Der Bundesrat verabschiedete im Dezember 2021 die Botschaft zum kollektiven Rechtsschutz. Neu sollen Verbände und andere Organisationen Ansprüche für eine Vielzahl von Betroffenen mit einer Verbandsklage einfordern können. Kommt es dabei zu einem kollektiven Vergleich, ist bei sogenannten Streuschäden, also bei geringen Ersatzansprüchen vieler Geschädigter, auch ein Opt-out-Vergleich möglich. Das bedeutet, der Vergleich gilt für alle Geschädigten, die nicht innert einer vom Gericht bestimmten Frist den Austritt aus dem Vergleich erklären.
Das Gericht muss gemäss dem Vorschlag des Bundesrats den Vergleich zuerst prüfen, bevor es ihn genehmigt und für verbindlich erklärt. Weitere besondere prozessuale Vorschriften, etwa zu den Kostenfolgen, zur Schadenersatzbemessung oder zum Beweis, sieht der Vorschlag nicht vor. Es gelten die allgemeinen Regeln der Zivilprozessordnung. Der Bundesrat betont in seiner Botschaft, dass er keine Sammelklage im Sinne der US-amerikanischen «class action» einführen will.
«Botschaft des Bundesrats lässt zu viele Fragen offen»
Ende Juni 2022 prüfte die Rechtskommission des Nationalrates ein erstes Mal den Vorschlag des Bundesrates – und verschob den Entscheid über das Eintreten auf die Vorlage. Begründung: Die Botschaft lasse «noch zu viele Fragen offen». Die Kommission beauftragte das Justizdepartement unter anderem mit einer «Regulierungsfolgenabschätzung». Das Departement reichte den Auftrag an das Berner Beratungsbüro Ecoplan weiter, das seinen Bericht im Juni 2023 abgab.
Ecoplan untersuchte die Auswirkungen des bundesrätlichen Vorschlags auf die Firmen und die Gesamtwirtschaft. Es analysierte unter anderem Studien aus dem europäischen Ausland und interviewte 14 Experten aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz. Unter den befragten Personen befand sich neben Pascal Pichonnaz, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Konsumentenfragen, auch Erich Herzog, Geschäftsleitungsmitglied des Wirtschaftsverbands Economiesuisse. Auf eine grossangelegte Umfrage direkt bei Unternehmen wurde damals verzichtet.
Das Resultat der Studie: Laut Ecoplan kann nicht beurteilt werden, wie sich die Vorlage auf die Gesamtwirtschaft auswirken wird. Es sei aber nicht mit einem markanten Anstieg von Klagen gegen Unternehmen zu rechnen. Und es sei wenig wahrscheinlich, dass die Vorlage zu einer Preiserhöhung führe oder dass Unternehmen ins Ausland abwandern würden.
Die Rechtskommission des Nationalrates nahm im Juli 2023 «die Resultate der Regulierungsfolgenabschätzung zur Kenntnis», sie verschob den Entscheid über das Eintreten auf die Vorlage jedoch ein zweites Mal. In der Folge beauftragte die Kommisson das Justizdepartment unter anderem damit, die von Ecoplan festgestellte Regulierungsfolgenabschätzung durch die Befragung von direkt betroffenen Unternehmen zu validieren. Das Departement reichte den Auftrag wiederum an Ecoplan weiter, das seinen Bericht über die Zusatzabklärungen im Februar 2024 abgab.
Ecoplan führte im Herbst 2023 eine Internetumfrage bei 829 Firmen durch. Darunter befanden sich 352 Grossfirmen mit 100 und mehr Angestellten. 119 Unternehmen, die an der Umfrage teilnahmen, haben den Sitz im Ausland oder sind auf eine andere Art im Ausland präsent, zum Beispiel über eine Tochterfirma oder weil sie mehr als 50 Prozent des Umsatzes im Ausland erzielen.
