Wiedereinreiseverbot für kranken Straftäter unverhältnismässig
Ein türkischer Staatsangehöriger hatte den grössten Teil seines Lebens in Dänemark verbracht. Er leidet an einer paranoiden Schizophrenie. Wegen eines Gewaltverbrechens wurde er im Jahr 2008 zu einer Massnahme in der Sicherheitsabteilung einer stationären Einrichtung für psychisch schwer Beeinträchtigte verurteilt. Zeitgleich wurde ein Landesverweis mit einem dauerhaften Einreiseverbot verfügt, woraufhin er im Jahr 2015 in die Türkei ausgeschafft wurde.
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte er zuvor eine Verletzung von Art. 3 (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) geltend gemacht. Dabei stützte er sich auf ärztliche Berichte, welche die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Behandlung betonten. Zudem hob er hervor, dass seine gesamte Familie in Dänemark lebe und er kein Türkisch spreche.
Am 19. Oktober 2019 erging in Strassburg das Kammerurteil: Mit 4 zu 3 Stimmen stellte das Gericht eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest (Art. 8 EMRK wurde nicht geprüft). Dänemark verlangte daraufhin die Überweisung der Sache an die Grosse Kammer. Diese stellte in ihrem Urteil vom 7. Dezember 2021 fest, dass kein Verstoss gegen Art. 3 EMRK vorliegt, jedoch einer gegen Art. 8 EMRK.
Bezugnehmend auf Art. 3 EMRK bekräftigte die Grosse Kammer ihren im Urteil Paposhvili gegen Belgien aufgestellten strengen Schwellentest, der unabhängig von der Art der Krankheit erforderlich sei. Demnach komme Art. 3 in Fällen von Abschiebungen körperlich oder psychisch kranker Personen nur zur Anwendung, wenn erstens der Gesundheitszustand der Person so kritisch ist, dass eine Abschiebung zu ihrem unmittelbaren Tod führen würde, oder zweitens unter anderen «sehr aussergewöhnlichen Umständen», wenn die humanitären Erwägungen, die gegen eine Abschiebung sprechen, ebenso zwingend seien. Letzteres umfasse Situationen, in denen eine Person zwar nicht unmittelbar vom Tod bedroht ist, aber mangels angemessener Behandlung oder Zugang zu einer angemessenen Behandlung im Aufnahmestaat Gefahr läuft, einer «schweren, raschen und irreversiblen Verschalechterung des Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu schwerem Leiden oder einer erheblichen Verringerung der Lebenserwartung führt».
Vorliegend sei vom Kläger nicht nachgewiesen worden, dass er durch die Ausweisung in die Türkei der realen Gefahr ausgesetzt worden sei, einer Behandlung unterzogen zu werden, welche die Schwelle gemäss Paposhvili erreicht hätte. Die Gefahr, die sich aus dem Behandlungsabbruch ergebe, scheine in erster Linie für andere Personen und nicht für den Antragsteller selbst zu gelten. Weil die Schwelle vorliegend nicht erreicht worden sei, sei Dänemark nicht verpflichtet gewesen, alle aufgeworfenen Zweifel auszuräumen und Zusicherungen einzuholen.
Indessen stellte das Gericht eine Verletzung des Rechts auf Privatleben (Art. 8 EMRK) fest: So sei zwar die Straftat des Beschwerdeführers schwerwiegend, doch sei in der Interessenabwägung nicht berücksichtigt worden, dass er zum Zeitpunkt der Tatbegehung an einer psychischen Störung gelitten habe, zu deren Symptomen auch körperlich aggressives Verhalten gehöre, und dass er wegen dieser psychischen Erkrankung letztlich nicht bestraft, sondern in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen worden sei. Daher sei die Möglichkeit eines Staats, sich zur Rechtfertigung der Ausweisung auf die Schwere der Straftat zu berufen, eingeschränkt. Darüber hinaus sei das Verhalten des Klägers in der Zeit zwischen der Straftat und seiner Ausweisung für die Beurteilung seiner Rückfallgefahr besonders wichtig. Auch seine Beziehungen zu Dänemark und seine begrenzten Verbindungen zur Türkei hätten stärker berücksichtigt werden müssen. Schliesslich stellte der EGMR fest, dass das gegen den Kläger verhängte unbefristete Wiedereinreiseverbot unverhältnismässig ist.
Urteil 57467/15 der Grossen Kammer vom 7.12.2021, Savran c. Dänemark
Zeitung muss Identität von Kommentarschreibern nicht preisgeben
In seinem Urteil Standard Verlagsgesellschaft gegen Österreich stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit gemäss Art. 10 EMRK fest.
In der Sache ging es um die Preisgabe der Identität von drei Autoren, die in ihren Beiträgen in der Online-Kommentarspalte der Zeitung «Der Standard» die Partei der «Freiheitlichen in Kärnten» (FPK) sowie die Politiker Herbert Kickl (FPÖ) und Uwe Scheuch (BZÖ/FPK) unter anderem mit Korruption und Neonazis in Verbindung gebracht hatten. Die FPK und Politiker forderten die Löschung der Kommentare sowie die Offenlegung der Benutzerdaten. Der «Standard» kam lediglich der ersten Forderung nach. Daraufhin klagten die Politiker und die FPK gegen den Verleger auf Freigabe der Identitäten der Kommentarschreiber. Der Oberste Gerichtshof (OGH) urteilte 2014, dass der «Standard» die Nutzerdaten herausgeben muss. Dagegen legte der Verlag Beschwerde beim EGMR ein.
Der EGMR stellte zunächst fest, dass Nutzer, die sich an die Öffentlichkeit und nicht an einen Journalisten wenden, nicht als journalistische «Quellen» gelten, weshalb sie an sich nicht durch das Redaktionsgeheimnis geschützt sind. Es bestehe jedoch ein Zusammenhang zwischen der Veröffentlichung von Artikeln und der Ermöglichung von Kommentaren zu diesen Artikeln auf einem Nachrichtenportal.
Die allgemeine Funktion der Zeitung bestehe darin, die offene Debatte zu Themen von öffentlichem Interesse zu fördern, die durch die Pressefreiheit geschützt seien. Eine Verpflichtung zur Offenlegung von Nutzerdaten würde eine abschreckende Wirkung entfalten und diese Debatte gefährden. Zwar sehe die EMRK kein absolutes Recht auf Online-Anonymität vor. Anonymität sei jedoch ein Mittel, um Repressalien oder unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden, weshalb sie geeignet sei, den freien Fluss von Meinungen, Ideen und Informationen zu fördern, insbesondere auch im Internet. Diese Anonymität wäre nicht wirksam, wenn die Klägerin sie nicht mit eigenen Mitteln verteidigen könnte. Die Aufhebung der Anonymität durch die staatlichen Gerichte hätte daher in das Recht der Zeitung auf Pressefreiheit eingegriffen.
Der Gerichtshof vertrat weiter die Auffassung, dass es sich bei den fraglichen Posts weder um Volksverhetzung noch um Aufstachelung zur Gewalt gehandelt habe, sondern um politische Kritik. Es wäre die Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte gewesen, die konkurrierenden Interessen abzuwägen. Dies hätten sie jedoch unterlassen.
Urteil 39378/15 vom 7.12.2021, Standard Verlagsgesellschaft mbH c. Österreich