Es braucht kein Quellenstudium des römischen Rechts und keine Auseinandersetzung mit den Hintersassen und Dorfgenossen des Mittelalters, um den Motor der Rechtsfortbildung zu erkennen. Dazu genügt ein Blick in den ersten Jahrgang der Zeitschrift plädoyer: Recht verändert sich, aber nur im Schneckentempo des Generationenwechsels. Nach dreissig Jahren ist das Bodenpersonal Justitias ausgewechselt. Erst dann können neue Lebenserfahrungen zu Recht werden. So erstaunt es nicht, dass die Schreiberlinge der Frühzeit des plädoyer heute als Bundesrichter (Niklaus Oberholzer, Brigitte Pfiffner, Susanne Leuzinger-Naef), als eidgenössischer Öffentlichkeits- und Datenschützer (Hanspeter Thür) oder als Altbundesrat (Moritz Leuenberger) amten. Die Ausnahme, welche die Regel der Rechtsfortbildung durch Generationenwechsel bestätigt, ist die Zürcher Staatsanwaltschaft. Noch immer, genau wie vor dreissig Jahren, versucht sie den Tatbestand des Landfriedensbruchs zu überdehnen, um gegen Jugendliche vorzugehen. Doch dazu später.

Drei Jahrzehnte - eine Rechtswandeleinheit

Vor dreissig Jahren fragte plädoyer auf der Titelseite seiner allersten Ausgabe: «Geteiltes Sorgerecht zum Wohl des Kindes?» Es berichtete ausführlich über ein wegweisendes Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das ein Verbot der gemeinsamen Sorge für verfassungswidrig erklärt hatte. Für die Schweiz sah die frisch geborene Juristenzeitung hingegen schwarz. Im Nationalrat hatte die bürgerliche Mehrheit eben einen Vorstoss versenkt, der die gemeinsame Sorge möglich machen wollte. Der damalige Bundesrat Kurt Furgler hatte den Rat so informiert: «Unsere Abklärungen zeigen, dass sich die Lösung, bei Scheidung beiden Elternteilen die elterliche Gewalt zu überlassen, nicht bewährt.» Der Justizminister konnte die alleinige Sorge zum einzig gangbaren Weg erklären, ohne begründen zu müssen, wie man etwas abklären kann, das es noch gar nicht gab (auch in den umliegenden Ländern nicht). Der Trick des CVP-Politikers: Er trat mit dem Impetus eines Forschers auf, der ein Naturgesetz verkündet.

«Die gemeinsame elterliche Sorge wird zum Regelfall», schrieb der Bundesrat Ende 2011 in der Botschaft zur Revision des ZGB, die letztes Jahr vom Nationalrat gutgeheissen wurde. Knapp dreissig Jahre später gibt es das «Natur­gesetz» also bereits nicht mehr.

Der Wandel des Rechts wird nicht selten mit unüberprüften «Abklärungen» behindert, die als ewige Wahrheiten daherkommen. Die erste Ausgabe des plädoyer liefert ein zweites Beispiel dafür. SP-Nationalrat Andreas Gerwig meinte zum Vorschlag eines neuen Namensrechts, der es Mann und Frau erlaubt hätte, je ihren Namen beizubehalten: «Der getrennte Familienname entspricht der schweizerischen Rechts- und Volkstradition nicht.» Am 1. Januar 2013 wurde der getrennte Familien­name in der Schweiz eingeführt. Die «schweizerische Rechts- und Volkstradition» hat noch genau dreissig Jahre gelebt - eine Rechtswandeleinheit lang.