«Abschätzung der Kosten nicht möglich»
Das Resultat der Umfrage bestätigt weitgehend die Annahmen und Einschätzungen der Regulierungsfolgenabschätzung durch Ecoplan: Eine zuverlässige Quantifizierung der Gesamtkosten sei nicht möglich. Denn die befragten Unternehmen konnten die möglichen Kosten nicht abschätzen, weil die Anzahl Fälle und die Kosten pro Fall nicht vorhersehbar seien. Allerdings befasste sich bisher der Grossteil der Unternehmen noch gar nicht oder nur «wenig intensiv» mit der Bundesratsvorlage, schreibt Ecoplan.
Nur gerade 21 der rund 800 befragten Unternehmen erachten es als wahrscheinlich, dass gegen sie in der Schweiz eine Verbandsklage nach Annahme der Vorlage eingereicht wird. 21 Unternehmen gaben in der Umfrage an, bisher in ein Kollektivklageverfahren involviert gewesen zu sein. Die grosse Mehrheit der Firmen erachtet es als unwahrscheinlich, dass sie in der Schweiz oder im Ausland von einer Kollektivklage wegen Massen- oder Streuschäden betroffen wären.
Nur rund 50 Unternehmen gehen davon aus, dass die Vorlage zu einer Preiserhöhung führt. Und nur gerade zwei Unternehmen gaben an, dass sie wegen der bundesrätlichen Vorlage den Hauptsitz aus der Schweiz weg verlegen könnten.
Die Rechtskommission des Nationalrats nahm an ihrer Sitzung vom 11. April den Zusatzbericht von Ecoplan zur Kenntnis. Dennoch verschob sie den Entscheid über das Eintreten auf die Vorlage zum dritten Mal. Denn zwei Tage vor der Sitzung gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg einer Klage des Vereins Klimaseniorinnen Schweiz statt und verpflichtete die Schweiz zu stärkeren Anstrengungen beim Klimaschutz.
Aufgrund dieses Urteils sah die Rechtskommission «weiteren Klärungsbedarf» und trat auf die Bremse. Sie beauftragte die Verwaltung, «ihr in einer Notiz darzulegen, welche direkten oder indirekten Folgen dieser Entscheid für die Ausgestaltung von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes im System des schweizerischen Privatrechts allenfalls haben könnte».
«Skandalöse Verzögerungstaktik»
Die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) kritisiert den Entscheid als «skandalöse Verzögerungstaktik». Die SKS hatte 2019 mit ihrer Verbandsklage gegen Volkswagen vor Bundesgericht eine Niederlage erlitten.
Der Wirtschaftsverband Economiesuisse dagegen begrüsst den Beschluss der Rechtskommission «sehr». Die Wirtschaft werde «alles daransetzen, dass die Schwächen und insbesondere die Gefahr der bundesrätlichen Vorlage erkannt» würden, schreibt das Geschäftsleitungsmitglied Erich Herzog. Er erklärt: «Die Wirtschaft setzt darauf, dass die Kommission die Vorlage in ihrer nächsten Sitzung als unrettbar erkennt und endgültig zurückweist.»
«Der Klageindustrie wird Tür und Tor geöffnet»
Der Wirtschaftsverband hatte die Vorlage bereits im Dezember 2021 kritisiert. Mit ihr werde «der internationalen Klageindustrie Tür und Tor geöffnet». Dadurch seien alle Firmen «massiven Haftungsrisiken» ausgesetzt, was zu Preiserhöhungen führe. Die Schweizer Wirtschaft lehne die Vorlage daher «geschlossen» ab.
Economiesuisse veröffentlichte am 10. April eine eigene Studie – am Tag bevor die Rechtskommission des Nationalrats die Vorlage des Bundesrates zum dritten Mal beriet und den Entscheid ein weiteres Mal verschob. Economiesuisse gab die Studie gemeinsam mit Swissholdings, dem Verband für multinationale Unternehmen, in Auftrag. Die Wirtschaftsverbände beauftragten das Zürcher Forschungsinstitut Sotomo, bei Unternehmen eine Befragung zu den Auswirkungen einer Sammelklage durchzuführen. 82 Firmen nahmen teil. Die Hälfte davon waren Grossbetriebe mit mindestens 1000 Beschäftigten. Zwei Drittel der Umfrageteilnehmer sind international tätig.
