Diskriminierende Regelung der Witwerrente in der Schweizer Altersvorsorge
Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat die Schweiz in einem wegweisenden Entscheid wegen der Diskriminierung eines Mannes verurteilt, dessen Witwerrente gestrichen wurde, nachdem seine Kinder volljährig wurden. Dabei stellte das Gericht eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Artikel 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) fest.
Das Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung sieht vor, dass der Anspruch eines Witwers auf eine Witwerrente endet, wenn das jüngste Kind 18 Jahre alt wird. Bei einer Witwe wird die Witwerrente über die Volljährigkeit der Kinder hinaus ausgerichtet. Entsprechend machte der Beschwerdeführer vor dem EGMR geltend, dass er gegenüber Witwen in einer vergleichbaren Situation ungleich behandelt worden sei. Die Schweiz brachte vor, dass es immer noch gerechtfertigt sei, sich auf die Annahme zu stützen, dass der Ehemann für den finanziellen Unterhalt der Ehefrau gesorgt habe, insbesondere wenn sie Kinder habe, und somit Witwen ein höheres Schutzniveau zu gewähren sei als Witwern. Die unterschiedliche Behandlung beruhe nicht auf geschlechtsspezifischen Stereotypen, sondern auf der sozialen Realität.
Die Grosse Kammer teilte diese Ansicht nicht. Sie stellte fest, dass der Beschwerdeführer zwischen 1997 und 2010 die Witwerrente bezogen und die wichtigsten Aspekte seines Familienlebens zumindest teilweise auf der Grundlage dieser Rente organisiert hatte. Die heikle finanzielle Situation, in der er sich im Alter von 57 Jahren angesichts des Verlusts der Rente und seiner Schwierigkeiten bei der Rückkehr auf den Arbeitsmarkt befand, dem er 16 Jahre lang ferngeblieben war, war die Folge der Entscheidung, die er Jahre zuvor im Interesse seiner Familie getroffen hatte und die seit 1997 durch den Bezug der Witwerrente unterstützt wurde. Die Grosse Kammer stellt fest, dass sich der Beschwerdeführer zwar in einer vergleichbaren Situation befunden habe, was seine Unterhaltsbedürfnisse anbelangt, dass er aber nicht in gleicher Weise wie eine Witwe behandelt worden sei. Er sei daher einer Ungleichbehandlung ausgesetzt gewesen.
Die Schweiz habe keine «besonders gewichtigen und überzeugenden Gründe» nachgewiesen, die eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts rechtfertigten. Namentlich könne sich die Regierung nicht auf die generelle Annahme berufen, dass der Ehemann der «Ernährer» der Familie sei. Laut EGMR wirken sich die fraglichen Bestimmungen sowohl auf die berufliche Laufbahn von Frauen als auch auf das Familienleben von Männern nachteilig aus.
Das Urteil, welches wegen seiner Bedeutung durch die Grosse Kammer mündlich verlesen wurde, macht eine Revision des AHV-Gesetzes notwendig. Offen ist, ob in Zukunft Männern über die Volljährigkeit ihrer Kinder hinaus eine Witwerrente zugesprochen wird oder ob die Rentenzahlung bei Witwen in Zukunft nach Volljährigkeit der Kinder gestrichen wird. Seit dem 11. Oktober 2022 gilt eine Übergangsregelung, die ersteres Modell einführt (vgl. Mitteilungen an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen Nr. 460).
Urteil 78630/12 der Grossen Kammer vom 11.10.2022, Beeler c. Schweiz
Verdacht auf Racial Profiling erfordert eine unabhängige Untersuchung
Der EGMR äusserte sich in zwei Urteilen zur Untersuchungspflicht bei Racial-Profiling-Vorwürfen gegen Staatsangestellte. Beide Beschwerdeführer rügten vor dem EGMR eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Artikel 14 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK). Während der EGMR im einen Urteil eine Verletzung dieser Rechte durch Deutschland feststellte, sah er im anderen Fall gegen Spanien keine Verletzung der Untersuchungspflicht und keine Diskriminierung.
Der erste Beschwerdeführer, ein deutscher Staatsangehöriger indischer Herkunft, wurde im Juli 2012 mit seiner Tochter in einem Zug an der Grenze zu Deutschland durch zwei Polizisten einer Identitätskontrolle unterzogen – als Einzige im Abteil. Auf die Frage nach dem Grund hiess es, es handle sich um eine Zufallskontrolle. Einer der Polizisten fügte später hinzu, dass in diesem Zug häufig Zigaretten geschmuggelt würden, bestätigte aber, dass es dafür keinen konkreten Verdacht gegeben habe. Der Beschwerdeführer ging gegen die Polizeikontrolle rechtlich vor. Die deutschen Gerichte lehnten es indes ab, die Beschwerde inhaltlich zu prüfen. Sie argumentierten, dem Beschwerdeführer fehle ein Feststellungsinteresse.
