plädoyer: Laut Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. Oktober verstösst die Observation der Versicherten gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens. Der Fall: Eine Schweizerin wurde 1995 auf einem Fussgängerstreifen von einem Motorrad erfasst. Sie prallte mit dem Hinterkopf auf die Strasse. Eine medizinische Begutachtung erachtete sie als voll arbeitsunfähig. Die Axa als private Unfallversicherung wollte die Leistungen ab 1997 reduzieren und später vollständig einstellen. Zur Begründung dieses Schritts liess sie die Verunfallte versteckt observieren. Frage: Müssen Verunfallte in der Schweiz neben ihren Körperverletzungen auch noch schwere Eingriffe in ihre Persönlichkeitsrechte erdulden?
Stephan Fuhrer: Das Bundesgericht sagt klar: Eine Observation ist ein Grundrechtseingriff. Aber Grundrechte gelten nicht absolut, es ist ein Abwägen von sich gegenüberstehenden Interessen.
Markus Schmid: Selbst als Geschädigtenvertreter muss ich sagen: Hat der Versicherer das begründete Gefühl, eine Person würde missbräuchlich Ansprüche geltend machen, muss er das Recht haben, das zu überprüfen. Die Observation ist hier aber nur eine ultima ratio.
plädoyer: Im Strafrecht braucht es einen dringenden Tatverdacht als Voraussetzung für einen Grundrechtseingriff. In der obligatorischen Unfallversicherung liegt die Schwelle für eine Observation potenziell Unschuldiger bedeutend tiefer.
Fuhrer: Eine Observation ist ein Grundrechtseingriff, das ist unbestritten. Entsprechend muss der Versicherer gute Argumente haben, die einen solchen Eingriff rechtfertigen. Davon geht auch das Bundesgericht aus. Dabei sollten immer folgende Fragen geklärt werden: Worin besteht der Verdacht? Wie gross ist der Schaden? Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Höhe des Schadens ein Element, das eine Versicherung als Rechtfertigung für eine Observierung heranziehen kann. Das Bundesgericht gewichtet den Umstand stark, dass sich der Versicherer gegen ungerechtfertigte Ansprüche wehren können muss.
Schmid: Die Rechtsprechung verlangt zwar einen begründeten Anfangsverdacht, lässt dafür aber bereits eine Denunziation genügen. Es ist zu fordern, dass begründete und nachvollziehbare Zweifel an der Anspruchsberechtigung vorhanden sein müssen, bevor ein Versicherer eine Observation in die Wege leiten darf.
plädoyer: Ist dies in der Praxis nicht so?
Schmid: Nein, diese Voraussetzungen werden oft nicht erfüllt. Den Versicherungen genügt ein nicht näher begründeter Zweifel. Dieser muss nicht einmal nachvollziehbar sein – etwa durch objektive Diskrepanzen in den Beschwerdeschilderungen oder im Verhalten der versicherten Person. Wenn es um die Beurteilung eines Gesundheitsschadens geht, müssten doch zunächst alle medizinischen Massnahmen ausgeschöpft werden. Das ist aber oft nicht der Fall. Statt dass eine Person, die UVG-versichert ist, zu einer einlässlichen (kreis-)ärztlichen Untersuchung oder zu einer externen Begutachtung geschickt wird, greift der Versicherer zur Observation.
Fuhrer: Ich glaube nicht, dass es so dramatisch ist. Observationen von Versicherten sind sehr teuer. Schon daher kann man nicht wegen jeder Lappalie eine Observation in Auftrag geben.
plädoyer: Zurück zum Entscheid von Strassburg: Die Richter beanstandeten, dass es in der Schweiz gar keine gesetzliche Grundlage für einen solchen Eingriff ins Privatleben gibt. Schützt die Justiz die Privatsphäre zu wenig?
Schmid: Ganz klar, ja. Das Bundesgericht hat bisher die gesetzliche Grundlage in der Bestimmung von Artikel 43 ATSG gesehen, die sehr allgemein gehalten ist. Das Bundesgericht in Luzern kam zum Schluss, dieser Artikel sei eine ausreichende gesetzliche Grundlage für einen Grundrechtseingriff. Es ist der Meinung, der Eingriff sei nicht so tiefgreifend. Dem Bundesgericht fehlt hier ein wenig die Sensibilität für den Persönlichkeitsschutz.
plädoyer: Herr Fuhrer, rech- neten Sie mit einem solchen Entscheid aus Strassburg, als Sie das Bundesgerichtsurteil lasen, das weitergezogen wurde?
