Gemeinsames Sorgerecht: Schweiz hat geschiedenen Vater nicht diskriminiert
Ein geschiedener Vater hat sich in Strassburg vergeblich dagegen beschwert, dass die Waadtländer Ziviljustiz – gestützt auf zwei Gutachten – das Sorgerecht an den beiden gemeinsamen Kindern 2009 der Mutter zugesprochen hatte. Das vom Vater gewünschte gemeinsame Sorgerecht scheiterte am Widerstand der Mutter, denn es setzt einen gemeinsamen Antrag beider Elternteile voraus (Art. 133 Abs. 3 ZGB). In seinem Kampf für das gemeinsame Sorgerecht führte der Vater das EGMR-Urteil N° 22028/04 «Zaunegger c. Deutschland» vom 9. Dezember 2009 ins Feld, welches der Vater eines nichtehelichen Kindes erstritten hatte. Nach Auffassung des EGMR diskriminiert das deutsche Recht den Vater, weil es eine gerichtliche Prüfung des alleinigen Sorgerechts der Mutter generell ausschliesst.
Das Bundesgericht verneinte am 11. August 2011 (Urteil 5A_420/2010) unter Hinweis auf die Unterschiede zur deutschen Rechtslage, dass sich dieses Urteil auf die Schweiz übertragen lässt. Das schweizerische ZGB sehe bei der Kinderzuteilung keine Bevorzugung der Mutter vor.
Ab 1. Juli 2014 wird in der Schweiz das gemeinsame Sorgerecht zur Regel und bedarf es nach einer Scheidung keines gemeinsamen Antrags beider Elternteile mehr. Ist es zur Wahrung des Kindeswohls nötig, so kann das Gericht auch nach künftigem Recht der Mutter oder dem Vater die alleinige Sorge übertragen. Trotz der absehbaren Rechtsänderung wies der EGMR das schweizerische Gesuch ab, die Beschwerde in seinem Register zu streichen. Er verwies u.a. darauf, dass der Beschwerdeführer die gemeinsame Sorge auch ab 1. Juli nicht ohne eigenes Zutun erhalte und sie im Fall des älteren (heute 18-jährigen) Kindes eh zu spät komme.
In der Sache hält der Gerichtshof einstimmig fest, die Schweiz habe weder Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot (Art. 14 in Verbindung mit Art. 8) verletzt. Der Wortlaut von Art. 133 ZGB unterscheide nicht nach dem Geschlecht des Elternteils. Beide Elternteile hatten mangels einer Einigung über das gemeinsame Sorgerecht die gleiche Möglichkeit, das alleinige Sorgerecht zu verlangen. Die schweizerischen Behörden hätten überzeugend dargetan, das Erfordernis eines gemeinsamen Antrags solle die Eltern dazu zwingen, den Willen zur Zusammenarbeit zu bekunden.
Der Gerichtshof hat für sein Urteil auch die Rechtslage in anderen Europaratsstaaten analysiert. Danach kannten 16 von 29 Staaten ähnliche Regeln wie die Schweiz und verlangten eine gemeinsame Willenserklärung beider Elternteile.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 9929/12 «Buchs c. Schweiz» vom 27.5.2014
Fernhaltung eines straffälligen Geschäftsmanns rechtens
Der 1957 in Tiflis geborene und 1991 als Tourist in die Schweiz gekommene S.G. wurde im Juni 2000 griechischer Staatsbürger. Im März 2004 heiratete er eine Schweizerin und nahm ihren Namen an. Drei Wochen später verurteilte ihn die Waadtländer Justiz wegen betrügerischen Konkurses und verschiedener anderer Delikte zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe. 2006 landete der Geschäftsmann wegen eines in Genf eröffneten Verfahrens in Untersuchungshaft. Im Oktober 2007 verweigerte die Waadtländer Migrationsbehörde eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung und befahl, die Schweiz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis zu verlassen. Der Vater von drei in der Schweiz lebenden Kindern beschwerte sich vergeblich beim Bundesgericht (Urteil 2C_561/2008 vom 5. November 2008).
Die 2. EGMR-Kammer bezeichnet Fischbachers wegen Missachtung des Anspruchs auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) eingereichte Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet. Die Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe wiege schwer, zumal der vermögende Geschäftsmann keine Gelegenheit zu Manipulationen und Bereicherungen ausgelassen habe. Keines seiner aus erster Ehe stammenden Kinder lebe bei ihm oder sei finanziell von ihm abhängig. Die schweizerischen Behörden durften das öffentliche Interesse an seiner Fernhaltung daher höher gewichten als seine privaten Interessen. Der mittlerweile in Luxemburg lebende und an Geschäftsreisen gewöhnte Vater könne als EU-Bürger die Kontakte mit seinen Kindern ausserhalb der Schweiz pflegen.
Zulässigkeitsentscheid der 2. EGMR-Kammer N° 30614/09 «Fischbacher c. Schweiz» vom 6.5.2014
Leugnung des Armenier-Genozids: Ein Fall für die Grosse Kammer
Die viel diskutierte Beschwerde des türkischen Nationalisten Dogu Perinçek gegen seine Verurteilung wegen Rassendiskriminierung (Art. 261bis Abs. 4 StGB) wird auch noch durch die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beurteilt. 17 EGMR-Mitglieder haben über die Frage zu befinden, ob der Genozid an den Armeniern als internationale und historische Lüge bezeichnet werden darf.
Die 2. Kammer des Gerichtshofs hatte am 17.12.2013 mit 5 gegen 2 Stimmen einen Verstoss gegen die Meinungsfreiheit bejaht (vgl. plädoyer 1/14, S. 52). Nach den Worten der damaligen Gerichtsminderheit wirft der Fall grundsätzliche, vom EGMR noch nie behandelte Fragen auf, welche die Grosse Kammer beurteilen sollte. Der fünfköpfige Filterausschuss war gleicher Auffassung. Der Ausschuss nimmt nach Art. 43 EMRK den Antrag einer Verfahrenspartei (im Fall Perinçek der Schweiz) auf Verweisung an die Grosse Kammer an, «wenn die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung dieser Konvention oder der Protokolle dazu oder eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft».
Die Hürde für eine Verweisung an die Grosse Kammer ist in der Praxis hoch. Nur eine kleine Minderheit aller Fälle wird dem 17-köpfigen Gremium vorgelegt. Gleichzeitig mit dem Fall Perinçek überprüfte der Ausschuss 16 weitere Anträge auf Verweisung an die Grosse Kammer, von denen er 14 ablehnte. Ebenfalls zugelassen wurden lediglich die Beschwerde eines anlässlich einer Demonstration festgenommenen und wegen Ungehorsams gegen polizeiliche Anordnungen verurteilten finnischen Journalisten (N° 11882/10 «Pentikäinen c. Finnland»; vgl. medialex 2014, S. 74f.) sowie die Beschwerde eines abgewiesenen Asylbewerbers, der für den Fall einer Abschiebung in den Iran ein Risiko von Verfolgung und Todesstrafe behauptet (N° 43611/11 «F.G. c. Schweden»).
Entscheid des Ausschusses vom 2.6.2014 zur Verweisung der Beschwerde N° 27510/08 «Perinçek c. Schweiz» an die Grosse Kammer