EGMR stützt Schweizer Entscheid über Wegweisung eines Eritreers
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist mit Urteil vom 20. Juni der Argumentation der Schweizer Behörden gefolgt, die einen Wegweisungsentscheid eines Eritreers als EMRK-konform betrachteten. Der Gerichtshof sieht in der Wegweisung keine Verletzung des in Art. 3 EMRK enthaltenen Folterverbots. Er verlangt jedoch, dass die Schweiz prüft, ob der bei Vollzug der Wegweisung drohende berüchtigte eritreische Militärdienst nicht mit Art. 4 EMRK (dem Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) konfligiert.
Der Beschwerdeführer, der in Eritrea als Deserteur inhaftiert worden war und daraufhin in die Schweiz floh, hatte im Jahr 2014 einen Asylantrag gestellt. Das Staatssekretariat für Migration lehnte den Antrag ab. Auch die dagegen ergriffenen Rechtsmittel zeitigten keinen Erfolg, betrachteten die Instanzen seine Aussagen doch als widersprüchlich und zu wenig konkret. Der Beschwerdeführer konnte auch nicht glaubhaft machen, dass ihm nach einer Rückkehr in sein Heimatland Folter oder unmenschliche Behandlung drohten. Den abweisenden Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts zog der Beschwerdeführer nach Strassburg weiter.
Die Strassburger Richter kamen zum Schluss, dass die Menschenrechtslage in Eritrea zwar prekär, eine Wegweisung jedoch nicht in jedem Fall unmöglich sei. Mit Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip entschied der EGMR, dass eine Wegweisung keine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots darstelle. Der Wegweisungsentscheid bleibt jedoch sistiert, da die Schweiz auf Weisung vom EGMR hin in einem neuen Verfahren zunächst abklären soll, ob die Wegweisung nicht Art. 4 EMRK verletzt.
Urteil der 3. Kammer des EGMR N° 41282/16 «M.O. c. Schweiz» vom 20.6.2017
Russland wegen Diskriminierung von Homosexuellen verurteilt
Der EGMR hat in einem Urteil das vom russischen Parlament verabschiedete Gesetz zum Verbot von Propaganda von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen als nicht EMRK-konform erklärt. Das Gesetz, welches sowohl von der parlamentarischen Versammlung des Europarats als auch von der Venedig-Kommission als EMRK-widrig betrachtet wird, soll gemäss Russland Minderjährige vor entsprechenden Einflüssen bewahren und damit die öffentliche Moral, die öffentliche Gesundheit sowie die Rechte anderer, nicht mit Homosexualität konfrontiert zu werden, schützen.
Im Ausgangsfall waren drei Aktivisten, die sich für die Rechte von LGBT-Personen einsetzten, einer Ordnungswidrigkeit schuldig gesprochen worden. Gemäss den russischen Behörden waren sie in öffentliche Aktivitäten verwickelt gewesen, die die Promotion von Homosexualität unter Minderjährigen zum Ziel hatten. Die Aktivisten machten vor dem EGMR geltend, dass das erwähnte Gesetz sie in ihrer Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK) beschränke und darüber hinaus diskriminierend sei (Art. 14 EMRK).
Das Strassburger Gericht erkannte eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 EMRK und prüfte daraufhin die Einschränkungsmöglichkeiten in Art. 10 Abs. 2 EMRK. Die Vorbringen Russlands wurden vom Gericht allesamt verworfen. Mit Bezug auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit konstatierte das Gericht, dass das Gesetz gerade das Gegenteil des Ziels befördere. So sei vielmehr die objektive und wissenschaftliche Darstellung von Homosexualität geeignet, die öffentliche Gesundheit zu schützen. Zuletzt erinnerte das Gericht daran, dass die EMRK kein Recht enthalte, mit anderen Überzeugungen nicht konfrontiert zu werden. Bemerkenswert vielsagend ist die «Dissenting Opinion» des russischen Richters, welcher darin verschiedentlich Homosexualität in die Nähe der Pädophilie rückt.
Urteil der 3. Kammer des EGMR N° 67667/09 «Bayew und andere c. Russland» vom 20.6.2017
EGMR verpasst Klärung des Beurteilungsspielraums zum Vollzug seiner Urteile
Inwiefern der EGMR über den Vollzug seiner Urteile auf Stufe der Mitgliedstaaten richten kann, sollte das Gericht im Fall «Moreira Ferreira (2) c. Portugal» beurteilen. Dabei ging es um die Weigerung des höchsten portugiesischen Gerichts, das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin nach dem Verdikt aus Strassburg neu aufzurollen.
Der EGMR hatte in seinem Urteil «Moreira Ferreira c. Portugal» im Jahr 2011 festgestellt, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK und das Recht auf ein faires Verfahren im Fall der Beschwerdeführerin verletzt worden waren. Im EGMR-Urteil von 2011 führten die Richter mit Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung aus, dass bei Verletzungen von Art. 6 EMRK die Neubeurteilung der Rechtssache beziehungsweise eine Revision des Urteils als Wiedergutmachung für die fälschlich zugefügte Rechtsverletzung möglich und eine verhältnismässige Option sei. Das höchste portugiesische Gericht weigerte sich jedoch in der Folge, das Verfahren neu aufzurollen beziehungsweise das Urteil zu revidieren, da es der Ansicht war, dass das EGMR-Urteil auch ohne neues Verfahren beziehungsweise ohne Revision umsetzbar sei. Die Beschwerdeführerin zog dieses Urteil daraufhin wieder nach Strassburg weiter und machte eine Verletzung von Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Vollzug der Urteile) sowie erneut von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend.
Die damit befasste grosse Kammer erklärte nun die Beschwerde für teilweise zulässig. So verneinte die Kammer ihre Zuständigkeit bezüglich der monierten Verletzung von Art. 46 EMRK und verwies darauf, dass nach Art. 46 Abs. 2 EMRK der Ministerrat für die Überwachung des Vollzugs von Urteilen zuständig ist. Hingegen sah das Gericht die Zuständigkeit für die Beurteilung einer erneuten Verletzung des Rechts auf ein ordentliches Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK als gegeben an. In der Folge befand eine knappe Mehrheit (neun gegen acht) der Richter, dass in der Weigerung des portugiesischen Gerichts, den Fall neu aufzurollen, keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 zu sehen sei. So sei eine Revision nicht die einzige Möglichkeit, um das ursprüngliche EGMR-Urteil umzusetzen. Auch habe das portugiesische Gericht in diesem Zusammenhang einen weiteren Beurteilungsspielraum. Die Mehrheit der Kammer urteilte demnach, dass keine erneute Verletzung von Art. 6 EMRK vorliege.
Wie die knappe Mehrheit zeigt, war sich das Gericht keineswegs einig, wie es die Verbindlichkeit seiner Urteile beurteilt. Während die Mehrheit auf den Ministerrat und dessen Kompetenzen verwies, kam der portugiesische Richter in seiner Minderheitsmeinung auf eine alternative Interpretation. Darin verweist er darauf, dass EGMR-Urteile keineswegs nur deklaratorischer Natur seien und die Rechtsprechung zu Art. 46 EMRK sehr wohl zwingende individuelle Auswirkungen zur Folge haben könnte.
Urteil der Grossen Kammer des EGMR N° 19867/12 «Moreira Ferreira (2) c. Portugal» vom 11.7.2017