Fuhrer: Nein, eigentlich nicht. Für mich ist die materielle Frage entscheidend. Sind also wirklich genügend Gründe da, um einen solchen Eingriff zu rechtfertigen? Für die formelle gesetzliche Grundlage hatte der Bundesrat ja bei der vorletzten UVG-Revision vorgeschlagen, einen Artikel 44a in das ATSG aufzunehmen (siehe Kasten Seite 6). Dann wäre alles okay gewesen. Mit dem Nichteintretensentscheid des Parlaments auf die UVG-Revision fiel dann auch diese Norm aus der Vorlage.
plädoyer: Die Suva gab kürzlich bekannt, sie habe dem Bundesrat einen Vorschlag für einen neuen Artikel vorgelegt. Auf Anfrage von plädoyer gab sie den Inhalt nicht bekannt. Schreiben seit neustem die Versicherungen die Gesetze?
Fuhrer: Ich kenne den Vorschlag der Suva auch nicht. Aber eine parlamentarische Initiative von SVP-Nationalrat Mauro Tuena bringt einen ausformulierten Vorschlag – einen neuen ATSG-Artikel. Er wurde im Parlament noch nicht behandelt. Ich finde den bundesrätlichen Entwurf präziser. Über kurz oder lang wird eine neue Regelung im ATSG kommen. Diese wird man dann auch analog im privaten Versicherungsrecht anwenden können.
plädoyer: Das Parlament könnte dazu aber auch Nein sagen.
Fuhrer: Bei der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments kann ich mir nicht vorstellen, dass ein solches Anliegen keine Berücksichtigung findet.
Schmid: Ich bin der Meinung, dieser Artikel erfüllt die von Strassburg geforderten Voraussetzungen. Ich könnte damit leben.
plädoyer: In einem Zivilprozess hat ein Detektivbericht einer Partei keinen Beweiswert. Er gilt als reine Parteibehauptung. Im Sozialversicherungsverfahren aber stellen die Gerichte auf solche Berichte im Auftrag einer Partei ab. Warum werden privat und obligatorisch Versicherte unterschiedlich behandelt?
Schmid: Diese Ungleichbehandlung gab es leider schon immer. Das Bundesgericht in Luzern geht bei der Würdigung der Beweise davon aus, es spiele keine Rolle, von welcher Partei die Beweismittel in das Verfahren eingebracht werden. Faktisch haben Gutachten externer Ärzte und die Berichte der verwaltungsinternen Mediziner vollen Beweiswert. Ich erachte es als problematisch, wenn das Gericht den Bericht des angestellten Versicherungsarztes gleich gewichtet wie ein anderes Beweismittel. Auf den Bericht des Hausarztes, der den Patienten am besten kennt, soll nicht abgestellt werden, weil zwischen Arzt und Patient ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht. Das gleiche Argument spricht aber auch dagegen, auf den Bericht des bei der Versicherung angestellten Arztes abzustellen, ist dieser doch seinem Arbeitgeber verpflichtet. Letztendlich dürfte die Betrachtungsweise des Bundesgerichts aus der Not heraus geboren sein – denn sonst würde das System kollabieren.
plädoyer: Sollten die Parteirechte der Versicherten in sozialversicherungsrechtlichen Verfahren nicht mindestens so gut sein wie in Zivilverfahren? Denn die Sozialversicherungen sind obligatorisch, die Bürger sind zwangsversichert.
Fuhrer: In der Sozialversicherung geht man davon aus, dass der Versicherer als Behörde tätig wird, die zur Objektivität verpflichtet ist, den Sachverhalt von Amtes wegen feststellt und belastende wie entlastende Aspekte berücksichtigen muss. In der Privatversicherung stehen sich zwei gleichberechtigte Vertragsparteien gegenüber. Das ist etwas völlig anderes.
plädoyer: Axa, Zürich- oder Basler-Versicherung sind gewinnstrebende Unternehmen ohne Behördenstatus. Trotzdem sind sie auch im Sozialversicherungsbereich tätig und können von den Vorteilen des Verfahrens profitieren.
Fuhrer: Man kann sich in der Tat fragen, ob es systemkonform ist, dass ein privater Träger Sozialversicherungen betreiben kann. Das heutige System in der obligatorischen Unfallversicherung und in der beruflichen Vorsorge ist historisch bedingt und hat sich im Wesentlichen gut bewährt. Wenn ein privater Versicherer Sozialversicherungen betreibt, muss er die entsprechenden Regeln einhalten. Das machen sie nach meiner Beobachtung auch.