Dauerbrenner Staatsanwaltschaft

Unwandelbar ist hingegen die Rechtsauffassung der Zürcher Staatsanwaltschaft zum Landfriedensbruch. Mit einer Hartnäckigkeit, die an Sturheit grenzt, wenden die Zürcher Strafverfolger diesen Straftatbestand nicht nur auf Krawallanten, sondern auch auf blosse Zuschauer an. Und das tun sie seit mehr als dreissig Jahren, obwohl die Gerichte entsprechende Strafbefehle immer aufheben (siehe Seite 11). Bereits Anfang Dezember 1982 musste das Zürcher Obergericht - gemäss einer Notiz in plädoyer 1/83 - die Zürcher Staatsanwaltschaft zurückpfeifen. Die Strafverfolger hatten einen Mann wegen Landfriedensbruchs verurteilt, der rund zwanzig Minuten lang Krawallanten bloss zugeschaut hatte. Die Richter hoben den Strafbefehl auf, weil es «weder eine geschriebene noch eine ungeschriebene Rechtsnorm gibt, wonach man sich nicht in der Umgebung gewalttätiger Ausschreitungen aufhalten darf - es sei denn, man beteilige sich daran.» Die Oberrichter hielten ausdrücklich fest, dass es «auch nicht gegen Sitte und Anstand verstösst, sich persönlich ein Bild über solche Ausschreitungen zu machen». 

Ende 2011 verurteilte die Zürcher Staatsanwaltschaft rund drei Dutzend Jugendliche wegen Landfriedensbruchs zu drakonischen Geldstrafen von bis zu 180 Tagessätzen. Dabei hatten die Jugendlichen vor dem Hauptbahnhof bloss Krawallanten aus 150 Metern Entfernung über die Limmat hinweg zugeschaut. Wieder mussten die Zürcher Gerichte eingreifen. Sie hoben sämtliche Strafbefehle auf, die angefochten wurden, und mussten die Staatsanwaltschaft genau wie 1982 ermahnen, dass blosses Beobachten den Tatbestand des Landfriedensbruchs nicht erfülle.

Das Strafrecht als Ganzes wurde in den vergangenen dreissig Jahren - im ­Gegensatz zum Zi­vilrecht - nicht freiheitlicher, sondern stets repressiver. plädo­yer 4/83 vermeldete zwei Petitionen von Strafgefangenen und Anwälten für die Aufhebung der Verwahrung von Gewohn-heits­verbrechern (Artikel 42 StGB).

Liberales Strafrecht auf dem Rückzug

Mit Hilfe dieser Bestimmung wurden vor allem Menschen verwahrt, die bloss Straftaten gegen das Vermögen begangen hatten (notorische Diebe, Betrüger, Hochstapler). Es handle sich dabei «um kleine Fische und eben gerade nicht um die gefährlichen Gewohnheitsverbrecher, die der Gesetzgeber eigentlich erfassen wollte», begründete plädoyer seine Zustimmung zu den Petitionen und meinte hoffnungsvoll, dass die Streichung von Artikel 42 StGB im Parlament «durchaus eine befürwortende Mehrheit finden kann». Der Strafartikel wurde erst 2007 gestrichen, aber immerhin. Gemäss dem neuen Straf- und Massnahmenrecht kann niemand mehr nur wegen Vermögensdelikten verwahrt werden (Artikel 64 Absatz 1 StGB).

Die Praxis zur Verwahrung wurde aber massiv verschärft, nachdem ein Sexualstraftäter im Hafturlaub 1993 eine Pfadiführerin vergewaltigt und ermordet hatte. Kaum ein Verwahrter kommt heute mehr frei, und das Volk hat mit der Verwahrungs­initiative eine lebenslange Verwahrung für therapie­unfähige Straftäter eingeführt (siehe Seite 14).

Im ersten Erscheinungsjahr von plädoyer war die hohe Zeit des liberalen Strafrechts bereits passé. Zwar erhielt Strafrechtsprofessor Hans Schultz 1983 den Auftrag, ein freiheitlicheres Straf- und Massnahmenrecht zu erarbeiten, doch nur wenige Resultate seiner Studie schafften es 2007 ins neue Recht. Die liberale Strafrechtsgeneration von 1968 hatte ihre dreissig Jahre aufgebraucht, in der sie die Rechtsfortbildung vorantreiben konnte. Eine neue, repressivere Generation hat Anfang der 1990er-Jahre das Ruder übernommen. Dies gilt nicht nur für das Strafrecht, sondern auch für das Polizei-, Asyl- und Ausländerrecht.

