Sie ist die grosse Ausnahme: Die 35-jährige Staatsanwältin Marilyn Mosby in Baltimore, Bundesstaat Maryland. Mosby ist schwarz und sagt, sie sei selber von der Polizei belästigt worden, ebenso ihr Mann. Marilyn Mosby hat das getan, was sonst praktisch nie geschieht, wenn in den USA Afroamerikaner durch Polizeigewalt umkommen: Im Fall des Schwarzen Freddie Gray hat die Staatsanwältin juristische Laien überzeugt, die verdächtigen Polizeibeamten anzuklagen – wegen Totschlags und fahrlässiger Tötung. Die Laien waren in der Rolle von Geschworenen.
Nach einer Straftat sind es in den USA oft Bürgerinnen und Bürger, die im Vorfeld über die Anklage entscheiden, sprich: ob einem Verdächtigen der Prozess gemacht werden soll oder nicht. Grand Jury heisst dieses Gremium. Es kommt in rund der Hälfte aller US-Bundesstaaten zum Einsatz.
Das Grand-Jury-System gilt als problematisch, weil die Laien einseitig vom Staatsanwalt über den Fall informiert werden. Die Verteidiger des Angeschuldigten haben keinen Kontakt zu den Geschworenen. Es gibt keinen Richter, der den Prozess überwacht, und die Grand Jury fällt ihren Entscheid im Geheimen. Kritiker sprechen von Abnickergremien, die stets den Anweisungen der Staatsanwälte folgten. Der ehemalige oberste Richter im Bundesstaat New York, Sol Wachtler, prägte den Ausspruch: «Die Grand Jury würde selbst ein Schinkensandwich anklagen.»
Wird ein Polizist einer Straftat verdächtigt, spielt das Grand-Jury-System meist zu seinen Gunsten: Weil Staatsanwälte im Alltag eng mit Polizisten zusammenarbeiten, beeinflussen sie die Geschworenen in der Regel dahingehend, die Beamten nicht anzuklagen. Gemäss einer Statistik aus der texanischen Stadt Dallas haben Grand Jurys in 81 Ermittlungen gegen Polizeigewalt nur einmal Anklage erhoben.
Nicht zu verwechseln sind diese Grand Jurys mit jenen Geschworenen, die man aus US-Gerichtsthrillern und TV-Serien kennt – wo Hausfrauen, Büroangestellte und Arbeitslose als Geschworene im Gerichtssaal gespannt den Ausführungen von Anklage und Verteidigung folgen, um zum Schluss über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten zu entscheiden. Dabei handelt es sich um die sogenannte Trial Jury, in der meist zwölf Laien sitzen. Diese Geschworenen sind in der Rolle des Richters und fällen das Urteil in einem zivilen oder einem Strafprozess.
Schwarze bei Juryauswahl diskriminiert
In den USA kann jeder Bürger ab 18 Jahren als Geschworener aufgeboten werden, sofern er sich keines Verbrechens schuldig gemacht hat. Die Bezahlung variiert je nach Bundesstaat: von 10 Dollar pro Tag in Alabama bis 50 Dollar in Arkansas. Jurys werden in einem Zwei-Stufen-Verfahren bestimmt: Nach einer zufälligen Auswahl aufgrund von Listen mit registrierten Wählern und Fahrzeughaltern werden die Laien in einer zweiten Phase von den Anwälten des Klägers und des Angeklagten intensiv befragt.
Beide Seiten können Geschworene, die sie für befangen halten, vom Prozess ausschliessen. Sie müssen nicht einmal Gründe angeben. Meist tun sie es doch, weil der Oberste Gerichtshof verlangt, dass Rassendiskriminierung zu verhindern ist. Faktisch werden Schwarze dennoch bei der Juryauswahl diskriminiert. Studien aus den Südstaaten Alabama, Louisiana und North Carolina zeigen, dass Staatsanwälte Afroamerikaner doppelt oder dreimal so häufig wie Weisse und Latinos als Geschworene ablehnten. Die Begründungen waren abstrus: Der Geschworene sei arrogant, hiess es in einem Fall, die Geschworene würde einen zu engen Rock tragen in einem anderen.
Jurys, die nur aus weissen Mitgliedern bestehen, verurteilen schwarze Angeklagte häufiger als weisse. Diese Klage hörte man vor zwei Jahren beim Freispruch des weissen Wachmanns George Zimmerman, der den unbewaffneten Schwarzen Trayvon Martin getötet hatte. In der Jury sassen fünf weisse Frauen und eine Latina, aber keine Afroamerikaner.
Noch heikler ist, dass die Trial Jury eine eigentliche Black Box ist: Man weiss nicht, warum und wie sie entscheidet, weil sie ihre Urteile nicht begründet. Als Ausgleich dafür sind die Prozessregeln streng: Die Laien dürfen mit niemandem über den Fall reden und keine Zeitungsartikel und Fernsehberichte zum Prozess konsumieren. In Straffällen müssen sie ihr Urteil einstimmig fällen. Ansonsten spricht man von einer «hung jury». Der Staatsanwalt muss dann über ein neues Gerichtsverfahren mit neuer Jury-Zusammensetzung entscheiden, was zeitaufwendig und teuer ist.
Gegner der Todesstrafe ausgesiebt
Kommt hinzu: Die Laien müssen die Beweise, die ihnen Anklage und Verteidigung präsentieren, selber gewichten. Erst vor der Urteilsfindung klärt sie der Richter über die Rechtslage auf. Und erst nach dem Urteil der Laien bestimmen die Profirichter in den meisten Bundesstaaten das Strafmass.
