Der Bundesrat sei «aufgrund der ersten Erfahrungen» zum Schluss gekommen, die bedingten Geldstrafen abzuschaffen. So begründete Bundesrätin Widmer-Schlumpf Ende Juni die Vorlage zur entsprechenden Änderung des Sanktionenrechts im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs (AT-StGB), zu der bis Ende Oktober eine Vernehmlassung läuft. Die erst 2007 eingeführten bedingten Geldstrafen hätten «nicht die gewünschten Wirkungen gezeigt», weiss die Justizministerin, sie würden «von vielen nicht als richtige Strafe empfunden», und es bestünden Zweifel an der abschreckenden Wirkung.
Woher sie das weiss? Widmer-Schlumpf stützt sich auf «Kritik aus der Strafrechtspraxis und den Kantonen», genauer auf die «Ergebnisse der Umfrage bei den Mitgliedern der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) betreffend die ersten Erfahrungen mit dem revidierten AT-StGB». Auf sechzig Seiten hat das Bundesamt für Justiz (BJ) im August 2009 die Stellungnahmen von kantonalen Departementen und Fachbehörden zusammengetragen. Die Fragebögen waren im März 2009 verschickt worden. Viel Zeit für detaillierte Evaluationen blieb nicht, zwei Monate später mussten die Antworten bereits in Bern eintreffen.
Bei der Beurteilung der präventiven Wirkung («Spezial- und Generalprävention») gaben 14 Kantone an, sie hielten die bedingte Geldstrafe für gleich wirksam – allenfalls mit Vorbehalten – wie eine bedingte Freiheitsstrafe. 17 Kantone hingegen beurteilten die präventive Wirkung als «gering/ungenügend».
Woher die unterschiedliche Einschätzung? Sind in den zwei Jahren seit Einführung der bedingten Geldstrafen die Straftaten bei einschlägigen Delikten tatsächlich in gewissen Kantonen angestiegen? Nachdem die Kriminalitätsrate laut Bundesamt für Statistik in den vergangenen Jahren nicht zugenommen hat, müsste es sich wohl um regionale Auffälligkeiten handeln. Bei welchen Delikten und in welchem Umfang sind sie zu beobachten? Oder sind die Kantone etwa wegen steigender Rückfallquoten alarmiert?
Auf welche Grundlagen stützt sich zum Beispiel der Kanton Luzern? Der geschäftsleitende Staatsanwalt Daniel Burri sagt, man habe «stets kritisch zur bedingten Geldstrafe Stellung bezogen» und «stets auf die deutlich geringere Spezialpräventionswirkung und die geringe Generalpräventivwirkung hingewiesen». Keine – neuen – Fakten also, sondern nur schon früher geäusserte Einschätzungen, Erwartungen und Vermutungen.
Resultate der Evaluation erst Ende 2012
Auch der Aargau hat keine handfesten Zahlen vorzuweisen. «Die seitens der verschiedenen Behörden vorgenommenen Einschätzungen basieren nicht auf statistischen Fallzahlen, sondern entsprechen deren unmittelbaren Wahrnehmung», so Samuel Helbling, Sprecher des Departements Volkswirtschaft und Inneres. Helbling betont, dass sich diese unmittelbare Wahrnehmung «zurzeit weder belegen noch widerlegen» lasse, weil die bedingte Geldstrafe erst gerade eingeführt wurde «und dementsprechend keine erhärteten statistischen Zahlen vorliegen können».
Interessant wird es dort, wo die Einschätzungen der verschiedenen Stellen innerhalb desselben Kantons weit auseinandergehen. Im Kanton Zürich begründet die Staatsanwaltschaft ihre Ablehnung der bedingten Geldstrafe mit ihren praktischen Erfahrungen. «Namentlich in Einvernahmen zeigt sich, dass der Unterschied zwischen einer Busse, einer bedingten oder unbedingten Geldstrafe und den Verfahrenskosten vielen Beteiligten kaum verständlich gemacht werden kann», so der Sprecher der Oberstaatsanwaltschaft, Rainer Angst. «Wird eine Sanktion aber schon rein kognitiv nicht verstanden, kann sie unseres Erachtens auch das menschliche Verhalten nicht wirksam beeinflussen.»
