Rüge an belgische Vollzugsanstalten für Behandlung psychisch Kranker
Am 5. September 2017 hiess die Kammer des EGMR die Beschwerde von zwei belgischen Staatsbürgern gut, deren Sohn 2009 im Strafvollzug verstarb, nachdem dieser von Vollzugsbeamten körperlich fixiert wurde.
Der Sohn des Ehepaares war zwischen 2007 und 2009 mehrmals in der psychiatrischen Abteilung einer belgischen Strafvollzugsbehörde untergebracht. Im August 2009 entschied die Staatsanwaltschaft, dass der Sohn der Beschwerdeführer wieder in die psychiatrische Abteilung des Jamioulx-Gefängnis in der Nähe von Charleroi unterzubringen sei, da er sich nicht an gewisse Auflagen gehalten habe. Untergebracht wurde er in der Folge in einer Einzelzelle des gewöhnlichen Vollzugs – also nicht in der psychiatrischen Abteilung. Im August ordnete die Vollzugsleitung gewisse Sicherheitsmassnahmen an. Der Sohn der Beschwerdeführer reagierte sehr gereizt, worauf die Beamten ihn mit einem sogenannten «Polizeigriff» abführten. Bei Ankunft in der Isolationszelle waren beim Inhaftierten Anzeichen für Sauerstoffmangel erkennbar. Kurz darauf verstarb er.
In der Folge wurde eine Untersuchung eingeleitet, in deren Verlauf die Vollzugsbeamten vom Vorwurf des Totschlags durch das Strafgericht von Charleroi freigesprochen wurden. Die Eltern legten gegen dieses Urteil Beschwerde ein, der Fall ist beim Berufungsgericht hängig. Beim EGMR machten die Eltern des Verstorbenen geltend, dass die Vollzugsbedingungen weder notwendig noch verhältnismässig waren und dass sie einer Verletzung des Rechts auf Leben aus Art. 2 EMRK gleichkämen.
Der EGMR gibt den Beschwerdeführern recht und spricht ihnen eine monetäre Entschädigung zu. Der Fall reiht sich in einer Reihe von Fällen ein, in denen Belgien mangelhafte Behandlung von psychisch Beeinträchtigten in Strafvollzugsanstalten vorgeworfen wurde. Im gleichen Jahr beschäftigte sich der EGMR bereits mit einem ähnlich gelagerten Fall (Urteil der 2. Kammer des EGMR N° 18052/11 «Rooman c. Belgien», 18.7.2017). Belgien wurde ebenfalls bereits mehrfach von verschiedenen internationalen Organisationen für die Zustände in Vollzugsanstalten gerügt. Diese Erkenntnisse wurden in beiden Fällen vom EGMR in seinen Urteilen beigezogen. Insbesondere wurde gerügt, dass belgische Vollzugsbeamte keine oder eine sehr schlechte Ausbildung im Umgang mit psychisch beeinträchtigten Häftlingen erhalten.
Urteil der 2. Kammer des EGMR N° 37795/13 «Tekin und Arslan c. Belgien» vom 5.9.2017
Portugal verletzte die Gleichstellung der Geschlechter
Die Beschwerdeführerin ist eine portugiesische Staatsbürgerin, die an einer gynäkologischen Krankheit leidet. 1995 liess sich die 50-jährige Frau operativ behandeln. Während des Eingriffs wurden Nervenbahnen im Intimbereich verletzt, sodass die Beschwerdeführerin fortan unter starken Unterleibsschmerzen litt. Ferner litt sie an Geh- und Sitzschwierigkeiten, Inkontinenz und der Unmöglichkeit, Geschlechtsverkehr zu haben.
Nachdem die Beschwerdeführerin das Spital erfolgreich auf Leistung einer monetären Entschädigung verklagt hatte, wurde diese Entschädigung durch ein Urteil vom höchsten portugiesischen Verwaltungsgericht signifikant herabgesetzt. Das Gericht befand, die Entschädigung sei zu hoch angesetzt, da Geschlechtsverkehr für eine Frau in ihrem Alter nicht mehr so wichtig sei, da sie insbesondere schon zwei Kinder habe.
Die Beschwerdeführerin macht sowohl eine Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK als auch eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben aus Art. 8 EMRK geltend. Insbesondere führt sie an, dass ihr Recht auf ein Sexualleben als Frau durch das Urteil des höchsten Gerichts verletzt würde.
Der EGMR hält in seinem Urteil fest, dass eines der Hauptziele der Mitgliedstaaten des Europarats die Gleichstellung zwischen Frau und Mann ist. In diesem Fall seien psychologische und physische Aspekte der weiblichen Sexualität für die Selbstbestimmung einer Frau und andere Aspekte der weiblichen Sexualität nicht berücksichtigt worden. Der EGMR vergleicht in seinem Urteil die Praxis der portugiesischen Gerichte bei zwei ähnlich gelagerten Fällen, in denen Männer keine Möglichkeit mehr hatten, Geschlechtsverkehr zu haben. Portugiesische Gerichte hielten in diesen Urteilen fest, dass die Männer an einer schweren Beeinträchtigung litten, unabhängig von ihrem Alter und vom Umstand, ob sie Kinder hätten. Der EGMR bejahte eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK.
Urteil der 4. Kammer des EGMR N° 17484/15 «Carvalho Pinto de Sousa Morais c. Portugal» vom 25.7.2017 in korrigierter Fassung vom 3.10.2017