Laut Umfrage lehnen zwei Drittel der befragten Unternehmen die Vorlage ab. Sie würde zu einer markanten Zunahme von Klagen führen. Besonders ausgeprägt sei die Ablehnung bei Grossbetrieben, die das Instrument aus ihrer Tätigkeit in anderen Ländern kennen. Eine Mehrheit der Unternehmen gehe davon aus, die zusätzlichen Kosten auf die Kundschaft abzuwälzen, schreibt Sotomo.
Zu den eigentlichen Profiteuren eines kollektiven Rechtsschutzes gehörten nach Ansicht der meisten Unternehmen die Konsumentenschutzverbände, Aktivisten, Anwälte und Prozessfinanzierer. Nur die Hälfte der befragten Unternehmen geht davon aus, dass die Einführung einer Sammelklage den Konsumenten zugutekommen würde. Daher sei es zielführender, wenn die bestehende Einzelklage optimiert werde oder sich die Betroffenen an eine Ombudsstelle für eine Mediation wenden könnten.
Keine Frage zu Erfahrungen mit Kollektivklagen
So weit die Resultate der Sotomo-Umfrage. Was auffällt: Aus dem Bericht geht nicht hervor, ob sich die 82 befragten Unternehmen mit der bundesrätlichen Vorlage überhaupt befasst haben und ob diese Betriebe schon einmal konkret in ein Kollektivklageverfahren involviert waren.
Beide Fragen stellte Sotomo den teilnehmenden Firmen nicht – dies im Gegensatz zu den 829 von Ecoplan befragten Unternehmen. Für Peter Herzog von Economiesuisse zeigt das Ergebnis der Firmenumfrage klar auf: «Schweizer Unternehmen wollen keine Sammelklagen.»
«Nicht repräsentativ für die gesamte Wirtschaft»
Doch stimmt das wirklich? Im Sotomo-Bericht steht etwas anderes, nämlich: «Aufgrund der selbst rekrutierten Stichprobe lassen sich die Aussagen nicht verallgemeinern, und sie sind statistisch nicht repräsentativ für die gesamte Schweizer Wirtschaft.»
Die Rechtskommission des Nationalrats geht aufgrund der laufenden Zusatzabklärung durch die Bundesverwaltung davon aus, dass der Vorschlag zum kollektiven Rechtsschutz vom Nationalrat frühestens in der Herbstsession beraten werden kann.
Die US-Sammelklage – ein Schreckgespenst
Die US-Sammelklage unterscheidet sich in zwei Punkten von der Verbandsklage, wie sie der schweizerische Bundesrat vorschlägt. Sie ist als Opt-out-Klage ausgestaltet. Das heisst: Alle Mitglieder der Klägergruppe nehmen am Verfahren teil, wenn sie nicht aktiv austreten. An die Legitimation der klagenden Partei werden keine besonderen Anforderungen gestellt.
Zudem beruht das US-amerikanische Prozessrecht auf diversen Besonderheiten, mit denen eine Sammelklage als Druckmittel für einen Vergleich missbraucht werden kann: Die Gerichtskosten sind streitwertunabhängig und sehr tief. Jede Partei muss ihre Kosten selbst tragen – also auch der Beklagte, wenn er den Prozess gewinnt.
Die Anwälte arbeiten häufig auf reiner Erfolgsbasis, sodass für den Kläger kein Kostenrisiko besteht. Die Verhandlungen finden vor einem Geschworenengericht aus Laien statt. Diese können «punitive damages» zusprechen. Das sind privatrechtliche Zahlungen, die Strafcharakter haben und exorbitant über die tatsächlich erlittenen Schäden hinausgehen.