Um einen Angeklagten zu verurteilen, muss die Beweislage gemäss US-Instruktion «beyond a reasonable doubt» eingeschätzt werden, das heisst: Die Geschworenen müssen den Angeklagten bloss für hinreichend schuldig halten. Zwar kann der Richter ein offenkundiges Fehlurteil aufheben und einen neuen Prozess anordnen. Das wird aber höchst selten gemacht, weil Geschworenengerichte in den USA hohes Ansehen geniessen. Das Recht auf einen öffentlichen Prozess vor einer Laienjury ist in einem Zusatzartikel der US-Verfassung verankert. Sie gilt als demokratische Kontrolle von Regierung und Justiz. In den Augen der Bevölkerung werden zwölf Laien stellvertretend für die Gesellschaft in den Gerichtssaal entsandt, um staatlicher Willkür bei der Rechtssprechung vorzubeugen.
Besonders heikel sind Laienentscheide in Fällen, bei denen die Todesstrafe zur Anwendung kommen kann. Für einen solchen Prozess werden nur Geschworene ausgewählt, die die Todesstrafe nicht kategorisch ablehnen. Studien zeigen, dass Angeklagte aufgrund dieser Auslese unabhängig vom Strafmass häufiger schuldig gesprochen werden.
Beweise verschwinden, damit die Anklage gewinnt
Ein weiteres Problem: Juristische Laien reagieren oft emotional. Dies beweist der Fall der Deutsch-Amerikanerin Debra Milke, die 22 Jahre unschuldig in der Todeszelle sass: Im Bundesstaat Arizona war sie angeklagt, zwei Männer angestiftet zu haben, ihren vierjährigen Sohn zu erschiessen. Vor Gericht hatte die ihre Unschuld beteuernde junge Mutter keine Chance gegen den uniformierten Sheriff Armando Saldate, der unter Eid aussagte, Milke habe ihm das Verbrechen gestanden. Dafür gab es keine Beweise, weder Zeugen, Tonaufnahmen noch ein unterschriebenes Geständnis.
Debra Milkes Fall zeigt, dass die US-Justiz in vielen Fällen politisiert ist. Im Süden machen Polizisten Karriere und Staatsanwälte sichern sich ihre Wiederwahl, wenn sie «tough on crime» sind, also hart gegen angebliche Verbrecher vorgehen. «Es gibt Staatsanwälte, die lügen und betrügen», sagt Debra Milkes Anwalt Mike Kimerer. «Sie verstecken Beweismaterial, weil sie sonst ihren Fall nicht gewinnen.»
So hatte Sheriff Saldate die Geschworenen auch in anderen Fällen unter Eid belogen und Staatsanwalt Noel Levy hatte Beweismaterial vorenthalten. Levy ist mitverantwortlich für die Verurteilung eines zweiten Unschuldigen, der zehn Jahre in der Todeszelle sass. Jeder zehnte, seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 Hingerichtete erwies sich im Nachhinein als unschuldig, was meist mit DNA-Analysen festgestellt wurde. Debra Milke kam im März 2015 definitiv frei.
Trotz der Gefahr krasser Fehlurteile ist das Jury-System bis heute unumstritten. In der Bevölkerung verfangen die Argumente der Befürworter: Auch Richter hätten Vorurteile, eine Gruppe von Laien urteile demokratischer als eine Einzelperson. In der Tat scheinen die Urteile von Laien und Richtern mehrheitlich deckungsgleich: Gemäss US-Studien stimmen Richter in rund 75 Prozent der zivil- und strafrechtlichen Fälle mit den Laien überein. In den übrigen Fällen würden Richter strenger als die Jury urteilen.
Insgesamt aber werden Geschworenengerichte nur noch bei rund 5 Prozent der Strafverfahren einberufen. Der Grund: Die meisten Fälle werden aussergerichtlich mit «plea bargains» gelöst. Im Austausch für ein Geständnis schlägt der Staatsanwalt dem Angeklagten eine geringere Strafe vor, als in einem Gerichtsverfahren abzusehen ist. Dieses System ist effizienter für die Gerichte, die in den USA chronisch überlastet sind.
Grand Jurys bei Fällen mit Polizeigewalt abschaffen
Die neu entfachte Diskussion um Rassendiskriminierung in Fällen von weisser Polizeigewalt gegen Schwarze hat jetzt aber Konsequenzen für das Laienjustizwesen der USA. Als erster Bundesstaat hat Kalifornien Anfang August die Grand Jury in Fällen von tödlicher Polizeigewalt abgeschafft. Neu werden die Bezirksanwälte über eine Anklage entscheiden. Damit machen sie sich persönlich haftbar, wenn sie einen verdächtigen Polizisten nicht anklagen.
Im Staat New York untersucht seit Juli der Generalstaatsanwalt Fälle von Polizeigewalt. Im Gegensatz zu Bezirksanwälten, die mit der Polizei zusammenarbeiten, gilt er nicht als befangen. Auf Bundesebene hat Hank Johnson, schwarzer Demokrat im Repräsentantenhaus, im Januar den «Grand Jury Reform Act» eingereicht. Er fordert Sonderstaatsanwälte und öffentliche Hearings, wenn Polizisten Bürger getötet haben. Bundesgelder sollen nur noch an Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften fliessen, die sich entsprechend verhalten.