Grösser ist nicht immer besser. Dieses Fazit zieht ein ehemaliger Praktikant in einer grossen Wirtschaftskanzlei. «Zur Vorbereitung auf die Anwaltsprüfung ist wohl ein Praktikum beim Gericht oder bei einer kleinen Kanzlei eher zu empfehlen», meint er. Er verfasste in seinem Praktikum Sitzungsprotokolle, arbeitete bei Publikationen mit, wurde für Recherchen eingesetzt und zuweilen auch beim Verfassen von Rechtsschriften. Primär gehe es in einer solchen Kanzlei um Schiedsgerichtsfälle, erklärt er: «In einem Jahr kommt man vielleicht mit drei bis fünf Fällen in Kontakt, die über viele Jahre laufen. Die Arbeit ist nicht vielfältig, geht dafür aber sehr in die Tiefe.»
Zugeloster Götti prägt das Aufgabenfeld
So wie die Bezeichnungen variieren - Substitut, Trainee, Praktikant oder Junior Associate -, sind bei den Kanzleien auch die Ansätze der Betreuung verschieden. In den grösseren Kanzleien kommen dabei Göttisysteme ebenso zum Zug wie die Zuordnung zu einem Praxisbereich.
Bei Staiger Schwald & Partner in Zürich zum Beispiel - knapp vierzig Anwälte und fünf Substituten - koordiniert ein Partner oder ein Senior Associate die Ausbildung der Praktikanten. Er ist als Götti gleichzeitig auch Anlaufstelle für Fragen jeglicher Art. Partner Markus Gottstein nennt die Vorzüge dieses Systems: «Der Götti sorgt dafür, dass der Substitut mit vielen Anwälten und Fällen aus möglichst vielen Tätigkeitsbereichen in Kontakt kommt. Ziel ist es, dass er einen umfassenden persönlichen und fachlichen Eindruck von Staiger Schwald & Partner bekommt.»
Wie vielfältig sich das Substitutenjahr präsentiert, hängt damit nicht zuletzt vom zugelosten Götti ab und von den Arbeiten, die er zuteilt. «Glücklicherweise wurde ich nicht ausschliesslich bei Due-Diligence-Unternehmensprüfungen und anderen Mandaten bei Firmenübernahmen eingesetzt, sodass ich auch im Miet-, Arbeits- oder Betreibungsrecht viel mitbekam», erinnert sich eine frühere Praktikantin. So soll es laut Gottstein auch sein: «Wir sind sehr daran interessiert, unseren Substituten ein lehrreiches und anspruchsvolles Praktikumsjahr zu bieten und sie nicht mit monotonen Aufgaben zu unterfordern.»
Manche Substituten kehren später in die Kanzlei zurück
Bei Pestalozzi, wo rund 100 Anwälte beschäftigt sind, werden die Praktikanten den zwei Bereichen Litigation und Corporate Commercial zugeteilt. Dadurch sollen sie gemäss Christoph Lang, dem für die Belange der Substituten zuständigen Partner, Einsicht in die prozessierende und beratende Tätigkeit als Anwalt gewinnen. Im Alltag gehörten das Verfassen von Vertragsentwürfen, rechtliche Abklärungen und auch Kundenkontakt dazu. Da die Kanzlei vorwiegend in wirtschaftsrechtlichen Bereichen tätig ist, steht auch die thematische Bandbreite der Fälle, mit denen der Substitut in Kontakt kommt, unter diesen Vorzeichen. «Kenntnisse in praxisfremden Rechtsgebieten wie beispielsweise im Familienrecht muss sich der Substitut im Hinblick auf die Anwaltsprüfung selbst aneignen», stellt Lang klar.
In einem kleineren Anwaltsbüro hingegen packt ein Substitut dort an, «wo grad Arbeit anfällt», so die einschlägige Erfahrung eines anderen Praktikanten. «Da unsere Kanzlei nur aus einem Anwalt besteht, werden alle Rechtsbereiche abgedeckt und ich wurde überall eingesetzt», erinnert er sich. Christoph Lang von Pestalozzi weiss, dass die Selbständigkeit im Vergleich dazu in einer Grosskanzlei zu kurz kommt - trotz ihren Vorteilen wie eine grosse Bandbreite an wirtschaftsrechtlichen Themen und komplexen Fällen sowie die unterschiedlichen Arbeitsstile der Anwälte, von denen der Praktikant profitiere. Lang: «Wir können den Substituten aufgrund unserer Organisation nicht die gleiche Selbständigkeit bieten, die ihnen vielleicht eine kleine Kanzlei bieten kann.»
