Vor fünf Jahren schrieb plädoyer erstmals über die neuen Lehrangebote via Internet. Damals waren die Verantwortlichen an den Schweizer Universitäten über Sinn und Unsinn der Projekte unterschiedlicher Meinung. Während in Zürich, Freiburg und St. Gallen für teures Geld einige Projekte lanciert wurden, blieben andere Hochschulen wie Basel und Bern zurückhaltend. Der Berner Staatsrechtsprofessor Axel Tschentscher äusserte die Meinung, man solle besser auf E-Learning verzichten, «soweit es nicht über eine virtuelle Ablage mit PDF-Dokumenten hinausgeht».
Seither haben sich das Internet und die damit verbundene Technik rasant weiterentwickelt. Die heutigen Studenten sind mit dem Internet aufgewachsen und mit seinen Möglichkeiten vertraut. Entsprechend gross ist ihr Bedürfnis, auf benutzerfreundlich gestaltete Inhalte schnell und interaktiv zugreifen zu können.
Die Dozenten reagieren darauf, indem sie zunehmend Angebote auf dem Internet bereitstellen. Ein Projekt, das über eine «virtuelle PDF-Ablage» hinausgeht, ist die Website www.rechteck.ch des Zürcher Professors für Privat- und Wirtschaftsrecht Hans Caspar von der Crone. Mit Hilfe dieser Plattform hält er Vorlesungen und wickelt Übungen sowie Kolloquien ab. Sie enthält Gesetzestexte, Bundesgerichtsentscheide, Grafiken und sogar gefilmte Diskussionen zwischen dem Professor und seinen Assistenten, die den Stoff veranschaulichen sollen.
Gemäss einer Evaluation des Lehrstuhls im Herbstsemester 2010 bezeichnen 72 Prozent der befragten Studenten die Plattform als nützlich. 71 Prozent besuchen Rechteck.ch häufig bis regelmässig. Interessant: Laut von der Crone ist es nicht so, dass sich die Mehrheit der Studenten den Stoff zu Hause aneignet und deshalb die Vorlesungen meidet: «Ein direkter Zusammenhang zwischen Online-Aktivitäten und Präsenz im Hörsaal lässt sich nicht feststellen.» Nicht zu unterschätzen sei der Aufwand für die Internetlernhilfen.
Motivierte Studenten gehen in den Hörsaal
Ein anderes Angebot sind die E-Learning Templates (ELT; www.elt.uzh.ch/elt/elt/de/html/aktuell_quickaccess.html?c=1), die von der rechtswissenschaftlichen Fakultät Zürich entwickelt wurden. Mit ELT kann man sich, ähnlich wie auf www.rechteck.ch, die Theorie verschiedener Rechtsgebiete einprägen. So haben unter anderem die Professoren Claire Huguenin, Andreas Kley und Wolfgang Wohlers solche Templates für ihre Fachgebiete erarbeitet.
Zum zürcherischen Konzept gehören auch die E-Lectures. Dabei werden gewisse Vorlesungen aufgezeichnet und als Podcast angeboten. Den kann man sich auch abends um neun Uhr anschauen.
Mit den Aufzeichnungen steigt laut Lukas Stähli, Koordinator für E-Learning an der Universität Zürich, die Flexibilität: «Die Studenten können jederzeit auf die Vorlesungen zugreifen und ihren Tagesablauf individuell gestalten.» Zudem werde das «Platzproblem in den Hörsälen entschärft».
Florian Brunner, Zürcher Jus-Student im fünften Semester, nennt einen weiteren Vorteil der E-Lectures: «Studenten, die nicht vorbereitet sind, bleiben eher zu Hause und schauen sich die Vorlesung im Internet an. Tatsächlich in den Hörsaal gehen die motivierten, vorbereiteten Studenten. Das kommt auch den Dozierenden zugute.» Brunner würde einen weiteren Ausbau des Angebots begrüssen, «um das Studium flexibler zu gestalten».
Laut Koordinator Stähli bringen die neuen Medien einen willkommenen Mehrwert, indem sie die klassischen Lehrmethoden wie Vorlesungen und Übungen ergänzen. Die Zugriffszahlen sind vor und in der Prüfungsphase hoch. So erreichte das ELT Gesellschaftsrecht von Professor Hans-Ueli Vogt im Mai über 25 500 Hits.
Skeptisch zu solchen Lehrmethoden äussert sich Gudrun Bachmann, Leiterin des Bereichs Bildungstechnologien an der Universität Basel. Für sie «schaffen E-Lectures oder die Nutzung von E-Learning-Plattformen per se noch keinen substanziellen Mehrwert». Auch sei der Aufwand zu gross, um Veranstaltungsaufzeichnungen in ansprechender Qualität an der Univerität Basel auf breiter Ebene bereitzustellen. Bachmann betont aber, dass dies in Einzelfällen sinnvoll sei und auch getan werde.
Studenten fänden einen Ausbau positiv. Florian Oesch, der im fünften Semester studiert, ist sich sicher, dass «aufgezeichnete Vorlesungen die Flexibilität der Studierenden massiv erhöhen».
Gleicher Meinung ist Piera Burren, die in Luzern studiert. Sie schätzt zwar die Vorlesung und den direkten Kontakt zu den Dozenten, dennoch würde sie ein erweitertes Internetangebot begrüssen: «Für Studenten, die neben dem Studium arbeiten, Kinder oder einen langen Anfahrtsweg haben, wären aufgezeichnete Vorlesungen sinnvoll.»
Fakultätsmanager Marcel Amrein hat das Bedürfnis zur Kenntnis genommen, wie er sagt. Konkrete Schritte seien jedoch noch nicht eingeleitet worden. Luzern setzt vor allem auf kleine Übungsgruppen. Amrein vermutet, dass dies ein Grund dafür ist, dass das Bedürfnis nach E-Learning-Angeboten «nicht so gross ist». Immerhin: Luzerner Studenten können über eine Mailing-Liste mit den Dozenten kommunizieren und die Internetplattform Olat für das Herunterladen von Unterlagen nutzen.
St. Galler Flaggschiff ist auf Grund gelaufen
Etwas gelegt hat sich die E-Learning-Euphorie in der Ostschweiz. Familylawonline, eine Lernplattform im Internet und einstiges Flaggschiff der rechtswissenschaftlichen Fakultät St. Gallen, ist vor einigen Jahren laut Thomas Geiser, Professor für Privat- und Handelsrecht, auf Grund gelaufen.
Der Aufwand sei zu gross, um umfassende und aktuelle E-Learning-Angebote bereitzustellen, erkannte der durchaus technologieaffine Geiser. Die Aufzeichnung einer Vorlesung kommt für ihn nicht in Frage - und zwar aus zwei Gründen: «Erstens ist die Qualität der Aufnahme ungenügend, und zweitens sollte nicht immer alles, was im Hörsaal gesagt wird, festgehalten werden.»
Skeptiker hat das Lager gewechselt
In Bern hingegen hat Axel Tschentscher mittlerweile die Zurückhaltung gegenüber der Aufzeichnung von Vorlesungen abgelegt: «Anfangs hatte ich noch Bedenken, dass ich mich wegen der laufenden Kamera eingeschränkt fühlen könnte», bekennt der Ordinarius für Staatsrecht, Rechtsphilosophie und Verfassungsgeschichte. Doch die Skepsis habe sich gelegt.
Die Podcasts erachtet er sowohl für die Studenten wie für sich selbst als nützlich: «Die Studenten können damit flexibler arbeiten. Und ich kann im Hinblick auf eine Klausur besser überprüfen, was ich in welchem Umfang behandelt habe.»