Am 25. Oktober 2015 gewann die rechtsstehende Partei Prawo i Sprawiedliwość (deutsch: Recht und Gerechtigkeit, PiS) in den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit. Mit diesem Wahlsieg beginnt die erste Etappe der polnischen Verfassungskrise. Kaum hatte sich im November das neue Parlament konstituiert, annullierte nämlich die PiS-Mehrheit die durch das vorherige Parlament erfolgte Ersatzwahl von fünf Richtern für das Verfassungsgericht. An ihrer Stelle wählte das neue Parlament fünf andere Richter. Zudem kürzte es per Gesetzesänderung die Amtszeit des Vorsitzenden und des stellvertretenden Vorsitzenden des Verfassungsgerichts.
Die PiS behauptete, dass diese Massnahmen begründet seien, weil der vorherige Sejm die Verfassungsbestimmungen verletzt habe. Das Parlament habe damals nämlich fünf neue Verfassungsrichter gewählt, obwohl es nur zur Wahl von drei Richtern befugt gewesen sei. Die neue Regierungspartei begründete aber nicht, weshalb alle fünf Richter ersetzt wurden. Die PiS erklärte auch nicht, warum sie nicht abwarten wollte, bis das Verfassungsgericht über die Rechtmässigkeit der vorherigen Wahl entschieden hatte. Die PiS verfolgte vielmehr eine Politik der «faits accomplis»: Die fünf Richter wurden am 2. Dezember 2015 gewählt – obwohl das Verfassungsgericht angekündet hatte, sein Urteil zur Bestätigung der Rechtmässigkeit der Wahl von drei Richtern durch das vorherige Parlament am Tag darauf zu fällen.
Die nächste Etappe der polnischen Rechtsstaatskrise bestand in sechs Gesetzen, die das Parlament 2016 verabschiedete. Sie regelten die Funktionsweise des Verfassungsgerichts neu. Dieses selbst erklärte die Gesetzesnovellen jedoch ganz oder teilweise für verfassungswidrig. Die PiS gab vor, mit diesen Gesetzen wolle man die Arbeit des Verfassungsgerichts effizienter gestalten. Das tatsächliche Ziel bestand aber darin, seine Tätigkeit zu lähmen. Für die PiS war und ist nämlich das Verfassungsgericht das Haupthindernis für eine grundlegende Reform des Staates.
So sahen die Gesetze vor, dass das Verfassungsgericht künftig nicht früher als sechs Monate nach Eingang Rechtssachen bearbeiten dürfe – man wollte so die Reaktionsfähigkeit des Gerichts empfindlich einschränken. Es wurde auch der verfassungswidrige Versuch unternommen, die erforderliche Mehrheit zu erhöhen, mit der die Verfassungsrichter ihre Entscheidungen treffen: von einer einfachen auf eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln.
Missachtung von Urteilen des Verfassungsgerichts
Das ganze Jahr 2016 war dadurch gekennzeichnet, dass die PiS Richter persönlich und offen angriff, ostentative Kritik an ihnen übte und Urteile des Verfassungsgerichts missachteten. Ein lebhaftes Echo löste zum Beispiel die Weigerung der polnischen Ministerpräsidentin aus, das Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. März 2016 zu veröffentlichen. Darin hatte das Gericht eine der sechs Gesetzesnovellen zur Neuregelung der Arbeit des Verfassungsgerichts für vollständig verfassungswidrig erklärt. Die fehlende Veröffentlichung des Urteils wurde danach zum Anlass genommen, auch weitere Urteile des Verfassungsgerichts zu missachten.
Diese zweite Krisenetappe endete im Dezember 2016, als der damalige Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Andrzej Rzeplinski, zurücktrat. Seine Nachfolgerin war Julia Przylebska – eine der fünf Richter, die von der PiS am 2. Dezember 2015 ins Amt berufen worden waren.
Die Berufung Przylebskas hatte und hat zur Folge, dass das Verfassungsgericht für die Macht kein Hindernis mehr darstellt. So ist dieses Jahr die Zahl der Rechtssachen, die vor Verfassungsgericht kamen, erheblich gesunken. Hauptantragsteller sind dabei meist Vertreter der PiS, die nach verfassungsgerichtlicher Bestätigung der Legalität ihrer Handlungen nachsuchen. Dies ist zumindest sonderbar, denn ein unabhängiges Verfassungsgericht empfängt meistens Anträge der Opposition und nicht der herrschenden Partei.
Das Verfassungsgericht entscheidet immer häufiger im Sinn der PiS. Etwa mit seinem Urteil, in dem es die Einschränkung der Versammlungsfreiheit bestätigte. Oder mit jenem Urteil, mit dem das Gericht die Regierungspläne legitimierte, die Unabhängigkeit des Landesjustizrats einzuschränken – und damit die Unabhängigkeit aller Richter an polnischen ordentlichen Gerichten.
Neuer Verfassungsrichter ist offen parteiisch
Von einem unabhängigen Kritiker der Herrscher ist das Verfassungsgericht somit zum Erfüllungsgehilfen der Regierungspolitik geworden. Das zeigt auch das Beispiel von Lech Morawski. Auch er ist einer der fünf am 2. Dezember 2015 ernannten Verfassungsrichter. Er nahm im Mai an einer Konferenz über die polnische Verfassungskrise in Oxford teil. Als man ihn dort fragte, wen er vertrete, sagte Morawski, dass er sowohl Vertreter des Verfassungsgerichts als auch der Regierung sei. Und er werde diese Regierung an der Konferenz auch verteidigen. Morawski bewies damit, dass das polnische Verfassungsgericht seine Unabhängigkeit von der aktuellen politischen Macht verloren hat.