Am Vorwurf, über das Praktikum hinweg mit zu wenigen Fällen in Kontakt zu kommen, wie dies mehrere ehemalige Substituten verschiedener Grosskanzleien monieren, ist gemäss Lang zumindest bei Pestalozzi nichts dran. «Unsere Substituten haben mit unzähligen Fällen zu tun. Ob dies kleinere Arbeiten an einem sehr grossen Mandat sind oder eine wiederkehrende Mitarbeit bei der Betreuung eines Kunden - über eine mangelnde Anzahl Fälle kann sich der Substitut sicher nicht beklagen.» Es gibt denn auch Stu-dienabgänger, denen das Praktikum in der Grosskanzlei so sehr zusagte, dass sie nach der Anwaltsprüfung ins Unternehmen zurückkehren.
Schellenberg Wittmer bietet Prüfungsvorbereitung an
Auf eine Besonderheit weist Roland Ryser von Schellenberg Wittmer hin, einer Kanzlei mit über 130 Anwälten und Büros in Zürich und Genf: Monatlich finden für die Substituten Weiterbildungsveranstaltungen statt, um sie gezielt auf die Anwaltsprüfung vorzubereiten. «In diesem Rahmen besteht auch die Möglichkeit, übungshalber mündliche und schriftliche Anwaltsprüfungen zu absolvieren, die von den zuständigen Anwälten korrigiert und bewertet werden», so Ryser. Diese Art der zielgerichteten Ausbildung wird denn auch von ehemaligen Substituten in anderen Büros erwähnt, wenn man sie danach fragt, was sie in ihrem Praktikum vermisst haben. Und wie steht es um den Kundenkontakt? «Mit ein bisschen Glück sieht man auch mal einen Klienten an einer Sitzung», erinnert sich einer, der sein Praktikum in einer Grosskanzlei machte. Das ist bei den mittleren und kleineren Büros anders. Bei der Kanzlei Rudolf & Bieri, die mit drei Standorten in der Region Luzern vertreten ist, sind neben zehn Anwälten auch vier Praktikanten angestellt. Ihre Mitarbeit variiert von Mandat zu Mandat und kann eine weitgehend selbständige Betreuung des Falls, die Teilnahme an Einvernahmen und Gerichtsverhandlungen oder aber auch die punktuelle Unterstützung eines Anwalts bei der Ausarbeit von Rechtsschriften bedeuten.
«Von der Festlegung der Strategie bis hin zu Rechtsabklärungen umfasst die Arbeit der Substituten bei uns so ziemlich alles, was ein Anwalt in seiner Tätigkeit erlebt», erklärt Raphaël Haas, Anwalt und Notar bei Rudolf & Bieri. Eine Prüfung der Arbeit durch den verantwortlichen Anwalt stellt sicher, dass die Qualität den Anforderungen genügt. Mit weit über 100 Mandaten komme ein Praktikant dabei in Kontakt. Die Bandbreite der Fälle entspreche ungefähr dem Stoff der Anwaltsprüfungen des Kantons Luzern.
Bei Schärer Rechtsanwälte in Aarau sieht man die breite thematische Aufstellung ebenfalls als Vorteil. Die Kanzlei, die 16 Anwälte und 2 Substituten beschäftigt, legt Wert darauf, dass ihre Praktikanten alle Seiten der anwaltlichen Tätigkeit in verschiedenen Rechtsgebieten zu sehen bekommen. «Unsere Substituten werden sowohl im Eherecht als auch bei grossen Mandaten im Bereich des Wirtschaftsrechts eingesetzt», bestätigt Kaspar Hemmeler, Partner bei Schärer Anwälte, «dazu gehört auch Kundenkontakt.»
Vertretung von Mandanten vor Gericht als Ziel
Organisatorisch trifft die Kanzlei hingegen keine spezifischen Vorkehrungen für die Betreuung der Studienabgänger. Sie unterstützen vielmehr die Anwälte im jeweils aktuellen Bereich. Auch die Vertretung vor Gericht, die im Kanton Aargau nach drei Monaten von der Anwaltskommission bewilligt werden kann, ist möglich und wird tatsächlich auch angestrebt, wie Hemmeler sagt: «Das hängt natürlich auch etwas von der Entwicklung des Betreffenden ab, aber die meisten unserer Praktikanten können dieses Erfolgserlebnis mitnehmen.»
