Verbot der ärztlich assistierten Sterbehilfe ist zulässig
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt fest, dass das ungarische Verbot ärztlicher Sterbehilfe das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK) und das Diskriminierungsverbot (Artikel 14) nicht verletzte.
Ein an einer unheilbaren Krankheit leidender Beschwerdeführer hatte die ungarischen Behörden aufgefordert, ihm Zugang zur ärztlich assistierten Sterbehilfe zu gewähren, bevor die Krankheit ein fortgeschrittenes Stadium erreicht. Nach ungarischem Recht ist es strafbar, jemandem bei der Beendigung seines Lebens zu helfen. Jeder, der in Ungarn oder im Ausland Hilfe anbietet, kann strafrechtlich verfolgt werden.
In seiner Beschwerde beim EGMR machte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf Achtung seines Privatlebens geltend, weil er aufgrund der ungarischen Gesetzgebung nicht in der Lage sei, sein Leben mit Hilfe anderer zu beenden. Zudem werde er im Vergleich zu unheilbar kranken Patienten, die sich lebenserhaltenden Behandlungen unterziehen, diskriminiert. Denn Letztere dürften einen Abbruch ihrer Behandlung verlangen.
Der EGMR hebt in seinem Urteil hervor, die Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats verbiete den ärztlich assistierten Suizid und die Euthanasie. Die Staaten würden über einen weiten Ermessensspielraum bei der Regulierung der Sterbehilfe verfügen. Zum vorliegenden Fall urteilt das Gericht, die ungarischen Behörden hätten die auf dem Spiel stehenden Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen.
In Bezug auf das Vorbringen der Diskriminierung stellte der EGMR fest, die Verweigerung oder der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung sei untrennbar mit dem Recht auf freie und informierte Zustimmung verbunden und könne nicht mit dem Recht auf Sterbehilfe verglichen werden. So seien die Verweigerung und der Abbruch lebenserhaltender Massnahmen von der Ärzteschaft allgemein anerkannt und in der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats erlaubt. Eine unterschiedliche Behandlung der beiden Situationen sei gerechtfertigt.
EGMR-Urteil 32312/23 vom 13.6.2024, Daniel Karsai c. Ungarn
Beschränkung des Zugangs zu Archiven verletzt die Meinungsäusserungsfreiheit
Der EGMR stellt einstimmig fest, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung (Artikel 10 EMRK) durch die russische Behinderung des Zugangs zu Archiven verletzt ist. Die Beschwerdeführer – russische Forscher, die Nichte eines in sowjetischer Haft verschwundenen schwedischen Diplomaten und eine Nichtregierungsorganisation – hatten den Zugang zum Archiv über die Geschichte der politischen Unterdrückung in der Sowjetunion verlangt.
Die Antragsteller wurden von den russischen Behörden abgewiesen, mit unvollständigen Informationen versorgt oder an der Anfertigung von Kopien gehindert. Vor dem EGMR machten die Beschwerdeführer geltend, dass die Beschränkung des Zugangs zu den Archiven ihr Recht auf Information verletzte.
Der EGMR hält fest, dass die Suche nach der historischen Wahrheit ein integraler Bestandteil der Meinungsfreiheit sei. Aus diesem Grund sei die Verweigerung des Zugangs zu den archivierten Informationen oder des Rechts, Kopien oder Fotos von solchen Informationen anzufertigen, als Eingriff in das Recht auf Informationserhalt zu qualifizieren. Den potenziellen Eingriff in die Privatsphäre anderer erachtet der EGMR als minimal, da seit den fraglichen Aktivitäten in den 1930er- und 1940er-Jahren viel Zeit verstrichen sei.
EGMR-Urteil 58029/12 vom 18.6.2024, Suprun et al c. Russland
Gesetz zu «unerwünschten» Organisationen in Russland verletzt die Konvention
Seit 2015 erlaubt es ein Gesetz russischen Beamten und Staatsanwälten, ausländische und internationale Organisationen in Russland aussergerichtlich für «unerwünscht» zu erklären und sie dazu zu zwingen, ihre Tätigkeit einzustellen. Der Gerichtshof stellt nun einstimmig einen Verstoss Russlands gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gemäss Artikel 11 EMRK in Bezug auf vier beschwerdeführende «unerwünschte» Organisationen und zusätzlich einen Verstoss gegen die Meinungsfreiheit (Artikel 10 EMRK) von Privatpersonen fest, die wegen ihrer Beteiligung an anderen «unerwünschten» Organisationen strafrechtlich verfolgt wurden.
Der Gerichtshof hält fest, dass das Gesetz nicht so präzis formuliert sei, dass die Organisationen hätten vorhersehen können, dass ihre sonst rechtmässigen Handlungen zu ihrer Einstufung als «unerwünscht» und zu einem Verbot ihrer Aktivitäten in Russland führen würden. Der EGMR erwog überdies, dass es an angemessenen Schutzvorkehrungen gegen den willkürlichen und uneingeschränkten Ermessensspielraum der russischen Behörden mangelt. Es entschied, dass das Gesetz die Anforderung der EMRK nicht erfüllt.
EGMR-Urteil 37949/18 und 84 andere vom 18.6.2024, Andrey Rylkov Foundation et al. c. Russlandcr