch «Rechtsphilosophisches und rechtshistorisches Selbstverständnis im Wandel» bezeichnen Sie die Finanzierung der Universitäten durch Private als eines der grossen Probleme der Gegenwart. Weshalb?
Marcel Senn: Wenn Geld die Welt regiert, sollte dies nicht unbedingt auch für die Wissenschaft gelten. Wissenschaft muss unabhängige, unbeeinflusste Einsichten und Erkenntnisse verschaffen – nicht interessengesteuerte Informationen liefern.
Lassen sich die Professoren so leicht kaufen?
Ich hatte vor einigen Monaten Einblick in Dokumente, die mir Radio SRF zur Verfügung gestellt hatte. Laut diesen Dokumenten können an einigen Schweizer Hochschulen Unternehmen im Forschungsbereich bei der Auswahl von Themen, Personen und bei deren Evaluation, ja sogar bei der Verlängerung der Anstellung und bei der Publikation je nach Vertrag mitreden. Das geht meines Erachtens gar nicht! Das steht im Widerspruch zur Freiheit von Forschung und Lehre im Sinn eines aufgeklärten und liberalen Verständnisses sowie zu den rechtlichen Garantien. Stellen Sie sich vor, solche Verträge würden auch bald international ausgerichtet werden und hiesige Forschung würde dem Diktat des globalen Kapitals ausgesetzt. Wir wollen doch transparente Forschungsergebnisse.
Wie können sich Universitäten denn gegen den Einfluss der Sponsoren wehren? Hat zum Beispiel der «Zürcher Appell» im Jahr 2013 nichts gebracht? 27 Professoren forderten da- mals ein Ende der Kooperationen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft.
Doch, der «Zürcher Appell» hat sich in Zürich positiv ausgewirkt und unser neuer Rektor Michael Hengartner hat dazu beigetragen, dass die «UZH Foundation» gegründet wurde. Die Foundation sucht vor allem Donatoren und akquiriert das Geld unabhängig von Bindungen.
Ist somit das Problem der Beeinflussung von Lehre und Forschung durch private Gelder heute gelöst?
In Zürich schon, doch ein weiteres Problem ist meines Erachtens die Projektförderung durch öffentliche Institutionen. Denn diese Förderung kann auch gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Trendkriterien folgen. Für wesentlicher halte ich die intellektuelle Dissidenz auch gegenüber den Mainstreams, weil sich vor allem dadurch Neues entwickelt.
In Ihrem Buch kritisieren Sie auch das Bologna-System: «Der Student, die einstige Verkörperung des intellektuell freien Menschen», werde durch das Bologna-System «zu einem Abhängigen konditioniert, der an der Universität lernt, wie man
sich einfügt und prüfungstechnisch erfolgreich ablernt, wie die vorgetragenen Wissenselemente zu reproduzieren sind». Das Bologna-System ist in Ihren Augen also gescheitert?
Die Rechtswissenschaften weisen heute im didaktischen Bereich sicherlich ein insgesamt verbessertes Lehrniveau aus als in früheren Jahren. Aber die Studenten müssen heute zu viel und zu schnell Stoff aufsaugen. Bulimie-Lernen nennt sich das: Man nimmt im Unterricht auf und gibt es nach 14 Wochen an der Prüfung wieder. So funktioniert eine Gesellschaft, in der das Gesetz der Verschnellerung herrscht. Das Verständnis für die Dinge selbst kommt dabei zu kurz, die vernetzte Sichtweise fehlt und der Mensch selber spielt kaum noch eine Rolle. Man opfert sich selber den Erfolgskriterien der Karriere. Oder sollen etwa die Absolventen wie Zahnrädchen nach dem Modus des neoliberalen Marktbetriebs in der Praxis fremdbestimmt funktionieren? Ich meine, nein!
Wurde das Bologna-System im Wissen um diesen Effekt eingeführt?
Ich glaube, das hat man in der Euphorie der Einführung des neuen «europäischen Systems» übersehen. Das System wurde den Universitäten vom Staat aufoktroyiert und im politischen Bereich zuvor kaum diskutiert. Auch die massiven Mehrkosten des Wechsels zum Bologna-System wurden nicht wirklich im Voraus erkannt. Der Ausbau der Lehrkräfte, Assistenzen, der Mobilität und Weiterbildung hat auch zu einem entsprechenden Schub in der Verwaltung geführt.
Was würden Sie bei der Ausbildung von Juristinnen und Juristen ändern?
Das konkrete Ziel muss sein, dass die Studenten über das kritische, selbständige und vernetzte Denkvermögen verfügen, statt dass sie einfach Wissen ablernen, das ihnen vorgegeben wird. Wissen lässt sich übrigens auch selbständig aneignen. Es gibt genug Kompendien zu allen Disziplinen. Zu trainieren wäre hingegen die Befähigung zur Auswahl des geeigneten Wissens und vor allem, wie und warum dieses Wissen zustande kam und einen solchen Stellenwert erlangen konnte. Wir müssen also die kritischen Geister sein, die das Wissen auch in Frage stellen können. Es ist Aufgabe einer Universität, solche Kompetenzen wieder vermehrt zu fördern. Eine freie Gesellschaft lebt durch die Kompetenz ihrer Individuen. Je mehr jedoch der Mensch als ein Teil des Konsumablaufs gesehen wird, desto unfreier und inkompetenter ist auch die Gesellschaft.
Ist diese Änderung unter dem aktuellen Bologna-Lehrsystem möglich?
Eher nicht. Ich denke, dass eine neue Generation hier grundlegende Korrekturen anbringen muss. Das Lizenziatssystem fokussierte viel stärker auf den Studenten als Individuum. Meines Erachtens sind wir mit dem Bologna-System einer falschen Ansicht von Liberalität gefolgt. Richtiger Liberalismus berücksichtigt auch den Aspekt der Verantwortlichkeit für die Gesellschaft und die sozialen Kompetenzen eines Menschen. Somit gehört auch diese Eigenschaft zu einer Juristin und einem Juristen.
Marcel Senn, 63, ist seit 1995 Professor für Rechtsgeschichte, juristische Zeitgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich. Ab 2006 war er Prodekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, 2008 bis 2010 Dekan. Zudem war Senn von 2005 bis 2009 Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie.