Simone Machado sitzt an diesem Freitagmorgen Anfang September zum ersten Mal als Beschwerdeführerin «auf dieser holzigen Zuhörerbank am Bundesgericht» und zupft angespannt an ihrer Maske herum. Vor ihr, leicht erhöht und hinter Plexiglas, entscheidet gerade die Zweite öffentlichrechtliche Abteilung unter dem Vorsitz von SVP-Richter Hans Georg Seiler öffentlich die Beschwerde von Machado selbst und zehn von ihr vertretenen Organisationen gegen den Kanton Bern. Dieser hatte Demonstrationen auf höchstens 15 Personen beschränkt, teilweise sogar auf nur fünf.
Für Bundesrichter Seiler ist die Sache klar: «Die Einschränkung war rechtens. Es spielt keine Rolle, ob die Versammlungsfreiheit für einen Fastnachtsumzug oder eine Demonstration genutzt wird. Eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt sich nicht, auch wenn die eine Veranstaltung den Behörden wertvoller erscheint als die andere.» Diese drei Sätze waren fast zu viel für das Rechtsverständnis von Machado: «Ich wollte nur noch raus», sagt sie später auf den Treppen des Bundesgerichts. «Dabei sollte ich Seiler eigentlich dankbar sein.» Die 52-Jährige bezweifelt nämlich, ob die anderen vier Richter auch dann so deutlich Gegensteuer gegeben hätten, wenn «Seiler nicht derart ausgeschert» wäre. Florence Aubry Girardin (Grüne), Julia Hänni (CVP), Michael Beusch (SP) und Yves Donallaz (SVP) überstimmen den Vorsitzenden Seiler vier zu eins und heissen die Beschwerde gut.
Öffentlicher Diskurs gleichgeschaltet
Zwei Wochen später läuft Simone Machado in Richtung Berner Rathaus. Es ist ein sonniger Tag. Leute flanieren lachend durch die Gassen. Machado lacht nicht. Sie ist aufgewühlt: «Gestern soll die Kantonspolizei angeblich einen Angriff auf das Bundeshaus abgewehrt haben.» Einen grösseren «Chabis» könne man den Leuten nicht auftischen. «Das ist stimmungsmachende Rhetorik des Stadtberner Sicherheitsdirektors Reto Nause.» Die Zeitungen und das Staatsfernsehen würden dies «völlig unkritisch in die Welt hinausposaunen». Machado: «Wer aus ein paar Leuten, die an einer Absperrung rütteln, einen Sturm auf das Bundeshaus fabriziert, zielt auf Aufheizung und Spaltung der Gesellschaft.»
Die Juristin macht sich Sorgen «um die Grundlagen der Demokratie und des Rechtsstaats» in der Schweiz. Sie denke zur Zeit oft an ihren Mentor Daniele Jenni. Der verstorbene Anwalt und Berner Stadtparlamentarier, für den sie mehrere Jahre als Rechtsassistentin gearbeitet hatte, gab der jungen Juristin auf den Weg: «Die Grundrechte sind nicht verhandelbar. Auch wenn die Themen und Mehrheitsverhältnisse sich ändern – die Machtmechanismen bleiben die gleichen.» Recht habe er gehabt, so Machado: «Ich stelle seit rund zwei Jahren eine Gleichschaltung der Medien im öffentlichen Diskurs fest.»
Polizeiliche Aufgaben für Kulturveranstalter
Es sei stossend, wie Menschen mit kritischen Fragen und anderen Standpunkten als der Mehrheitsmeinung teilweise «lächerlich gemacht, abgesondert und schikaniert» würden. Das sei für die demokratische Willensbildung, die auf einer Vielfalt von Meinungen basiere, gefährlich: «Momentan ist es so schwierig wie noch nie, Fragen zu stellen, die gegen die Mehrheitsmeinung stehen.» Klassisch linke Themen würden nicht aufgenommen: «Zum Beispiel die Gewinne der globalen Pharmaindustrie von umgerechnet inzwischen über 30 Milliarden Franken für Impfstoffe, bei denen die Konzerne jede Haftung ablehnen. Weshalb sind die Verträge geheim, obwohl es um den Gesundheitsschutz geht?» Wenig thematisiert werde auch, dass mit dem Zertifikat «Privatpersonen wie Kulturveranstalter zu sonst der Polizei vorbehaltenen Aufgaben wie Ausweiskontrollen ermächtigt und verpflichtet werden».
“Berner Stadtparlament hat sich selbst entmachtet”
Für Machado ist der Erfolg vor Bundesgericht erfreulich – aber ein seltenes Erlebnis. Sie sei es nicht gewohnt, zu gewinnen, sagt sie. Von 2014 bis 2018 politisierte die Bernerin für die Grüne alternative Partei im Kantonsparlament. Ihre Vorstösse fanden selten eine Mehrheit. «Gewinnen steht für mich nicht im Vordergrund. Was mich anspornt, ist es, Fragen zu stellen, die ich als wichtig erachte.» Das setze eine Dynamik in Gang. Die Parteien müssten Stellung beziehen. Politik sei ein langfristiger Prozess. So beantragte sie 2017, die Cheflöhne der staatsnahen Betriebe dürften die Gehälter der Regierungsräte nicht übersteigen. Machado kam nicht durch, aber kürzlich hat sich der Nationalrat auf eine Obergrenze geeinigt: Die Entgelte der Chefs von bundesnahen Betrieben sollen eine Million Franken nicht überschreiten dürfen. Machado: «Das ist nicht in meinem Sinn. Eine Million ist immer noch zu viel – aber immerhin!»
Themen setzen möchte sie auch im Berner Stadtparlament. Seit vergangenen Herbst politisiert Machado dort. Sie reichte bereits über 20 Vorstösse ein. «Aber der Stadtrat ist de facto handlungsunfähig», kritisiert sie. Bis ein Vorstoss im Parlament besprochen werde, dauere es im Durchschnitt zweieinhalb Jahre. Das Parlament habe sich selbst entmachtet, als es vor einigen Jahren die Anzahl der Sitzungen reduzierte. «Deshalb kommen nicht wenige Vorstösse erst zur Sprache, wenn sich die Sache schon erledigt hat. Zum Beispiel, wenn die Bäume vor dem Bundeshaus bereits gefällt sind.»
Ein Leben ohne politisches Engagement kann sich die Juristin nicht vorstellen. Im Elternhaus wurde wenig über Politik gesprochen, erzählt sie. «Bücher gab es keine. Wer hätte sie lesen sollen – alle arbeiteten viel und hart.» Mit 16 habe sie erfahren, dass es andere Zeitungen als den «Blick» gibt. Das Gymnasium brach sie ab, arbeitete zwölf Jahre bei Bergbauern, lernte Landwirtin. Dann habe sie überlegt, was sie einmal machen werde, «wenn mein Rücken nicht mehr so stark ist». Machado holte die Matura nach, begann 30-jährig ein Jus-Studium an den Universitäten Freiburg und Bern. Heute arbeitet sie 80 Prozent als Juristin und Sozialarbeiterin im Erwachsenenschutz und im Rechtsdienst beim Sozialdienst Region Jungfrau. Daneben beendet sie das Zweitstudium in Sozialpolitik an der Universität Freiburg mit einer Masterarbeit über Krisenkommunikation.
Und wer weiss, womöglich führt sie eine nächste Station in diese Richtung. Der Bedarf an Spezialistinnen scheint in einer Stadt gegeben, wo schon ein Rütteln an einer Absperrung verbale Entgleisungen verursacht.