In der bisher letzten – nach wie vor andauernden – Etappe der Verfassungskrise nimmt die PiS sämtliche ordentlichen Gerichte ins Visier. Konkret geht es um drei Änderungen von Schlüsselgesetzen für die Justiz, die kurz vor den Sommerferien vorgestellt wurden: das Gesetz über das Gerichtssystem, das Gesetz über den Obersten Gerichtshof sowie das Gesetz über den Landesjustizrat. Letzterer ist laut polnischer Verfassung ein unabhängiges Verfassungsorgan, das für die Ernennung und Beförderung von Richtern verantwortlich ist.
Mit diesen Gesetzesänderungen will man den Politikern die vollständige Kontrolle über die Ernennung und Amtsenthebung von Vorsitzenden der Gerichte überlassen. Und im Fall des Obersten Gerichtshofs will man es ihnen erlauben, alle Richter ihrer Ämter zu entheben.
Das Ziel der Regierungspartei ist klar: Sie will die vollständige Kontrolle über die Justiz übernehmen, da diese die vorgesehenen verfassungswidrigen Rechtsänderungen erschweren könnte. Da Präsident Andrzej Duda unerwartet sein Veto gegen zwei der drei Gesetze eingelegt hat, wird derzeit an weiteren Fassungen gearbeitet. Trotzdem trat das dritte Gesetz, das die politische Kontrolle über die Ernennung und Amtsenthebung von Richtern erlaubt, bereits in Kraft.
Offene Rechnungen seit dem Übergangsprozess
Die Ursachen der Krise sind in der Geschichte des postkommunistischen Übergangsprozesses zu suchen. Die Politik des dicken Strichs – das heisst der Verzicht auf eine Abrechnung mit den Kommunisten – betrachtete die PiS stets als Erbsünde des Übergangsprozesses. Der heutige Parteivorsitzende forderte 1992, dass mit Personen, die mit kommunistischen Herrschern zusammengearbeitet hatten, abgerechnet wird. Der Versuch scheiterte damals und führte zum Machtverlust der PiS: Das 1997 verabschiedete neue Grundgesetz wurde ohne ihre Mitwirkung verfasst und durch die Bevölkerung gegen den Willen der PiS akzeptiert.
Einen weiteren Versuch der Abrechnung mit der Vergangenheit unternahm die PiS, nachdem sie die Wahl 2005 gewonnen hatte. Das damals verabschiedete «Lustrationsgesetz», das den Umfang der Zusammenarbeit polnischer Eliten mit der kommunistischen Macht aufdecken sollte, focht die Opposition jedoch vor Verfassungsgericht an. 2007 erklärte das Verfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig – wegen der unpräzisen Definition der Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Regime.
Das Grundgesetz wird delegitimiert
Nach diesem Urteil haben die PiS-Spitzenvertreter die These von der «rechtlichen Unmöglichkeit» in Polen aufgestellt: Das Recht sei eine Hürde für den Aufbau eines Staates auf gesunder Grundlage. Damals entstand der Plan, die Rolle der Justiz als unabhängige Instanz einzuschränken, damit sie die Umsetzung politischer Pläne nicht mehr verhindern kann.
Laut dem PiS-Vorssitzenden Jaroslaw Kaczynski ist das polnische Grundgesetz von 1997 «postkommunistisch». Die Partei behauptet, es werde als Werkzeug zum Schutz postkommunistischer Eliten und Drangmittel gegenüber der Bevölkerung eingesetzt. Das Grundgesetz stelle ein Hindernis für die Umsetzung richtiger Gerechtigkeit dar und hemme die geforderte Umverteilung von Gütern und Rechten. Als Wächter dieser postkommunistischen Verfassung sieht die PiS die Justiz – sowohl in Form des Verfassungsgerichts als auch des Obersten Gerichtshofs. Das Grundgesetz, das in den Augen der jetzigen Herrscher sowieso keine Legitimation hat, ist nichts weiter als ein Stück Papier.
Die sozialen Ursachen der Verfassungskrise liegen in einem Gefühl der historischen Ungerechtigkeit – dass man das kommunistische Regime nicht ausreichend zur Rechenschaft gezogen habe. Das empfindet nicht nur die PiS so, sondern ein erheblicher Teil der polnischen Gesellschaft. Diese bisher ungelöste historische Streitfrage ist für die PiS frustrierend. Als Folge dieser Frustration beobachtet man politische Aggressivität, die sich gegen die Rechts- und Wissenschaftseliten richtet.
Dabei gehen einfache Tatsachen vergessen – etwa, dass das Durchschnittsalter polnischer Richter bei 38 Jahren liegt. Dies bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Kommunismus noch Kinder waren. Es ist daher schwierig, sie wegen Postkommunismus anzugreifen. Die Politik muss aber im Gegensatz zum Recht nicht auf rationalen Voraussetzungen basieren – die polnische Verfassungskrise ist ein klarer Beweis dafür.
Marcin Matczak
Der Autor ist Professor an der Universität Warschau, spezialisiert auf Rechtstheorie und -philosophie. Weitere Artikel zur polnischen Verfassungskrise veröffentlicht Marcin Matczak auf Verfassungsblog.de.