Noch heute ist mir eine Gerichtsverhandlung in bester Erinnerung, die ich verfolgte, weil ich auf meinen «Auftritt» in der folgenden Verhandlung wartete. Eine befreundete Kollegin blätterte in ihrer Gesetzessammlung auf der Suche nach einer Vorschrift. Der gegnerische Anwalt schaute ihr zu und meinte dann mit süffisantem Lächeln: «Gell, Frau Kollegin, mit einem Kochbuch gehts einfacher, oder?»
Ich war ebenso sprachlos wie meine Kollegin, die sichtlich nach Atem rang, der aber gerade die passende Antwort – wem gelingt das schon? – nicht einfiel. Am Abend des gleichen Tages rief sie mich an und sagte mir: «Jetzt habe ich die richtige Antwort gefunden. Ich hätte ihm antworten sollen: ‹Und Ihnen, Herr Kollege, würde ich raten, mehr in Kochbüchern zu lesen und weniger zu essen› ». Dieser Kollege hatte eine ziemlich füllige Figur.
An diese Situation musste ich seitdem immer denken, wenn ich in Verhandlungen persönlichen Angriffen oder zynischen Bemerkungen ausgesetzt war.
Fragen wir uns also: Wie reagieren wir am besten, wenn Verhandlungen schwierig werden?
Wann werden Verhandlungen schwierig? Dies ist nach meiner Erfahrung der Fall, wenn eine Seite die rationale Grundlage verlässt und stattdessen persönliche Angriffe und emotional verletzende Verhaltensweisen einsetzt, Macht oder Druck ausübt oder versucht, die andere Seite auf unbewusster Ebene mit List und Manipulation in eine bestimmte Richtung zu führen.
Was empfiehlt die Verhandlungswissenschaft? Nach meinen Feststellungen kann man an europäischen Rechtsfakultäten eine Menge über Römisches Recht lernen, aber wenig darüber, wie man in der Praxis des juristischen Berufes richtig kommuniziert und verhandelt. Demgegenüber wird an vielen Universitäten in den USA seit den 1970er Jahren auf dem Gebiet der Verhandlungsführung intensiv geforscht und gelehrt.1 So verwundert es auch nicht, dass das weltweit bekannteste Buch über Verhandlungsführung von einem amerikanischen Professor und zwei seiner damaligen Mitarbeiter stammt, die an der Harvard Law School lehrten.2 So müssen wir also, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in die USA schauen, wenn wir etwas aus wissenschaftlicher Sicht über die Verhandlungsführung erfahren wollen. Von dort erhalten wir als grundsätzliche Empfehlung für solche Situationen die Botschaft: Gehen Sie mit Irrationalität rational um! 3
Das heisst: Springen Sie nicht auf den Zug der Irrationalität auf, den Ihr Verhandlungspartner in Gang gesetzt hat, sondern stoppen Sie die Lokomotive so schnell wie möglich. Was heisst das nun konkret?
Umgang mit persönlichen Angriffen. Eine ausführliche Handlungsanweisung für den Umgang mit persönlichen Angriffen, Aggression und Abwertung würde ein Buch füllen. Ich werde versuchen, nachfolgend die Essenz für dieses Gebiet in vier Schritten herauszuarbeiten.
1. Gewinnen Sie den Überblick!
In Situationen verbaler Aggression setzt unser Körper wie in früheren Zeiten bei lebensgefährdenden Situationen Adrenalin frei, um uns für die Reaktion Flucht oder Kampf zu rüsten. Leider laufen im Körper biochemisch noch genau dieselben Prozesse ab wie vor Tausenden von Jahren. Verhält sich ein Verhandlungspartner unfair und gerate ich dadurch in Stress, ist es wichtig, reflexartige Reaktionen zu vermeiden.
Gelingt es Ihnen nicht, in kurzer Zeit Ihre Gedanken zu ordnen, nehmen Sie sich ein «Time-out» durch die Anwendung sogenannter Stopp-Techniken. Sie können beispielsweise unter dem Vorwand, auf die Toilette zu gehen, das Zimmer verlassen. Oder: Sie können mit einer fahrigen Handbewegung Ihr Wasserglas auf dem Tisch umwerfen, was bei den folgenden «Trocknungsübungen» aller Beteiligten genug Zeit für einen klaren Kopf schafft.