In einer kleinen Kanzlei, wo die Arbeitsteilung weniger ausgeprägt ist, kommen Substituten mit vielen unterschiedlichen Tätigkeiten in Berührung, die in einer Grosskanzlei nicht einmal Partner und Associates erleben, zeigt sich Viktor Györffy, der mit sieben Kollegen und Kolleginnen die Advokatur Gartenhof betreibt, überzeugt. «Während die Arbeit des Substituten in der Grosskanzlei noch ein- bis zweimal kritisch betrachtet wird, spürt der Praktikant die Wirkungen seines Tuns bei uns ziemlich unmittelbar; sowohl im Positiven wie auch im Negativen.» Den Substituten wird zwar eine Angewöhnungsphase zugestanden, doch der Sprung ins kalte Wasser erfolgt gemäss Györffy ziemlich schnell. «Unsere Substituten werden ziemlich bald selbständig auf die Mandate losgelassen», erklärt er, «nur so erfahren sie, wie die Arbeit wirklich funktioniert.»
Neben der selbständigen Bearbeitung der Fälle ist den Substituten der Advokatur Gartenhof auch das Inkasso der Mandate überlassen. Sie rechnen selbständig ab und sollten nach einer groben Faustregel einen Umsatz von 100 000 Franken pro Jahr erreichen. Dass die Selbständigkeit der Substituten nicht bloss ein Lippenbekenntnis ist, erkennt man anhand der AHV, wo die Substituten als Selbständigerwerbende registriert sind. Diese Form hat sich laut Györffy seit Jahren bewährt. Entsprechend überzeugt gibt er sich bezüglich des Lerneffekts: «Wer bei uns Substitut war, lernt das Business kennen und weiss, ob er das in Zukunft auch selbst machen will.»
Wert auf Selbständigkeit legt auch die Zürcher Advokatur Aussersihl, die fünf Anwälte zu ihrem Team zählt. Zu Beginn des Praktikums wird darauf geachtet, dass der Substitut zusammen mit einem Anwalt geeignete Fälle bearbeiten kann. Stephan Bernard, Anwalt in der Advokatur Aussersihl, nennt als Beispiel Vaterschafts- und Unterhaltsklagen. Bald schon ist der Substitut aber für eigene Fälle verantwortlich, wobei die Arbeit nach wie vor beaufsichtigt wird. Die Fälle, die der Substitut auch selber akquirieren kann, stammen dabei vor allem aus den Bereichen des Familien-, Arbeits- und Strafrechts. Ziel ist es, dass die Substituten länger als ein Jahr bleiben. «Wir möchten eine Art Anwaltslehre anbieten. Ein Substitut, der bereits rund zwei Jahre juristische Berufserfahrung hat, sollte nach eineinhalb Jahren bei uns fähig sein, selbständig zu arbeiten.» Möglich ist in der Advokatur Aussersihl zudem, Teilzeit zu arbeiten.
Manche sind von zu viel Selbständigkeit überfordert
Die Advokatur Schmiedenplatz in Bern beschäftigt neben drei Anwälten zwei Substituten. «Wir möchten unseren Substituten in erster Linie beibringen, wie man selbständig arbeitet», erklärt Anwalt Beat Zürcher. So gilt es für die Praktikanten, Rechtsschriften zu verfassen, Dossiers zu verwalten, mit den Behörden zu kommunizieren und die Kunden zu betreuen. Für das Zeitmanagement sind sie selbst verantwortlich. «Wir schicken unsere Substituten auf die Piste, denn sie sollen bei uns lernen, wie das Handwerk des Anwaltes funktioniert», betont Beat Zürcher.
Dass nicht jeder Absolvent für die Tätigkeit in der Advokatur Schmiedenplatz geeignet ist, gibt Zürcher freimütig zu: «Mit der theoretischen Tätigkeit der Universität hat die Arbeit bei uns nicht mehr viel zu tun. Wir brauchen Leute, die Initiative zeigen und mit Menschen umgehen können.»
Tipps zur Wahl des Praktikums
- Früh Informationen sammeln: Es gibt Kantone, in denen man sich schon zwei Jahre vor Studienabschluss für ein anschliessendes Anwaltspraktikum bewerben kann. Nicht nur das Internet und Jobfairs, auch ehemalige Substituten sind gute Informationsquellen.
- Light-Variante prüfen: Manche Praktikanten bevorzugen für ein erstes Praktikum ein Gericht, an dem sie mit mehreren Kollegen den Einstieg ins Berufsleben einfacher meistern als in einer Anwaltskanzlei. Darauf folgt dann ein Praktikum in der Advokatur. In gewissen Kantonen ist explizit diese Reihenfolge verlangt.
- Ausrichtung der Kanzlei wählen: Im Vorfeld ausloten, ob die anvisierte Kanzlei auch kleinere Mandate speziell für den Praktikanten akquirieren würde, ob direkter Kontakt mit dem Mandanten möglich ist oder ob nur eine billige «Schreibkraft» gesucht ist.