Zwei maskierte Unbekannte überfielen die einzige Angestellte einer Tankstelle und zerrten sie in ihr Auto. Drei Kilometer entfernt liessen sie die Frau frei. So wollten sie verhindern, dass sie schnell Alarm schlägt. Die Spuren führten Jahre später zu einem bekannten Kriminellen in den Banlieues von Lyon, der die Tat trotz klaren Hinweisen bestritt. Der Schlüssel zum Erfolg der Ermittler: «La Saturation émotionelle», die emotionale Sättigung.
Welsche Polizisten sprechen bei diesem Vorgehen auch vom «Principe du millefeuille». Millefeuille ist die Cremeschnitte – Schicht für Schicht werden im Verhör emotionale Aspekte angeschnitten, bis der Verdächtige von Gewissensbissen überwältigt wird.
Eine Fülle von Hinweisen auf Verhörtechniken
So trugen die Polizisten Punkt für Punkt vor: Die Tankstellenangestellte leide Jahre nach dem Raub immer noch unter den Folgen. Sie könne aus Angst nie mehr einen solchen Job machen. Sie glaube immer noch, die Tankstelle sei wegen ihrer Person überfallen worden. Und mache sich Selbstvorwürfe. Und sei immer noch schwer traumatisiert. Ihr Leben sei kaputt. Schliesslich brach der Beschuldigte sein Schweigen und legte ein Geständnis ab. Das Beispiel stammt aus einer Publikation zweier Polizisten: Olivier Guéniat ist Kommandant der jurassischen, Fabio Benoit Kommissar der Neuenburger Polizei.
Das Buch «Les secrets interrogatoires et auditions de police» schildert verschiedene polizeiliche Verhörtechniken (Presses Polytechniques et universitaires romandes, www.ppur.org, Lausanne 2012, vorerst nur in Französisch erhältlich, deutsche Übersetzung erscheint im Herbst 2014). Die beiden Autoren schreiben aus Erfahrung – und die Perspektive ist immer die der Polizei. Ziel des Verhörs ist die Aussage der beschuldigten Person. Dazu werden jene Mittel eingesetzt, die bei Inhaftierten, die von Aussenwelt, Familie und Freunden isoliert sind, am besten wirken. Wichtig bei der Strategie der emotionalen Sättigung ist nach Ansicht der Autoren, dass die Fakten auf eine Involvierung des Verdächtigen hinweisen. Mögliche Bemerkungen seien zum Beispiel: «Wissen Sie, die Frau des Opfers ist schwanger, genau wie ihre Freundin!» Oder: «Wir sind sicher, dass Sie nachfühlen können, was die Kinder empfinden, die ihren Vater verloren haben…» Das wühle auf.
Bei vielen Beschuldigten führe das zu Gewissensbissen, die ihnen keine Ruhe mehr lassen. Sie spüren, dass ein Geständnis Erleichterung brächte, möchten auspacken. Aber sie tun sich schwer, den ersten Schritt zu machen – oft aus Angst vor der Strafe oder der sozialen Ächtung. Der kluge Befrager spüre diese Gewissensbisse auf und versuche, sie zu verstärken. Etwa mit einem Besuch des Tatorts. Oder mit dem «jeu de silence»: Der Verdächtige erhält viel Zeit nachzudenken, allein in der Zelle. Der Befrager wird zur einzigen Person, der er sich anvertrauen kann.
Befrager als emotionale Rettungsinsel
Die Autoren zeigen bei vermuteten Gewissensbissen folgende Einflussmöglichkeiten auf:
- Man versucht klarzumachen, dass ein Geständnis befreiend ist. «Sagen Sie die Wahrheit – das erleichtert enorm!» Erfolg verspreche das bei Ersttätern, bei Straftaten aus Leidenschaft, bei Tätern mit moralischen Werten.
- Der Ermittler achtet auf die nonverbale Kommunikation. Wer Gewissensbisse habe, reagiere körperlich, wenn von Opfern, deren Familien, deren Trauer die Rede ist. Der Ermittler thematisiert diese körperlichen Reaktionen. Der Verdächtige realisiere so, dass er durch seine Körpersprache entlarvt wird. Hier hakt der Befrager ein und zeigt auf, dass Schweigen das Leiden nur verlängert.