Grundrechte als Reformkraft

Als Bollwerk gegen die Repression dienten die Grundrechte - vor allem, nachdem Ludwig A. Minelli den Gang an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entdeckt und so indirekt die Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt hatte. Auch darüber berichtete der erste plädoyer-Jahrgang (4/83), konnte die Tragweite aber noch nicht richtig einschätzen. «Viel Aufsehen erregt hat Ende März die erstmalige Verurteilung der Schweiz durch den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte», schrieb das Juristenmagazin, «allerdings herrscht weitgehend Unklarheit über die Tragweite des Entscheids.» Allwissend waren die plädoyer-Juristen nicht. Sonst hätten sie erkannt, dass kaum eine andere Kraft das Schweizer Recht mehr reformieren würde. 

plädoyer kritisierte die mangelnde Wirkung der Grundrechte im Alltag. «Allgemeine Rechtsgrundsätze haben bekanntlich nur soviel Wert wie ihre konkrete Ausgestaltung und Wirkung im Rechtsleben», meinte das junge Juristenmagazin im Ton einer altgedienten Gelehrten in der zweiten Ausgabe. Sachkompetent kommentierte sie den damaligen Artikel 4 Absatz 2 der Bundesverfassung. «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» komme Drittwirkung zu, betonte plädoyer, um dem Grundsatz auch in der Privatwirtschaft Schlagkraft zu geben, und forderte, dass Angestellte eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts nicht beweisen, sondern nur glaubhaft machen müssen. Diese Beweisregel wurde später ins Gleichstellungsgesetz übernommen.

Dem eigentlichen Arbeitsrecht ihren Stempel aufzudrücken, hat die Juristengeneration der 1980er-Jahre nicht geschafft. So zitiert plädoyer in seiner allerersten Ausgabe Altbundesrat Hans Peter Tschudi mit der Aussage, «ein besserer Kündigungsschutz für Arbeitnehmer ist berechtigt». Doch noch 2013 hat ein Gesetzesentwurf einen schweren Stand, wenn er nur schon den maximalen Schadenersatz bei missbräuchlicher Kündigung von sechs auf zwölf Monate erhöhen will.

Anders war die Entwicklung bei den Themen Armee und Staatsschutz. Dort half die Weltgeschichte. 1989 fiel die Berliner Mauer, endete der kalte Krieg, der Schweizer Armee brach die Legitimation unter den Bunkern weg. Die fast freie Wahl zwischen Armee- und Zivildienst ist heute breit akzeptiert.

Wo die Schweiz hinterherhinkt

Dem Staatsschutz alter Schule brach die Fichenaffäre das Genick. Sie verhalf zudem Moritz Leuenberger als Präsident der anschliessenden Geschäftsprüfungskommission zu jener überparteilichen Akzeptanz, die man braucht, um Bundesrat zu werden. So liest sich das Streitgespräch von Leuenberger mit dem privaten Staatsschützer Ernst Cincera in plädoyer 5/83 wie eine Generalprobe für später. «Ist ein privater Datensammler nicht ein Verfassungsfeind?», fragte damals der SP-Nationalrat.

Das alles sind bloss Schlaglichter auf die Entwicklung von Recht und Politik seit dreissig Jahren, doch sie machen eines deutlich: Die Schweiz braucht einen Lehrstuhl für zeitgenössische Rechtsgeschichte. Wichtige Fragen bleiben nämlich unbeantwortet: Wieso hat die Schweiz erst vor knapp drei Jahrzehnten die Administrativjustiz für «Arbeitsscheue» und «Liederliche» aufgehoben? Wieso hat die Schweiz mit Grundrechten so Mühe? Wieso schafft es die Schweiz seit über hundert Jahren nicht, ein Versicherungsvertragsgesetz zu revidieren, das unbestrittenermassen einseitig den Versicherungen dient (siehe Seite 7) Solange es diesen Lehrstuhl nicht gibt, wird plädoyer hoffentlich weiter die Lücke füllen.