Seit geraumer Zeit müsste das Obligationenrecht (OR) teilrevidiert werden, um die Sanktionen bei missbräuchlicher Kündigung und der ungerechtfertigten fristlosen Entlassung aus gewerkschaftsfeindlichen Gründen zu regeln. Angestossen wurde die Debatte im Jahr 2003 durch die Klage des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) bei der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO).1 Darin legte der SGB dar, dass die Bestimmungen des OR zum Schutz vor missbräuchlicher Kündigung (Artikel 336 und 336a OR) nicht den Anforderungen der IAO-Übereinkommen Nr. 872 und 983 entsprechen.
Staat muss Freiheitsrecht bei Privaten durchsetzen
Beide Übereinkommen gehören zu den sogenannten «Core Conventions», den acht fundamentalen Übereinkommen der IAO: «Eight ILO conventions have been identified [...] as being fundamental to the rights of human beings at work, irrespective of levels of development of individual member states. These rights are a precondition for all the others in that they provide for the necessary implements to strive freely for the improvement of individual and collective conditions of work.»4
Insbesondere statuieren Artikel 2 und 3 des IAO-Übereinkommens Nr. 87 eine staatliche Handlungspflicht, um Angestellte und Arbeitgeber in der Ausübung der Vereinigungsfreiheit zu schützen. Der Staat muss also dafür sorgen, dass dieses Freiheitsrecht auch unter Privaten wirksam wird - also bis zu einem gewissen Punkt Drittwirkung entfaltet. Konkretisiert werden diese Bestimmungen durch Artikel 1 des IAO-Übereinkommens Nr. 98, in dem antigewerkschaftliche Kündigungen als Druckmittel im sozialpartnerschaftlichen Dialog als verpönt bezeichnet werden (Artikel 1 Ziffer 2 litera b). Art. 2 des IAO-Übereinkommens Nr. 98 trägt insbesondere der wegen ihrer exponierten Tätigkeit gefährdeten und deshalb schützenswerten Kategorie der Mitglieder von Betriebskommissionen Rechnung.
Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der IAO folgte den Ausführungen des SGB und hielt bereits im November 2006 in seinem Entscheid fest, dass die Schweizer Rechtsordnung de lege lata systemisch nicht geeignet sei, Angestellte wirksam vor Kündigungen aus antigewerkschaftlichen Gründen zu schützen:5
«Au vu des conclusions intérimaires qui précèdent, le comité invite le Conseil d'administration à approuver les recommandations suivantes:
a) Le comité prie le gouvernement de prendre des mesures pour prévoir le même type de protection pour les représentants syndicaux victimes de licenciements antisyndicaux que pour ceux victimes de licenciements violant le principe d'égalité de traitement entre hommes et femmes, y compris la possibilité d'une réintégration, eu égard aux principes fondamentaux mentionnés plus haut et conformément aux conventions nos 87 et 98 ratifiées par la Suisse.»
Analoge Lösung zum Gleichstellungsgesetz
Die materielle Regelung in Artikel 336 und 336a OR begrenzt die Sanktionen auf einen Betrag, welcher sechs Monatslöhne nicht übersteigen darf. Damit ist sie zu wenig einzelfallgerecht, um bei besonders eklatanten Fällen von antigewerkschaftlichen Kündigungen (zum Beispiel von Personalvertretungen während der Sozialplanverhandlung) oder bei wirtschaftlich potenten Arbeitgebern genügend abschreckend zu wirken. Hier würde - wie vom Ausschuss für Vereinigungsfreiheit richtigerweise hingewiesen wird - nur eine analoge Lösung zu Artikel 10 des Gleichstellungsgesetzes (GlG) einen effektiven Schutz gewährleisten: In diesen Fällen ist die gerichtlich anzuordnende Wiedereinstellung bei missbräuchlicher Kündigung möglich.
Somit ist klar, dass sich unter dem IAO-Grundrechtsregime Staaten nicht auf ein «negatorisches Grundrechtsverständnis» berufen können, um die fehlende Implementierung der Übereinkommen Nr. 87 und 98 im nationalen Arbeitsrecht zu rechtfertigen. Umso weniger, wenn wie bei der Schweizer Rechtsordnung sowohl die Praxis wie auch die zuständigen völkerrechtlichen Instanzen feststellen, dass ein systemisches Versagen vorliegt und dieses nur mit einer Änderung der gesetzlichen Bestimmung beseitigt werden kann. In diesem Sinne kann der Entscheid vom November 2006 des Ausschusses für Vereinigungsfreiheit der IAO nicht überschätzt werden. Er kann fast als «Pilot Judgement» bezeichnet werden. Zudem stellt er in seiner Deutlichkeit gegenüber einem pluralistischen, demokratischen Staat eine absolute Ausnahme dar, die der Schweiz ein völkerrechtlich und staatspolitisch höchst bedenkliches Zeugnis ausstellt.