Schmid: Ein Beispiel: Die Zürich-Versicherung kann im gleichen Fall obligatorischer Unfallversicherer des Unfallopfers und gleichzeitig Haftpflichtversicherer des fehlbaren Automobilisten sein. In einem solchen Fall glaubt doch niemand, dass die Zürich als UVG-Versicherer nicht bestrebt sein wird, die Leistungen so tief wie möglich zu halten und die Leistungen so rasch wie möglich einzustellen – notabene mit einer Begründung, die ihr auch als Haftpflichtversicherer dient. Es ist blauäugig, hier noch immer die Fiktion aufrechtzuerhalten, die Zürich sei ein zur Neutralität und Objektivität verpflichtetes Organ des Gesetzesvollzugs. Vielleicht traf das noch in den 60er- oder 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts zu – damals hatten die Versicherungen meines Erachtens noch hohe Anforderungen an das eigene ethische Handeln. Heute ist das nicht mehr so. Es geht nur noch um pekuniäre Optimierung – egal, wer auf der Strecke bleibt.
Fuhrer: Es ist richtig, dass sich vieles verändert hat. Und nicht alles, was sich veränderte, ist positiv. Das gilt aber für die Versicherten wie die Mitarbeiter der Assekuranz.
plädoyer: Wäre es sinnvoll, die obligatorische Unfallversicherung vollständig der Suva zu übergeben, um so Sozial- und Privatversicherungen zu trennen?
Fuhrer: Was wäre damit gewonnen, wenn man liest, wie die Suva kritisiert wird? Ich bezweifle, ob dies wirklich besser wäre.
Schmid: Unter dem Strich sind die Versicherten mit der Suva besser bedient als mit einer privaten Versicherung. Die Abklärungen der Suva haben ein höheres Niveau als die eines privaten Versicherers. Natürlich kann man auch die Suva-Kreisärzte kritisieren. Aber sie versuchen nach meiner Erfahrung immerhin, die Verunfallten fair zu beurteilen. Sie sind weniger von pekuniären Interessen geleitet als ein medizinischer Berater einer Versicherung. Er schreibt in der Regel das, was der Versicherer gerne hören will.
plädoyer: Die Versicherungen werfen den Patienten immer wieder Versicherungsmissbrauch vor. Aber wer ist eigentlich am längeren Hebel? Auf der einen Seite steht eine Person, die einmal in ihrem Leben einen schweren Unfall erlitt – auf der anderen Seite eine Versicherungsgesellschaft mit spezialisierten Juristen und praktisch unbeschränkten finanziellen Mitteln zum Prozessieren. Besteht hier nicht eher auf Versicherungsseite die Gefahr eines Missbrauchs?
Fuhrer: Es gibt sicher Fälle, in denen Geschädigte unfair behandelt worden sind. Das kann man nicht wegdiskutieren. Ob das systematisch stattfindet, ist eine andere Frage. Die Versicherungen stehen im Wettbewerb. Hat ein Versicherer den Ruf, dass er die Versicherten systematisch um ihre Ansprüche bringt, bekommt er irgendwann ein Problem. Und: Eine Versicherung ist extrem personalintensiv. Die Schweizer Assekuranz beschäftigt rund 50 000 Leute – da hat es nun einmal ein paar unfaire Personen dabei, das ist nicht zu verhindern. Das gilt aber auch für die IV, die Suva oder die Anwälte.
plädoyer: Herr Schmid, müssten nicht eher die Versicherungen observiert werden, um Missbräuche zu verhindern?
Schmid: Ich habe viele krasse Beispiele erlebt, die zeigen, wie Versicherungen die Unkenntnis der Leute ausnützen. Ein Beispiel: Ein Versicherter wurde mit 80000 Franken abgespiesen, nachdem er im Alter von 19 Jahren einen Arm verloren hatte. Die Versicherung nutzte die Gelegenheit aus, dass der Versicherte einen unfähigen Anwalt hatte. Am Schluss musste sie 800000 Franken zahlen.
plädoyer: Sind die Ergebnisse und Erkenntnisse von Observationen überhaupt so aussagekräftig, dass sie den Eingriff ins Privatleben rechtfertigen?
Schmid: Observationen sind teuer. Und wenn die Versicherung schon Geld ausgegeben hat, dann will sie auch etwas davon haben. Ich habe den Eindruck, dass die Observationsberichte geschönt werden, indem man dem Verfasser sagt, welche Angaben er machen soll. Es gibt zum Beispiel keine Observationsberichte, in denen nicht zu lesen ist, dass die Person zügig oder aggressiv Auto fährt. Das ist mir mit der Zeit aufgefallen. Ein anderes Problem: Ich kann nicht nachprüfen, welche Szenen aus dem Aufnahmematerial weggeschnitten wurden. So heisst es häufig in den Berichten, die observierte Person bekunde keinerlei Schmerzen. Ich kann nicht überprüfen, ob sich diese Person mal abstützen musste oder ob ihr Gesicht einmal schmerzverzerrt war.
