Der Ständerat hat in der Sommersession ohne Diskussion beschlossen, dass kantonale Zivilentscheide künftig nur noch im Dispositiv eröffnet werden. Und dass sie nur schriftlich begründet werden müssen, wenn eine Partei es verlangt.
Die schriftliche Begründung des Urteils hat ein Janusgesicht. Wer hat sie nicht schon ungeduldig überblättert, um rasch zu sehen, worüber wie entschieden worden ist (Dispositiv)? Mitunter ist sie so abgefasst, dass die Rechtsmittelinstanz sie nicht versteht.1 Aber: Gerade das Zivilurteil kann seine befriedende Wirkung nur erreichen, wenn es seine Gründe offenlegt. Darum ist die Begründung ein obligatorischer Bestandteil des Urteils (Artikel 238 litera g der Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO]). Es gibt kein gültiges Rechtsmittel ohne Auseinandersetzung mit der Begründung.2
Kantonales Recht hat das «unbegründete» Urteil schon zugelassen. Das gab Probleme: Wie soll eine Partei Beschwerde führen oder aufschiebende Wirkung beantragen, wenn sie die Begründung nicht kennt? Krass zeigte sich das bei einer Konkurseröffnung.3 Merkwürdig war es, als eine Richterin einem Vater per Dispositiv befahl, den Pass des Kindes am Folgetag herauszugeben – mit der Möglichkeit, innert zehn Tagen eine Begründung zu verlangen. Ein Entscheid kann daher entgegen Artikel 336 ZPO nicht vollstreckbar sein, solange die Begründung verlangt werden kann, respektive nicht geliefert wird.4 Der Bundesrat will das mit einer Entscheidkompetenz des erstinstanzlichen Gerichts beheben.5 Aber das ist unschön. Gerade «Vollstreckbarkeit ja oder nein» sollte die obere und unbefangene 6 Instanz entscheiden.
Das Eröffnen von Entscheiden im Dispositiv ist also in der Praxis schwierig. Dennoch wollte der Bundesrat Artikel 239 ZPO («kann») auf die Rechtsmittelinstanz ausdehnen, und der Ständerat hat das noch verschärft («généralement»).7 Da fehlt nur noch, dass das Bundesgericht seine Urteile gar nicht mehr begründen muss, wenn nicht eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung zu klären ist. Das wäre eine echte Entlastung!
Der Verzicht auf eine Begründung wird mit der Entlastung der Gerichte begründet. Das ist toxisch: Wer hatte nicht schon nach erstem Lesen der Akten eine vorläufige Meinung und revidierte diese beim sorgfältigen Bearbeiten? Zu häufig verstreicht heute eine (auffällig) lange Dauer zwischen dem Begehren um Begründung und dem vollständigen Urteil. Das ironische «Die Klage wird abgewiesen – die Begründung dafür fällt mir später ein» ist aktuell. Seriöses Bearbeiten der Sache setzt voraus, die Gedanken schriftlich zu fixieren. Wer es tut, kann die Begründung liefern. Das Argument, in einem einfachen Fall solle man nicht mit der Begründung Zeit verlieren, ist unlauter: Ob der Fall einfach ist, zeigt sich erst bei der sorgfältigen Bearbeitung. Und ein wirklich einfacher Fall kann auch kurz begründet werden. Der Nationalrat ist gefordert!
Peter Diggelmann, war Oberrichter im Kanton Zürich und arbeitet zurzeit als Gerichtsschreiber ad hoc am Kantonsgericht Graubünden.
1 OGer ZH LB 200 003 vom 16.12.2020; BGer 5A_913/2018 vom 14.5.2019; plädoyer 5/2013, S. 74.
2 BGE 138 III 374, E. 4.3.1.
3 OGer ZH PS130222, Verfügung vom 19.12.2013.
4 ZR 111/2012 Nr. 70.
5 Art. 239 Abs. 2bis E-ZPO.
6 Art. 47 Abs. 1 lit. b ZPO.
7 AB Ständerat 2021, S. 684, mit Streichung der Art. 318 Abs. 2 und 327 Abs. 5 ZPO.