plädoyer: Einige Professoren sprechen beim Stichwort Bologna-Reform von einer «intellektuellen Kapitulation». Sie kritisieren die Verschulung des Studiums. Haben sie recht?
Franz Werro: Ich habe das Gefühl, dass die Studierenden auf Bachelor-Stufe «schülerhafter» sind, weniger reif und weniger motiviert als im alten System. Und dass sie eher mit Kalkül lernen. Auf diese Tendenz haben die Verlage mit entsprechenden Lehrmitteln für Bachelor-Studenten reagiert. Beliebt sind bei den Studenten jene Werke, die möglichst einfach zu verarbeiten sind. Die intellektuelle Neugier geht dabei verloren. Auch die Lust, etwas selbst herauszufinden. Mir scheint, die Studenten wollen mit einfachen - oder gar vereinfachenden - Wahrheiten gefüttert werden.
Walter Stoffel: Dazu muss man zuerst verstehen, was «Bologna» genau meint. Es handelt sich dabei um ein System der formellen Harmonisierung der Universitätsstudien. Man braucht 180 ETCS-Punkte, um den Bachelor zu erwerben. Das dauert im allgemeinen drei Jahre. 90 weitere Punkte sind notwendig, um den Master zu erwerben. Dieses System fördert nicht das Lernen mit Kalkül als vielmehr die Möglichkeit, die Studienfächer viel sinnvoller auszuwählen als nach dem alten System.
plädoyer: Franz Werro, Sie werfen den Studenten vor, «mit Kalkül» zu lernen. Kritisieren Sie damit die gewählten Fächerkombinationen? Oder meinen Sie das System der Kreditpunkte?
Werro: Mit jeder Vorlesung und jedem Seminar erhalten die Studenten eine bestimmte Anzahl Kreditpunkte. Das führt dazu, dass die Studenten viel mehr rechnen und sich überlegen, wo es am schnellsten und einfachsten am meisten Punkte gibt. Ich erlebe, wie um Punkte gefeilscht wird, wenn ich eine Veranstaltung organisiere. Das ist zum Glück auf Master-Stufe etwas weniger der Fall, da die Studierenden mehr Selbststudium betreiben müssen. Doch diese Master-Phase von eineinhalb Jahren ist zu kurz.
plädoyer: Diese Kritik hört man auch aus der Praxis: Anwälte beklagen sich, dass ihre Substitute keinen Blick mehr fürs Ganze haben, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Rechtsgebieten nicht sehen. Ein hervorragender Master nütze nichts, wenn er auf einer exotischen Fächerkombination beruhe.
Stoffel: Im alten System hatte man als Professor oft das Gefühl, ein Bergführer zu sein, der die Studenten bis zur Hütte führt, sie dann aber für das letzte Stück bis zum Gipfel alleine gehen lässt. Ein Vergleich, der damals von Professor Gauch gemacht wurde. Mit Bologna hat man ein System geschaffen, bei dem Professor und Studenten auch nach der Hütte gemeinsam weitergehen. Man muss jedoch nicht jeden Gipfel besteigen, es reicht, einen oder zwei zu erklimmen. Deshalb muss man die Wahlmöglichkeiten anbieten.
Werro: Wenn man davon ausgeht, dass der Master-Teil des Studiums der interessantere ist, weil die Studierenden sich dann Stoff im Selbststudium aneignen und an der Vorlesung anwenden müssen, sollte man den Bachelor-Studiengang auf zwei Jahre verkürzen und denjenigen zum Master auf zwei Jahre verlängern.
plädoyer: Die Idee des Bachelor war, Juristen-Generalisten auszubilden, die ein Basiswissen aller Rechtsgebiete haben. Doch nur wenige Bachelor-Absolventen beginnen ihre Berufskarriere, weil sie mit diesem Titel keine Stelle finden. Die meisten machen den Master.
Werro: Der Bachelor-Studiengang ist eine schlechte Kopie der «undergraduate studies» der USA - also einer universitären Erstausbildung. Tatsächlich zeigt sich auf dem Arbeitsmarkt, dass man solche Leute nicht will. Dieser Misserfolg war vorhersehbar, da man mit dem Bachelor Juristen mit einer unfertigen Ausbildung hervorbringt.
Stoffel: Für mich ist der Bachelor im Jus-Studium nur eine Etappe: Man kann zwar mit diesem Titel schon auf das Anwaltspatent hinarbeiten, aber nur mit einem Master kann man die Anwaltsprüfung ablegen. Erst der Master öffnet somit das Berufsleben. Persönlich finde ich das richtig, aber sehen das auch unsere Absolventen so? Es wird noch einige Jahre dauern, bis wir evaluieren können, was die Zweiteilung des Studiums den Studenten wirklich gebracht hat. Vielleicht wird sich trotzdem eine Nachfrage nach Bachelor-Juristen entwickeln. Auf jeden Fall können und müssen wir nun dafür sorgen, dass die Möglichkeiten des interdisziplinären Studiums auf Master-Ebene, zum Beispiel zwischen dem Rechts- und dem Wirtschaftsstudium, ausgenützt werden können.
plädoyer: Nivardo Ischi, ehemaliger Generalsekretär der Schweizerischen Universitätskonferenz, sieht die Bologna-Reform positiv: sie habe Dynamik in die Universitätslehre gebracht und Transparenz ins akademische System. Können Sie dem zustimmen?