Fuhrer: Sie sind Geschädigtenvertreter – auf Ihrem Tisch liegen nur die schlimmsten Fälle. Ich habe andere Observationsberichte gelesen. Eine Person, die sich angeblich kaum bewegen kann, fährt in Monza auf der Rennstrecke Auto. Aber zugegeben: Es gibt Fälle, bei denen eine Observation den Anfangsverdacht nicht bestätigt.
Schmid: Teilen die Versicherer das dann den Versicherten auch mit? Das habe ich noch nie erlebt.
Fuhrer: Eigentlich müssten sie das. Aber ich weiss es nicht.
plädoyer: Pro Jahr werden in der Schweiz wohl über 1000 Personen observiert – von Sozial- und Privatversicherungen. 2014 führte allein die IV laut eigenen Angaben 510 Observationen durch. In 22 Prozent der Fälle wurde ein Missbrauch festgestellt. Sprich: 400 Leute wurden zu Unrecht observiert.
Fuhrer: Ob sie zu Unrecht observiert wurden, ist offen. Liegt ein begründeter Anfangsverdacht vor, ist eine Observation grundsätzlich gerechtfertigt.
plädoyer: Bei diesen 22 Prozent oder gut 100 Fällen von angeblichem Versicherungsmissbrauch hat die IV nur in 20 Fällen eine Strafanzeige eingereicht. Ob jemand verurteilt wurde, weiss die IV nicht.
Fuhrer: Ich kenne die Zahlen der IV und Suva nicht. Ich weiss aber, dass bei den privaten Versicherungen eine Observation wirklich nur als letztes Mittel angewendet wird. Ich denke, dass private Versicherer wie Sozialversicherungen nur in den krassen Fällen Strafanzeige einreichen. Auf der anderen Seite kommt es bei den meisten Strafanzeigen auch zu einer Verurteilung.
Stephan Fuhrer, 62, Professor für Privatversicherungsrecht an den Universitäten Freiburg, Basel und Luzern. Rechtskonsulent und Mitglied der Direktion der Basler Versicherung. Redaktionsmitglied der Zeitschrift HAVE.
Markus Schmid, 60, Fachanwalt für Haftpflicht- und Versicherungsrecht
in Basel. Sporadische Lehraufträge im Privatrecht an der Universität Basel. Redaktionsmitglied der Zeitschrift HAVE.
Der Revisionsentwurf von 2008
Im Rahmen der im Jahr 2008 hängigen UVG-Revision hatte der Bundesrat einen neuen Art. 44a für den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) zur Überwachung der Versicherten vorgeschlagen. Die Revision wurde später aber vom Parlament verworfen, deshalb entfiel auch dieser neue Artikel im ATSG. Er lautete:
Art. 44a Überwachung
1 Eine Person, welche Versicherungsleistungen beantragt oder bezieht, kann ohne ihr Wissen überwacht werden, wenn:
a. der Versicherer einen begründeten Verdacht hat, dass diese Person unrechtmässig Leistungen bezieht respektive bezogen hat oder zu erhalten versucht; und wenn
b. die bisherigen Abklärungen zu keinem Ergebnis geführt haben, ohne Aussicht auf Erfolg sind oder sich als ausserordentlich schwierig erweisen.
2 Die Anordnung der Überwachung wird mit Angaben über die den Verdacht begründenden Tatsachen in den Akten eingetragen.
3 Die Überwachung darf nur auf öffentlichem Grund erfolgen. Sie kann die Benutzung von Bildaufzeichnung beinhalten.
4 Die erfassten Daten werden im Dossier abgelegt. Falls sich der Verdacht nicht erhärtet, werden sie nach spätestens 10 Tagen gelöscht.
5 Der Versicherer kann einen Dritten mit der Überwachung beauftragen.
6 Er informiert die betroffene Person nach der Beendigung der Überwachung.
Suva blockt
Die Suva hat beim Bundesamt für Sozialversicherungen einen Vorschlag für einen Gesetzestext zur Regelung der Überwachung von Versicherten eingereicht. Den Inhalt wollte die Suva auf Anfrage von plädoyer nicht bekanntgeben und auch nicht zum Thema Stellung nehmen. Die Suva lehnte eine Teilnahme an diesem plädoyer-Gespräch ab.