- Ein Balanceakt sei die Strategie, die Straftat zu relativieren. Der Ermittler lässt dann Sätze fallen wie «Es gibt noch viel schlimmere Straftaten».
- Der Ermittler probiert, mit sympathischen Gesten einen guten Kontakt aufzubauen. Etwa durch das Überbringen von Nachrichten der Familie. Oder er bringt zum Verhör ein gutes Buch oder Zigaretten mit.
- Der Ermittler wird zur «Rettungsinsel». Der Befragte fühlt sich verpflichtet, er packt aus.
- Ist eine Beziehung des gegenseitigen Respekts hergestellt, könne auch Enttäuschung Geständnisse auslösen. Der Ermittler gibt sich extrem enttäuscht, ja konsterniert, dass sich der Verdächtige nicht kooperativer zeigt. Der Befrager listet auf, was er alles unternommen hat, um seine Taten zu verstehen, ihn zu beraten. Alles sei Zeitverschwendung gewesen, er habe ihn vernünftiger eingeschätzt. Nach diesem «Ausbruch» lässt der Ermittler Stille aufkommen und seine Worte wirken. Diese «Enttäuschungsstrategie» sei besonders effizient bei Erstdelinquenten, Narzissten sowie Jugendlichen.
- Reaktionen Dritter hindern einen Täter laut den Autoren oft am Geständnis. Er fürchtet das Urteil der Freunde mehr als das Urteil des Richters. In solchen Fällen versucht der Ermittler, die erwarteten Reaktionen zu relativieren: «Jeder macht mal Fehler.»
Ganz andere Strategien empfehlen die Autoren bei Verdächtigen, die keine Gewissensbisse haben. Zeige einer keine Schuldgefühle, müssten die Ermittler davon ausgehen, nur unter dem Druck von Fakten und Beweisen ein Geständnis zu erhalten. Ihre Taktik:
- Der Ermittler streut nach und nach exakte Details zur Tat ein und lässt durchblicken, dass man weiss, was der Verdächtige getan hat. Informationen zu Spuren auf Kleidern und Objekten säen Zweifel. Was weiss die Polizei? Die Grübelei beim Verdächtigen beginnt.
- Wer eine Tat nicht allein durchgeführt hat, steckt in der Zwickmühle. Hat die Polizei die anderen verhaftet? Haben die Kollegen geplaudert? Mich belastet? Gibt der Polizist schrittweise ein paar Details preis, wird der Verhörte abwägen. Soll er das Risiko eingehen, dass die andern ihn belasten und er am Schluss dann doch aussagt? «Ist es gerecht, dass Ihre Mittäter frei herumlaufen, Ihren Anteil der Beute verjubeln, Sie hier im Elend lassen und Sie als Einziger büssen?» Ein solcher Satz vermöge möglicherweise Zungen zu lösen.
- Auch Schmeicheln kann helfen. Den Mut, die Intelligenz, den Einfallsreichtum eines Plans zu anerkennen. Vielleicht erzählt der Beschuldigte voller Eitelkeit, dass er allein den Plan ausarbeitete, weil die Mittäter zu dämlich waren.
- Bei Kriminellen mit übersteigertem Ego sei Verhöhnen oft nützlich. Wie amateurhaft doch der Einbruch gewesen sei, wie stümperhaft ausgeführt. Verärgert lässt der Angeschuldigte dann plötzlich einen Namen fallen. Dieser Depp habe alles versemmelt.
- Wo solche Methoden nicht weiterhelfen, empfehle es sich, die Befragten zum Lügen zu bringen. Der Ermittler stellt dann Fragen, bei denen er die Fakten kennt und weiss, dass der Verdächtige lügen wird. Ohne zu widersprechen, sammelt der Befrager Lüge um Lüge, selbstverständlich protokolliert und unterzeichnet. Dann entlarvt er die Lügen mit Fakten.
Olivier Guéniat und Fabio Benoit unterstreichen, dass jeder Fall anders gelagert ist. Klar sei: Ein guter Ermittler dürfe nicht leichtgläubig sein, aber auch nicht kritisieren oder werten. Ein guter Befrager sei bestimmt, geduldig und hartnäckig. Er halte die nötige Distanz und versuche, ein gutes Vertrauensverhältnis aufzubauen.