plädoyer: Laut Zivilprozessordnung (ZPO) haben Parteien Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung, wenn ihnen die finanziellen Mittel fehlen, um für die Prozesskosten aufzukommen. Das Gesetz ist für alle Schweizer gleich. Wird auch das Existenzminimum überall gleich berechnet?
Anita Thanei: Nein, das ist kantonal geregelt. Die Zahlen werden meist vom Obergericht festgelegt.
Daniel Bähler: Verschiedene Kantone stützen sich auf betreibungsrechtliche Richtlinien. Diese Richtlinien sind nicht vom Bund vorgegeben. Sie werden von der Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten ausgearbeitet. Der Kanton Bern hat sie mit Modifikationen übernommen.
plädoyer: Hat diese Konferenz Gesetzgebungskompetenzen?
Bähler: Nein, sie ist ein privatrechtlicher Verein und nicht demokratisch legitimiert. Deshalb müssen die Richtlinien immer von jenen übernommen werden, die in den Kantonen die entsprechenden Kompetenzen haben.
plädoyer: In Zürich erlässt das Obergericht ein Kreisschreiben zur Berechnung des Existenzminimums. Basiert es auch auf diesen Empfehlungen?
Thanei: Ja, im Grundsatz schon. Die Gerichte verfügen aber trotzdem über erheblichen Ermessensspielraum. Wir haben also nicht einmal im Kanton Zürich einheitliche Berechnungen. Die Gerichte berücksichtigen beim Existenzminimum nicht immer die gleichen Ausgaben.
plädoyer: Das für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege tolerierte Einkommen ist höher als das betreibungsrechtliche Existenzminimum. Wie viel finanziellen Spielraum lassen die Gerichte den Parteien?
Bähler: Der Grundbetrag für eine allein lebende Person beträgt 1200 Franken. Er deckt alle jene Lebenskosten ab, die man nicht speziell ausweisen kann. Im Kanton Bern gibt es einen Zuschlag von 30 Prozent zu den Grundbeträgen.
Thanei: Im Kanton Zürich kann ich keine einheitliche Berechnungsweise feststellen, obwohl ich viele solche Fälle habe. Das Einkommen wird jeweils mit dem Existenzminimum verglichen, einen Zuschlag in einer generellen Höhe gibt es aber nicht. Es gibt Fälle, in denen jemand unentgeltlich prozessieren kann, obwohl sein Einkommen 800 Franken über dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum liegt.
plädoyer: Der Anspruch ist also in der ganzen Schweiz gleich, aber jedes Gericht entscheidet relativ willkürlich?
Thanei: Ich würde nicht von Willkür sprechen, sondern von einem Ermessensentscheid.
Bähler: Ich bin gleicher Ansicht. Es gibt harte und weiche Zahlen. Die harten Zahlen bekommt man aus den Lohnabrechnungen, Mietverträgen usw. Bei anderen Zahlen haben Richter ein Ermessen, ob und in welcher Höhe sie sie berücksichtigen wollen. Im Kanton Bern gibt es ein Berechnungsblatt, das den Entscheiden teilweise beigelegt wird. Dort sieht man, von welchem Einkommen man ausgeht und welche Posten beim Existenzminimum einbezogen wurden. Gibt es einen Überschuss, kommt es darauf an, ob es sich um einen grossen oder kleinen Prozess handelt. Bei weniger umfangreichen Prozessen wird die unentgeltliche Prozessführung verweigert, wenn eine Partei die Kosten innert eines Jahres aus dem Überschuss decken kann. Bei grösseren Prozessen sind es zwei Jahre.
plädoyer: Wie viel Vermögen wird bei den Parteien toleriert, damit sie noch unentgeltlich prozessieren können?
Bähler: Recht wenig. So um die 5000 bis 10 000 Franken.
Thanei: Hier haben wir eine noch unterschiedlichere Praxis als beim Einkommen. Einem Klienten mit 12 000 Franken Vermögen wurde schon die unentgeltliche Prozessführung gewährt, andern dagegen, die weniger als
10 000 Franken auf dem Sparkonto hatten, nicht.
plädoyer: Wäre es im Sinn der Gleichbehandlung nicht angezeigt, die finanziellen Kriterien in einem
Bundesgesetz oder einer Verordnung einheitlich zu regeln?