2. Entwaffnen Sie den Angreifer und benennen Sie den Angriff! Durch die Stopp-Technik gewinnen Sie Zeit, sich zu fragen: Was ist hier eigentlich passiert? Und: Wie kann ich weitere Angriffe der anderen Seite unterbinden? Es ist wichtig, den Angriff zu erkennen und zu zeigen, dass Sie solche Verhaltensweisen nicht akzeptieren. Ziel sollte sein, die andere Seite dazu zu bewegen, das Feuer sofort einzustellen und die Kampfhandlungen zu unterbrechen.
3. Verstehen Sie die Situation und prüfen Sie Ihren Anteil! Eine Feuerpause ist kein dauerhafter Waffenstillstand. Den kann ich nur erreichen, wenn ich die Ursachen für die Aggression meines Verhandlungspartners ausräumen kann. Ziel bei diesem Schritt ist es, herauszufinden, was der Grund für das unfaire Verhalten der anderen Seite ist.
4. Verhandeln Sie über die Einstellung weiterer Angriffe! Bevor Sie wieder in die Verhandlung einsteigen, sollten Sie ansprechen, was aus Ihrer Sicht vorgefallen ist. Das kann Wunder wirken. War es eine Reaktion auf Ihr Verhalten, ist es vielleicht angebracht, dass Sie sich entschuldigen. Geht der Verhandlungspartner auf Ihren Wunsch zur «Normalisierung» der Verhandlung ein, können Sie die Verhandlung fortsetzen, ansonsten sollten Sie sich ernsthaft überlegen, ob Sie die Verhandlung abbrechen, spätestens jedoch, wenn sich die andere Seite noch einmal in solcher Weise verhält.
Anderer Umgang mit List und Manipulation. List und Manipulation unterscheiden sich von den vorher beschriebenen persönlichen Angriffen dadurch, dass sie auf einer verdeckten Ebene stattfinden. Man kann sie also nicht offen ansprechen. Denn wer List und Manipulation anwendet, würde sich diese Unterstellung sofort strengstens verbitten. List und Manipulation sind eine gezielte Einflussnahme auf Denken, Fühlen und Verhalten eines anderen. Im Unterschied zur Manipulation lässt die List den anderen seinen Fehler selbst begehen, während der Manipulator versucht, die andere Seite an den Haken zu bekommen und dann zu führen.
In China wird es hochgeachtet, Listen anzuwenden und zu durchschauen. Als Kriegslisten (auch als Strategeme bezeichnet) haben sie besondere Berühmtheit erlangt. Die aus der Kriegskunst stammenden 36 Strategeme 4 sind Allgemeingut in China. Die bewundernde Anerkennung steht im Gegensatz zur europäischen Tradition, wo die Anwendung von Listen oft einen negativen Beigeschmack hat.5 Europäische Manager sind bei ihren Verhandlungen in China, wie sie berichten, immer wieder auf listige Verhaltensweisen gestossen, die ihnen grossteils unbekannt waren und auf die sie hereingefallen sind, wenn sie sich nicht auf diese Art der Verhandlungsführung vorbereitet hatten.
Ein Beispiel ist das 9. Strategem: «Das Feuer vom gegenüberliegenden Ufer aus beobachten – du siehst gelassen zu, wie deine Gegner ihre Zwistigkeiten miteinander austragen, und wartest darauf, dass sie sich gegenseitig vernichten.» Ein Beispiel ist das Verhalten Chinas bei den Invasionen der USA in Afghanistan und im Irak. Obwohl die Kriegshandlungen vor seiner Tür stattfanden, mischte sich China nicht ein, während die Amerikaner nutzlose Kriege führten und dabei umfangreiche Ressourcen verbrauchten. Stattdessen setzte China in Ruhe und mit zielfokussierter Strategie seine Mittel in Afrika wirksam ein und machte verschiedene Staaten durch Investitionen oder geliehenes Geld von sich abhängig.