Der EGMR hingegen hält Artikel 8 EMRK für anwendbar, wenn der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er aufgrund bestimmter körperlicher oder ethnischer Merkmale kontrolliert wurde. Das könne insbesondere dann erfüllt sein, wenn der Betroffene vorgetragen habe, dass er die einzige Person gewesen sei, die einer Kontrolle unterzogen worden sei, und keine anderen Gründe für die Kontrolle ersichtlich gewesen seien, oder wenn die Erklärungen der die Kontrolle durchführenden Beamten körperliche oder ethnische Motive erkennen liessen. Sei dies der Fall, könne eine Kontrolle in der Öffentlichkeit, wie vorliegend in einem Zug, Auswirkungen auf den Ruf und die Selbstachtung einer Person haben. Vorliegend habe der Beschwerdeführer zudem vorgebracht, dass er sich wegen der Kontrolle so stigmatisiert gefühlt habe, dass er monatelang nicht mehr Zug gefahren sei. Entsprechend sei der Anwendungsbereich von Artikel 8 EMRK und damit auch von Artikel 14 EMRK, die Achtung des Privatlebens ohne Diskriminierung zu geniessen, eröffnet. Die Frage, ob die Identitätskontrolle diskriminierend war, liess der Gerichtshof jedoch offen.
Der EGMR hält fest, dass der Staat auch bei gewaltlosen staatlichen Handlungen wie der vorliegenden Identitätskontrolle verpflichtet ist, Zusammenhänge zwischen rassistischen Einstellungen und der Handlung eines Staatsbediensteten zu untersuchen. Die nach Artikel 14 EMRK verbotene Rassendiskriminierung stelle eine besonders schwerwiegende Form der Diskriminierung dar und erfordere angesichts ihrer gefährlichen Folgen eine besondere Wachsamkeit und eine energische Reaktion der Behörden.
Die im konkreten Fall vorgenommene interne Untersuchung durch die vorgesetzten Polizeibehörden erachtete der Gerichtshof aufgrund der institutionellen Verbindung als nicht unabhängig. Die daraufhin eingeschalteten Verwaltungsgerichte hatten es versäumt, Beweise zu erheben und Zeugen zu hören, die bei der Identitätskontrolle anwesend gewesen seien. Alles in allem seien die staatlichen Behörden ihrer Pflicht nicht nachgekommen, eine wirksame unabhängige Untersuchung des Vorfalls durchzuführen.
In einem am selben Tag gefällten Urteil in der Sache Muhammad gegen Spanien entschied der EGMR mit 4 zu 3 Stimmen, dass keine Verletzung von Artikel 14 und Artikel 8 EMRK vorlag. Im Fall ging es um zwei pakistanische Staatsangehörige, die bei einem Spaziergang in einer Tourismuszone von der Polizei angehalten und auf ihre Identität kontrolliert wurden. Der Beschwerdeführer behauptete, dass die Kontrolle aufgrund seiner Hautfarbe erfolgte, was ihm auch durch die Polizisten bestätigt worden sei, während die Polizei angab, dass er sich vor der Kontrolle respektlos verhalten habe. Die darauf vom Beschwerdeführer angestrebte Staatshaftungsklage wegen Diskriminierung wurde mit der Begründung eingestellt, der Beschwerdeführer habe seine Vorwürfe nicht ausreichend begründet. Der Gerichtshof entschied, dass die spanischen Behörden ihrer Untersuchungspflicht insoweit nachgekommen sind, als dass der vorhandene rechtliche Rahmen es dem Beschwerdeführer ermöglicht hat, die hinreichend begründeten Entscheidungen der spanischen Gerichte anzufechten.
Beide Urteile könnten für die hängige Beschwerde von Mohammad Shee Wa Baile gegen die Schweiz von Bedeutung sein (eingereicht am 10. Dezember 2018, Nr. 43868/18). Wa Baile war im Hauptbahnhof Zürich am 5. Februar 2015 als Einziger und ohne einen konkreten Verdacht einer Personenkontrolle unterzogen worden, woraufhin er einen Prozess durch alle Instanzen hindurch gegen Racial Profiling führte.
Urteile 215/19 vom 18.10.2022, Basu c. Deutschland und 34085/17 Muhammad c. Spanien