Bähler: Für die Rechtsanwendenden wäre es sicher besser, wenn man eine Regelung hätte, auf die man sich verlassen könnte und die breit abgestützt wäre. Ich bezweifle aber, dass das politisch durchsetzbar ist. Die fiskalischen Interessen der Kantone sprechen dagegen. Sobald in deren Hoheit eingegriffen wird, wehren sie sich.
Thanei: Richtig. Auch die Gerichtskosten sollten vereinheitlicht werden. Das Anliegen war jedoch im Parlament aussichtslos. Wenn man die Vernehmlassungen der Kantone zur neuen ZPO liest, gibt es dort einen roten Faden: Die Justiz darf nicht teurer werden!
plädoyer: Wer nur knapp über der Grenze zur unentgeltlichen Prozessführung liegt, muss in der Praxis die vollen Gerichtskosten zahlen. Artikel 118 ZPO sieht aber vor, dass die unentgeltliche Rechtspflege auch teilweise gewährt werden kann. Wäre es nicht sinnvoll, die Kostenvorschüsse dem Einkommen der Parteien anzupassen?
Bähler: Zumindest bei Scheidungen ist das im Kanton Bern so. Es gibt einen Tarif, der von einem privatrechtlichen Verein, dem Verband der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, erlassen wird. Auf der Website des kantonalen Justizdepartements kann man diesen Tarif abrufen (www.justice.be.ch). Die Stufen werden nach Einkommen berechnet, es gibt etwa zehn verschiedene Stufen. Dabei wird unterschieden zwischen vollständiger Einigung und Kampfscheidungen. Bei Forderungsklagen jedoch müssen die durchschnittlichen Verfahrenskosten – basierend auf dem ganzen Streitwert – bevorschusst werden. Von jemandem, der monatlich einen Überschuss von 300 Franken hat, kann man meines Erachtens nicht auf einmal 2000 Franken Vorschuss verlangen. Man müsste die Kostenvorschusspflicht in solchen Fällen staffeln, das heisst Ratenzahlung gewähren.
Thanei: Im Kanton Zürich gibt es eine knallharte Grenze: Hat jemand keinen Anspruch auf unentgeltliche Prozessführung, wird auch kein den wirtschaftlichen Verhältnissen angepasster, reduzierter Gerichtskostenvorschuss auferlegt. So geht man im Mietrecht vom Streitwert aus. Im Fall einer Mietzinserhöhung berechnet er sich nach der strittigen monatlichen Differenz mal 20 Jahre. Man stelle sich das einmal vor! Kommt es nach einer Haussanierung zu einer Mietzinserhöhung von monatlich 600 Franken, müssen Mieter mit Gerichtskosten auf der Basis eines Streitwerts von 144 000 Franken rechnen. Das bedeutet Kostenvorschüsse zwischen 5000 und 10 000 Franken. Ratenweise Bezahlung wird nur bewilligt, wenn man nachweisen kann, dass man nicht alles auf einmal bezahlen kann. Da das Schlichtungsverfahren im Mietrecht kostenlos ist, entsteht grosser Druck auf die sozial schwächere Partei – in der Regel die Mieter –, einen für sie unvorteilhaften Vergleich abzuschliessen. Mit dem gegenwärtigen System ist der Mittelstand der Geprellte. Salopp ausgedrückt: In der Schweiz kann prozessieren, wer mausarm oder steinreich ist – oder eine Rechtsschutzversicherung hat. Für die andern ist die Justiz zu teuer.
plädoyer: Laut ZPO können die Gerichte einen Kostenvorschuss verlangen, sie müssen es aber nicht. Ist diese Kann-Vorschrift toter Buchstabe? Herr Bähler, machen Sie als Richter Gebrauch von dieser Kann-Vorschrift?
Bähler: Nein, im Kanton Bern kannte man die Kostenvorschusspflicht schon früher. Was sich mit der ZPO im Kanton Bern änderte: Heute ist nur noch der Kläger vorschusspflichtig. Das übt einen gewissen Druck auf die Klägerschaft aus, vor allem, wenn sie die sozial schwächere Partei ist.
Thanei: Die Kann-Vorschrift ist auch in Zürich toter Buchstabe. Das ist nicht nur im Mietrecht eine Katastrophe, sondern auch in andern Fällen.
plädoyer: Steckt hinter dieser rigorosen Vorschusspraxis fiskalisches Denken?