Ein einfaches Mittel zum Umgang mit Listen gibt es nicht, da die andere Seite mir das Handeln überlässt und mich nicht «am Haken führt». Hier hilft nur, mit wachem Sinn das Verhalten des Verhandlungspartners zu beobachten und dabei zu überlegen, ob er das, was er sagt und tut, auch wirklich so meint oder dabei etwas anderes im Schilde führt.
Wie eine Manipulation abläuft, kann man an folgendem Beispiel erkennen: Nehmen Sie an, Sie betreten den Ausstellungsraum eines Autohändlers, weil sie eventuell einen Wagen kaufen möchten. Der Verkäufer zeigt Ihnen einige Autos, geht dann schnell mit Ihnen an einem schnittigen Fahrzeug vorbei und sagt im Vorbeigehen: «Diesen wunderschönen Superschlitten zeige ich Ihnen gar nicht erst, der ist Ihnen sicher zu teuer.»
Der «offizielle» Teil der Botschaft lautet: «Das Fahrzeug ist zu teuer.» Daneben gibt es aber einen «verdeckten» Teil, der lautet: «Du bist viel zu knickrig, um dir etwas zu leisten, was alle deine Freunde beeindrucken würde.» Wesentlich bei der Manipulation ist immer die verdeckte Botschaft. Sie ist der Appell, auf den es ankommt. Im vorliegenden Fall möchte der Verkäufer Ihr rebellisches Kind aktivieren und Sie dazu veranlassen, das Fahrzeug zu besichtigen und zu kaufen.6 Das rebellische Kind orientiert sich vorwiegend an den Forderungen anderer, macht aber dann meist das Gegenteil von dem, was ihm zugeschrieben wird (Zuschreibung : «Das Fahrzeug ist zu teuer.» Reaktion: «Zu teuer? Die spinnen ja wohl!»)
Das Wichtigste bei solchen Beeinflussungsversuchen ist, möglichst wenig auf die Äusserung der anderen Seite einzugehen. Stattdessen sollten Sie das angesprochene Thema rationalisieren, vorliegend etwa so: «Woher wissen Sie, dass dieses Auto für mich zu teuer ist? Kennen Sie meine Vermögensverhältnisse?» Durch diese Intervention dürfte sich der Manipulator ertappt fühlen und von weiteren Manipulationsversuchen ablassen. Die richtige Abwehr von manipulativem Verhalten ist also, nicht auf die verdeckte Botschaft einzugehen, sondern die Verhandlungssituation auf eine rationale Basis zu stellen.
Macht und Drohung.7 Machteinsatz in Verhandlungen sind alle Arten von zielgerichteter Einflussnahme auf die Willensbildung einer Partei, um deren freie Willensbetätigung einzuschränken oder auszuschliessen. Wenn eine Partei die andere nicht braucht, um zum Ziel zu kommen, sie das Ziel also aufgrund ihrer Machtposition alleine erreichen kann, fehlt es an der gegenseitigen Abhängigkeit im Hinblick auf die Zielerreichung und an einer einverständlichen Regelung als Voraussetzung einer Verhandlung. Dann handelt es sich nicht um eine Verhandlung, sondern um das Diktat des Stärkeren.
Ist man der Meinung, dass die andere Seite grössere Macht hat, liegt der Schwerpunkt in einer besonders intensiven Vorbereitung. Im Rahmen dieser Vorbereitung ist es sinnvoll, zu prüfen, ob man die Verhandlung auch auf andere Gebiete ausdehnen («Den Kuchen grösser machen» durch Angebote von Zusatzleistungen, zur Einbindung in Netzwerke etc.) oder dritte Personen einbinden oder die eigene Leistung/das eigene Produkt verbessern und dadurch attraktiver werden oder einen anderen Interessenten für die eigene Leistung finden und so die eigene «Walk-away-Alternative» verstärken kann.