Stoffel: Ja, die Universitätslehre hat an Dynamik gewonnen, vor allem wenn man die ganze Universität anschaut und nicht nur die Rechtsfakultäten. Auf Master-Stufe sind die Studiengänge universitärer und akademischer geworden, die Studierenden werden mehr dazu angeregt, Dinge zu hinterfragen und zu reflektieren. Auf Bachelor-Stufe verlieren die Studenten weniger Zeit, weil das Studium besser strukturiert wurde. In Zukunft müssen wir das Studium auch auf der Ebene der Methodik reformieren, insbesondere durch Verstärkung des interaktiven, problemorientierten Unterrichts.
Werro: Der Spezialisierungsprozess hat die Konkurrenz zwischen den Universitäten angeheizt. Darin liegt sicher eine gewisse Dynamik. Alle Universitäten wollen so viele Master-Studenten wie möglich gewinnen. Das erachte ich aber nicht als positiv. Mich befremdet, wie viele spezialisierte Master-Studiengänge es gibt - ohne dass man sich fragt, ob es Studiengänge mit einem so hohen Spezialisierungsgrad wirklich braucht. Was der Arbeitsmarkt braucht, ist doch ein Master-Studiengang, der das allgemeine Wissen vertieft.
Stoffel: Diese Master-Studiengänge richten die Ausbildung aus, zum Beispiel in Richtung Privatrecht, öffentliches Recht, Familienrecht, Vertragsrecht. Doch das sind nur Variationen einer Grundausbildung und keine Spezialisierung, die zu diesem Zeitpunkt auch nicht erwünscht wäre.
plädoyer: Die Bologna-Reform sollte die Mobilität der Studenten fördern. Das klappte aber offensichtlich nicht (plädoyer 2/11). Jede Uni hat ihr eigenes Reglement beibehalten und anerkennt Studiengänge aus dem Ausland nur von Fall zu Fall. Wie könnte man den Studentenaustausch verbessern?
Stoffel: Um die Situation richtig einzuschätzen, darf man nicht nur die Mobilität in den letzten fünf Jahren anschauen. Die Wiedereinführung von Reglementen zur Anerkennung von Studiengängen steht im Gegensatz zur Idee von Bologna. Hier müssten die Jus-Fakultäten noch mal über die Bücher.
Werro: Die Idee von Bologna war, dass im Ausland besuchte Studiengänge anerkannt würden. Man muss aber feststellen, dass Anwaltskanzleien wenig Wert auf ausländische Studiensemester legten. Es wurde eine Ausbildung vorgezogen, die lokale Gegebenheiten in Prozessfragen und helvetische Besonderheiten in den Mittelpunkt stellt. Es gab also einen Widerspruch zwischen den Ansprüchen des Arbeitsmarktes und den Erwartungen der Studenten.
plädoyer: Urs Würgler, abtretender Rektor der Uni Bern, sagte kürzlich in einem Interview: «Persönlich bin ich überzeugt, dass die schweizerischen Universitäten eine Bologna-Reform nicht nötig gehabt hätten. Sie führte zu einem völlig undurchsichtigen Titelwirrwarr und zu unnötigen Verschulungen.» Was ist in der Schweiz bei Bologna schiefgelaufen?
Werro: Ich hatte immer das Gefühl, die Schweizer Unis hätten sich bei Bologna als Musterschüler zeigen wollen, während die Reform in Europa noch gar nicht gut lief. Die Idee war, die Mobilität der Studenten zu vergrössern - doch das hat nicht funktioniert. Deutschland hat die Reform nie akzeptiert. Frankreich hat sie akzeptiert, aber ich habe nicht das Gefühl, dass die Reform so umgesetzt wurde, dass es zu radikalen Änderungen geführt hat. Die Semesterdaten der Unis wurden nicht angepasst. Noch immer ist es schwierig, dass Studiengänge gegenseitig anerkannt werden. Ich frage mich, ob hier der Berg nicht eine Maus geboren hat!
Stoffel: Damit bin ich gar nicht einverstanden: Bologna war eine formelle Reform, nicht mehr, nicht weniger. Die Studiendauern wurden europaweit harmonisiert, ebenso die erforderliche Menge Kreditpunkte. Heute kann man Universitätsdiplome innerhalb von Europa besser vergleichen. Allerdings ist dieser Vergleich nicht vollständig möglich, weil das System nicht überall eingeführt wurde und der Wert eines Kreditpunktes nicht überall der gleiche ist. Doch man darf die formelle Harmonisierung nicht unterschätzen: Das Austauschprogramm Erasmus wäre ohne Bologna noch viel komplizierter.
plädoyer: Was könnte in der Schweiz bei Bologna verbessert werden? Einige Universitäten - so beispielsweise Zürich - wollen die Anzahl der Prüfungen reduzieren. Ist das eine gute Idee?
Werro: Ich finde, wir müssten in Freiburg auf eine der drei Prüfungssessionen verzichten. Dies, damit die Dozenten wieder Zeit für die Forschung haben.
Stoffel: Es gibt tatsächlich heute zu viele Prüfungen - aus Sicht der Studenten und der Dozenten. Das ist eine Folge der Bologna-Reform - einer Reform, die mehr Dozierende voraussetzen würde, damit das System funktioniert. Deshalb könnte es sich lohnen, über die Zahl der Prüfungen zu diskutieren. Kontraproduktiv war sicherlich die Anpassung der Semesterdaten und die Streichung der langen Sommerpause. Allerdings hat dieser neue Semesterkalender mit Bologna nichts zu tun?- denn unsere Semesterdaten wurden nur mit Island harmonisiert! Das müssen wir dringend überdenken.