Bähler: Ja. Wenn wir sagen würden, wir verlangen keinen Vorschuss mehr, wäre für die Politiker Feuer im Dach.
Thanei: Das fiskalische Denken sieht man auch bei der neuen ZPO-Regelung, wonach der Kläger für die Prozesskosten des Beklagten haftet. Nach kostenpflichtigen Verfahren mit Streitwerten über 30 000 Franken vor Arbeitsgericht kommt es immer wieder vor, dass Arbeitgeber Konkurs gehen. Gewinnt der Arbeitnehmer den Prozess, bleibt er auf den Gerichtskosten sitzen.
plädoyer: Verletzt das nicht die Verfassung, die den Bürgern einen Zugang zu den Gerichten gewährt?
Thanei: Dieser Anspruch wird meines Erachtens heute nicht mehr erfüllt. Die Schranken für den Zugang zu den staatlichen Gerichten dürften nicht so hoch angesetzt werden, wie sie heute sind.
Bähler: Das ist eine politische Frage. Ich spreche hier als Richter. Ich habe das Gesetz anzuwenden, so wie es beschlossen wurde.
plädoyer: Unentgeltlich prozessieren kann man nur, wenn die Klage nicht aussichtslos ist. Den Begriff der Aussichtslosigkeit hat das Bundesgericht bei den Rechtsschutzversicherungen sehr weit gefasst. Ist die Hürde bei der unentgeltlichen Prozessführung höher?
Bähler: Ein grosser Teil der Fälle liegt im Bereich des Familienrechts. Dort ist diese Voraussetzung bei der ersten Instanz nicht von Bedeutung. Von Bedeutung ist sie dagegen in Haftpflichtsachen oder im Arbeitsrecht. Hier kann man sicher nicht sagen, man muss über 50 Prozent Chancen haben, damit der Fall nicht als aussichtlos zu betrachten ist. Das Bundesgericht sagt es so: Wenn jemand den Prozess vernünftigerweise nicht führen würde, wenn er ihn selbst bezahlen müsste, ist er aussichtslos. Das ist nicht sehr weit unter 50 Prozent Erfolgschancen. 20 Prozent reichen bestimmt nicht, ein Drittel wahrscheinlich auch noch nicht.
plädoyer: Der Richter muss bei solchen Entscheiden eine Prognose über den Ausgang des Prozesses machen, bevor die Parteien plädiert haben und die Beweise abgenommen worden sind. Herr Bähler, ist dieses «Vorurteil» für Sie als Richter kein Problem?
Bähler: Nein, solange die Aussichtslosigkeit verneint wird. Schwieriger wird es, wenn man das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung wegen Aussichtslosigkeit ablehnt und sich dann doch noch mit der Sache befassen muss. Früher hatten wir im Kanton Bern eine Bestimmung, dass dies ein Ausstandsgrund ist. Nach der heutigen ZPO ist dem nicht mehr so. Es fragt sich, ob sie richtig ist.
Thanei: Ich finde es sehr problematisch, wenn derselbe Richter, der die Aussichtslosigkeit bejahte, nachher im Hauptverfahren entscheiden muss.
plädoyer: Wäre es nicht besser, wenn eine Abteilung des kantonalen Obergerichts ein solches Begehren behandeln würde?
Thanei: Das ist heute im Kanton Zürich bereits für Anträge um unentgeltliche Prozessführung vor der Schlichtungsbehörde so. Ich finde diese Lösung richtig. Das würde auch die Rechtsgleichheit erhöhen: Die Bewilligungen für das unentgeltliche Prozessieren sind extrem von der personellen Zusammensetzung des jeweiligen Gerichts abhängig.
plädoyer: Ueli Kieser führte eine Studie zur Frage durch, ob es bei den sozialrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts eine Rolle spielt, dass ein Beschwerdeführer die unentgeltliche Prozessführung beantragt. Resultat: Die Bundesrichter beurteilten solche Beschwerden wesentlich häufiger als unbegründet und erledigten sie im vereinfachten Verfahren. Ist das nicht ein Hinweis darauf, dass der Entscheid über das unentgeltliche Prozessieren personell von der Beurteilung des Rechtsstreits getrennt werden sollte?