Neben dem Einsatz von tatsächlicher Macht (denken wir zum Beispiel an Verhandlungen zwischen Lieferanten und Unternehmen mit Monopolstellung) gibt es auch Situationen, in denen sich Parteien durch Drohungen und ähnliche Verhaltensweisen eine überlegene Stellung verschaffen wollen, indem sie beispielsweise mit ihrer Batna (Best Alternative To Negotiated Agreement) als Abbruchalternative drohen (Wenn Sie nicht..., dann werde ich...), auf persönliche Probleme der anderen Seite hinweisen, «Take it or leave it»-Angebote auf den Tisch werfen, den Verhandlungspartner anbrüllen, auf die guten Beziehungen zum Vorgesetzten des Verhandlungspartners hinweisen etc.
Auch in diesen Fällen hilft nichts anderes als «gnadenlose» Rationalisierung, indem Sie den Vorfall unverzüglich benennen und nach den Ursachen fragen.
Fazit. Die Grundregel für schwierige Verhandlungen ist es, sich nicht auf irrationale Verhaltensweisen der anderen Seite einzulassen.
Das bedeutet bei persönlichen Angriffen: durch Stopp-Techniken den eigenen Stress beenden, den Angriff benennen, die Ursachen herausfinden und dann Regeln für die weitere Verhandlung vereinbaren.
Auf Manipulationsversuche sollte man nur insoweit eingehen, dass man nach dem Hintergrund dieses Verhaltens fragt und den Manipulator dadurch entwaffnet.
Beim vermuteten Einsatz von Listen gilt es, durch erhöhte Aufmerksamkeit festzustellen, ob die andere Seite das, was sie tut und sagt, so meint, wie sie es sagt und tut, oder ob ich aufgrund einer verdeckten Absicht verleitet werden soll, eine falsche Entscheidung zu treffen.
Um eine Machtüberlegenheit der anderen Seite abzuwenden oder zu verringern, bedarf es einer intensiven Vorbereitung, bei der ich prüfe, wie ich meine Situation durch Massnahmen vor der Verhandlung verbessern kann.
Im Falle von Drohungen oder ähnlichen Verhaltensweisen gilt das Gebot, dieses Verhalten sofort aufzudecken, die andere Seite nach dem Grund zu fragen und ihr dadurch die Waffe aus der Hand zu nehmen. Verhandeln ist eine sehr diffizile Tätigkeit, vor allem, wenn die Umstände schwierig sind. Leider gibt es kein universales Instrument, das für alle Situationen passt. Der erfolgreiche Verhandler zeichnet sich dadurch aus, dass er die Situation zutreffend erkennt und dann das passende Instrument einsetzt.
Übrigens: Da Sie nun hoffentlich durch die Lektüre dieses Artikels Ihr Wissen und Können über das Verhalten in schwierigen Verhandlungssituationen vertieft haben: Wie hätte sich die Kollegin, die ich am Beginn erwähnt habe, nach der süffisanten Bemerkung verhalten sollen? Gerne erwarte ich Vorschläge unter ponschab@ponschab-partner.com.
Reiner Ponschab, Rechtsanwalt und Mediator, Pullach im Isartal
1 So beispielsweise am Program on Negotiation (PON), das als Gemeinschaftsinstitution von Harvard University, Massachusetts Institute of Technology und Tufts University seinen Sitz an der Harvard Law School hat und intensiv Forschung und Lehre auf dem Gebiet von Verhandlung und Mediation betreibt.
2 Roger Fisher, William L. Ury, Bruce Patton, Das Harvard-Konzept – Sachgerecht verhandeln, erfolgreich verhandeln, Deutsche Ausgabe, Frankfurt, 25. Auflage, 2015.
3 Fisher / Ury / Patton, a.a.O., S. 226.
4 Näher dazu: Harro von Senger, 36 Strategeme. Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden. Frankfurt, 2011.
5 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Hamburg, 2008, S. 208 ff., setzt List mit Betrug gleich.
6 Der Begriff des rebellischen Kinds stammt aus der vom US-Psychiater Eric Berne (1910–1970) begründeten Transaktionsanalyse, näher dazu Eric Berne, Die Transaktions-Analyse in der Psychotherapie: Eine systematische Individual- und Sozialpsychiatrie, Paderborn 2006.
7 Näher dazu Reiner Ponschab, «Was macht man gegen Macht? Über den Umgang mit Macht in Verhandlungen», in: Konflikt/Dynamik, Heft 4, 2018, S. 2 ff.