Reaktivierung der Klage durch die Gewerkschaft
Trotzdem haben in den letzten Jahren die Bemühungen, die Schweizer Rechtsordnung nach den völkerrechtlichen Vorgaben zu reformieren, zu keinem Resultat geführt. Und dies trotz der weiteren, vom SGB der IAO zur Kenntnis gebrachten Fälle von antigewerkschaftlichen Kündigungen. Diese wurden Ende 2012 in einem Schwarzbuch präsentiert und führten zu einer Reaktivierung der Klage durch den SGB.6
Vielmehr ist von Seiten des Bundesrates, was die angezeigte Teilrevision des Obligationenrechts für Sanktionen bei antigewerkschaftlichen Kündigungen angeht, eine Odyssee sondergleichen zu beobachten. So wurden im zweiten Vorentwurf für die Einführung eines besseren Kündigungsschutzes im September 2010 anhand von drei Anknüpfungspunkten Massnahmen vorgeschlagen: Erweiterung des Höchstbetrages der Entschädigungen von sechs auf zwölf Monatssaläre, Qualifizierung der Kündigung von Arbeitnehmervertretern aus wirtschaftlichen Gründen als missbräuchlich, Ausweitung der vertraglichen Regelungsmöglichkeiten des Kündigungsschutzes durch die Parteien. Doch dieses Gesetzgebungsvorhaben verlief im Sand. Am 21. November 2012 hat der Bundesrat entschieden, die Teilrevision zu sistieren.
Er beauftragte das EJPD, zusammen mit dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement eine Studie über die Grundlagen des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmervertreter zu erarbeiten. Dies mit Hinweis auf den Bericht über die «kontroversen» Vernehmlassungsergebnisse, welcher notabene erst im Oktober 2012 vom EJPD publiziert wurde.
Mehrheit der Kantone für besseren Kündigungsschutz
In der Vernehmlassung hatten sich die Kantone Aargau, Baselland, Schwyz, Thurgau und Zug, die Parteien FDP, CVP und SVP sowie die Organisationen des Centre Patronal, Fédération des Entreprises Romandes, Schweizerischer Arbeitgeberverband, Baumeisterverband, Gewerbeverband und Versicherungsverband gegen eine Verbesserung des Kündigungsschutzes ausgesprochen. Dass sich dagegen eine Mehrheit der Kantone, alle Gewerkschaften, wissenschaftliche Institutionen und auch namhafte Arbeitgebervertretungen wie die Aargauische Industrie- und Handelskammer, Swiss Retail, Migros, aber auch der Interkantonale Verband für Arbeitnehmerschutz für eine generelle Verbesserung des Kündigungsschutzes aussprachen, fiel offenbar bei der Entscheidungsfindung des Bundesrates nicht ins Gewicht.
Deshalb sah sich der SGB-Vorstand nach all den abgewarteten Jahren dazu gezwungen, die Klage vor der ILO mit einer Eingabe zu reaktivieren. Damit läuft die Schweiz Gefahr, wegen Untätigkeit wiederum vom zuständigen IAO-Ausschuss verurteilt zu werden. Es ist zu hoffen, dass der Bundesrat sowie die Arbeitgeberseite einem erneuten «Name-and-shame»-Verfahren zuvorkommen und die Obstruktion in diesem wichtigen Dossier aufgeben. Umso mehr, als hinter jeder antigewerkschaftlichen Kündigung nicht nur die menschliche Tragödie des Arbeitnehmenden steht, der sich seiner finanziellen Lebensgrundlage beraubt sieht, sondern durch diese unlauteren «Rachekündigungen» auch das Fundament selbst einer funktionierenden Sozialpartnerschaft unterminiert wird: Es braucht eine möglichst weit gehende Gleichberechtigung der Vertragsparteien in einem möglichst «herrschaftsfreien» Diskurs.
1 Conseil d'Administration, 291ème session, 335e Rapport, Cas no 2265, N. 1260 ff.
2 Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, von der Schweiz 1975 ratifiziert, in Kraft getreten am 25. März 1976, SR 0.822.719.7.
3 Übereinkommen über das Vereinigungsrecht und Kollektivverhandlungen, von der Schweiz 1999 ratifiziert, in Kraft getreten am 17. August 2000, SR 0.822.719.9.
4 Steve Hughes / Nigel Haworth, The International Labour Organisation: Coming in from the Cold, Milton Park/New York 2011, S. 25.
5 Rapport No. 343 du Comité de la Liberté Syndicale (2006), Cas No. 2265, N. 1132 ff., N. 1148.
6 SGB (Hrsg.), Wer sich für andere wehrt, braucht Schutz: Schwarzbuch missbräuchliche Kündigungen, Bern 2012.