Tatsächlich? «Aus unserer Sicht ist es reine Spekulation, über die Wirksamkeit der einen oder anderen Sanktionsform zu urteilen», kontert Rebecca de Silva vom Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich. Harte Fakten lägen derzeit nicht vor, die Evaluation des Bundes sei noch in vollem Gange, «um wirklich zu einem seriösen Urteil kommen zu können, werden wir während einiger Jahre Erfahrungen sammeln und Beobachtungen anstellen müssen».
Eine erste landesweite Evaluation wird voraussichtlich aber erst Ende 2012 vorliegen. Ist die Vorlage des Bundes zur Revision des AT-StGB des Bundes, die sich auf keine wissenschaftlichen Erkenntnisse stützen kann, demnach unseriös? «Wir haben nicht behauptet, uns auf wissenschaftliche Grundlagen zu stützen», sagt Bernardo Stadelmann, Vizedirektor im Bundesamt für Justiz. Parteiübergreifend sei die Regierung mit einer Reihe von Vorstössen zum Handeln aufgefordert worden. Diesem Auftrag des politischen Konsens sei sie mit gutem Grund und gestützt auf die Einschätzungen von Fachleuten an der vordersten Front nachgekommen. Die FPD-Fraktion hatte die Abschaffung der bedingten Geldstrafe mit einer parlamentarischen Initiative verlangt, und rund um die Sondersession Strafrecht vom Juni 2009 hagelte es Vorstösse von BDP, CVP und SVP. «Die Generalprävention ist ein hohes Gut», sagt BJ-Vizedirektor Bernardo Stadelmann, «auf dem Spiel steht nicht weniger als die Glaubwürdigkeit des Justizsystems.»
Die Bevölkerung will keine härteren Strafen
Die Logik dahinter: Das Volk verlangt härtere Strafen, also bekommt das Volk härtere Strafen – egal ob sie etwas nützen. Allerdings ist bereits die Grundannahme falsch, wie Forschungsresultate zeigen. Sie fördern eine erstaunliche Diskrepanz zutage: «Das Volk ist zwar generell der Meinung, dass die Justiz zu lasch sei – aber nur, wenn die Frage abstrakt gestellt wird», erklärt André Kuhn, Strafrechtsprofessor an den Universitäten Lausanne und Neuenburg. «Präsentiert man hingegen konkrete Fälle, so würde die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung mildere Strafen als die Richter verhängen.» Dies zeigt eine Studie, die Kuhn Mitte September an der Tagung «Strafe muss sein» der Paulus-Akademie in Zürich präsentiert hat.
Konkret legte er einer repräsentativen Auswahl der Bevölkerung – 959 Personen – vier Kriminalfälle vor, die sich an realistischen Vorgaben orientieren: Ein rückfälliger Raser mit Tempo 232 statt der erlaubten 120 Kilometer pro Stunde auf der Autobahn, ein ebenfalls rückfälliger Einbrecher, ein Vergewaltiger und ein Bankangestellter, der über eine Million Franken unterschlagen hat. Dieselben Fälle bekamen 143 Richter zur Beurteilung. Nur ein kleiner Teil der 959 Personen verhängte höhere Strafen als die Richter, dabei handelte es sich um eine Gruppe «ultra-punitiver» Personen aus einfachen Verhältnissen, mit tieferem Bildungsstand und keinen eindeutigen politischen Präferenzen. Mehrheitlich lagen die Urteile aus der «Bevölkerung» tiefer als jene der Richter. Die Studie wurde in den Jahren 2000 und 2007 durchgeführt, einzig beim Vergewaltiger kam es in diesem Zeitraum zu einer Änderung, indem die Mehrheit der Bevölkerung zu einer etwas härteren Bestrafung schritt.
Zwei Schlussfolgerungen lässt die Studie zu. Erstens zeigt sich, dass der Kenntnisstand über die Strafjustiz bei den «Ultra-Punitiven» relativ tief ist. Daraus kann man ableiten, dass die Akzeptanz der Justiz mit dem Wissen über sie ansteigt – ein klarer Handlungsauftrag, die Transparenz und Kommunikation zu verbessern. Die Haupterkenntnis aber fasst Professor André Kuhn so zusammen: «Weder die Politiker noch die Vertreter von Minderheiten können sich auf die öffentliche Meinung berufen, wenn sie eine Verschärfung der Sanktionen im Strafrecht fordern.»