Thanei: Das unterstütze ich. Ich glaube, dass die Gerichte versucht sind, Fälle der unentgeltlichen Prozessführung möglichst kostengünstig und schnell zu beenden. Als Anwältin habe ich auch schon erlebt, dass Richter den Parteien mit dem Entzug der unentgeltlichen Prozessführung drohen, wenn sie nicht in einen Vergleich einwilligen. Bei anwaltlich nicht vertretenen Parteien ist das möglicherweise noch häufiger der Fall.
Bähler: Das Bundesgericht kann eine Beschwerde in einem Schnellverfahren erledigen. Diese Möglichkeit haben die unteren Gerichte nicht. Das Verfahren ist für alle gleich. Man kann natürlich mehr oder weniger Beweise abnehmen. Dies sollte aber nicht davon abhängen, ob jemandem die unentgeltliche Prozessführung gewährt wurde. In meiner vierundzwanzigjährigen Karriere als Richter ist es sehr selten bis nie vorgekommen, dass man die unentgeltliche Prozessführung wegen nachträglicher Aussichtslosigkeit im Lauf des Verfahrens entzogen hat. Aber es kommt vor, dass die obere Instanz ein Rechtsmittel gegen den Entscheid der ersten Instanz als aussichtslos beurteilt.
plädoyer: Aus Sicht der Anwälte ist das unbefriedigend: Sie müssen bei unentgeltlich vertretenen Parteien die Beschwerde oder die Berufung begründen, ohne zu wissen, ob sie je entschädigt werden. Denn die obere Instanz entscheidet erst nach Vorlage der Berufung über die Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels.
Bähler: So steht es im Gesetz. Die Anwaltslobby hat sich im Parlament wahrscheinlich zu wenig dagegen gewehrt. Ich finde es nicht richtig, dass der Anwalt riskiert, die Arbeit zu machen, ohne dass sie bezahlt wird.
Thanei: Es ist sehr problematisch, dass mit der Berufung oder Beschwerde erneut ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gestellt werden muss. Früher musste sie von der zweiten Instanz bei Aussichtslosigkeit entzogen werden. Es gibt deshalb Fälle, bei denen die neue Praxis mögliche Rechtsmittel verhindert – zum Beispiel, wenn ein Anwalt einem Rechtsmittel nicht überwiegende Chancen einräumt. Dann muss er den Klienten darauf aufmerksam machen, dass er im schlimmsten Fall die Kosten für das Verfahren selbst tragen muss. Dann wird der Klient sicher entscheiden, kein Rechtsmittel zu ergreifen.
plädoyer: Laut ZPO müssen Parteien, denen die unentgeltliche Prozessführung gewährt wurde, den Betrag zurückzahlen, sobald sie dazu in der Lage sind. Nach welchen Kriterien geschieht das?
Thanei: Von ehemaligen Klienten weiss ich, dass sie einen Fragebogen ausfüllen müssen. Weiter müssen sie die Steuererklärung, die Lohnabrechnung und ein Schuldenverzeichnis einreichen. Mir fällt auf, dass sich die Obergerichtskasse Zürich im Vergleich zu früher bei den Klienten viel häufiger über die finanziellen Verhältnisse erkundigt.
Bähler: Ich kann nicht sagen, wie dies in der Praxis abläuft. In Bern macht die Steuerverwaltung das Inkasso. Wie rigoros sie vorgeht, weiss ich nicht. Im Kanton Bern kommen knapp 10 Prozent der Gelder zurück.
- Anita Thanei, 59, ist seit 1989 als selbständige Rechtsanwältin in Zürich tätig. Ihre Schwerpunkte sind das Miet-, das Arbeits- und das Familienrecht. Von 1995 bis 2011 war sie im Nationalrat (SP). Seit 2004 ist sie Präsidentin des Deutschschweizer Mieterverbandes, von 2004 bis 2010 präsidierte sie auch den schweizerischen Mieterverband.
- Daniel Bähler, 57, Fürsprecher, ist Vizepräsident der Zivilabteilung des Obergerichts des Kantons Bern, Mitglied der Aufsichtsbehörde SchKG, des Kindes- und Erwachsenenschutzgerichts und der Anwaltsprüfungskommission des Kantons Bern. Vor seiner Tätigkeit als Oberrichter war Bähler 19 Jahre Gerichtspräsident in Thun.