Das Prunkstück hängt im Schrank: Eine blaue Richterrobe mit weissem Jabot – eine Art Krawatte – auf der Vorderseite. Auf der Innenseite des Kragens ist der Name des Trägers eingestickt: Andreas Zünd. Der 65-Jährige nahm Ende März im vergangenen Jahr seine Tätigkeit als Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg auf, die er vorausssichtlich bis zu seiner Pensionierung mit 70 Jahren ausüben wird.
Medien bezeichneten Zünd deshalb auch schon als «mächtigsten Richter der Schweiz». Denn die Strassburger Entscheide sind auch für die höchstinstanzlichen einheimischen Gerichte bindend. Zünd relativiert seine Machtposition: «Die Europäische Menschenrechtskonvention umfasst lediglich 14 materiellrechtliche Artikel. Es ist folglich nur ein kleiner Teil der Rechtsordnung, die in meinen Zuständigkeitsbereich fällt.»
Hoch angesehen bei Richterkollegen
In ersten Jahr am EGMR hatte Zünd mit etwa einem halben Dutzend Fällen zu tun, die einen Schweiz-Bezug aufwiesen. Das Gros der Schweizer Fälle – rund 240 – landete bei einem Einzelrichter, der nicht aus dem betroffenen Mitgliedstaat stammen darf. Insgesamt treffen in Strassburg jährlich rund 45 000 Beschwerden ein – die meisten davon werden vom Gericht aus formellen Gründen für unzulässig erklärt.
Andreas Zünd ist nach Antoine Favre in den 1960er-Jahren der zweite ehemalige Bundesrichter, der die Schweiz in Strassburg vertritt – alle anderen waren vorher an einer Universität tätig. Er gehörte am Bundesgericht der Zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung an. Dort wurde ihm von Richterkollegen auch mal «Aktivismus» vorgeworfen. Unter anderem bei einem Entscheid, bei dem das Gericht unter seiner Mitwirkung festhielt, dass die Menschenrechtskonvention im Konfliktfall sowohl Bundesgesetzen als auch der Bundesverfassung vorgeht. Der ehemalige Bundesrichter Martin Schubarth warf Zünd vor, an einem «juristischen Staatsstreich» mitgewirkt zu haben. Markus Felber, langjähriger Bundesgerichtskorrespondent für die NZZ, formuliert es etwas nüchterner: «Andreas Zünd war einer, der die Rechtsprechung auch gerne gestalterisch wahrnahm.» Trotzdem, so Felber weiter, sei Zünd eine der wenigen Richterpersönlichkeiten gewesen, die unter den notorisch missgünstigen Kollegen hoch angesehen gewesen seien.
Zünd bestreitet nicht, dass er seine Rolle auch gestalterisch versteht. Doch er betont, dass für ihn allein die Rechtsstaatlichkeit und die Anwendung des Rechts massgeblich sind. «Wir denken am Europäischen Gerichtshof nicht politisch, sondern juristisch.» Er sagt aber auch: «Man muss die Menschenrechte zeitgemäss auslegen und im gesellschaftlichen Kontext interpretieren.» Als Beispiel nennt er die Körperstrafe: «Es wäre in den 1950er-Jahren wohl niemandem in den Sinn gekommen, dass die Körperstrafe rechtlich unzulässig sein könnte. 1977 hat der Gerichtshof dann aber festgehalten, dass sie eine unmenschliche Behandlung darstellt.»
Die Frage nach der zeitgemässen Auslegung von Grundrechten stelle sich heute auch, wenn es um die Umwelt oder das Klima geht. In Strassburg pendent ist unter anderem der Fall der so genannten «Klima-Seniorinnen». Diese werfen dem Bund vor, im Kampf gegen die Erderwärmung zu wenig zu unternehmen. Vor Bundesgericht sind sie mit ihrer Klage abgeblitzt.
Wenn die Schweiz Partei ist und ein Fall der Grossen Kammer zugewiesen wird, muss Zünd als Schweizer Richter dem Gericht eine sogenannte Notiz über sein Heimatland einreichen. Dabei hat er unter anderem auszuführen, wie ein Fall in der Schweiz politisch wahrgenommen wird und worin die Eigenheiten des Schweizer Rechtssystems liegen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die Richter in der Regel einer Partei angehören. Zünd selbst ist SP-Mitglied. Er trat den Sozialdemokraten in den 1970er-Jahren bei – auch unter dem Eindruck des Militärputsches in Chile.
Im Stahlbad der Lokalpolitik
Mit seiner Parteimitgliedschaft ist er in Strassburg ein Aussenseiter unter den total 47 Richtern. Das war er schon als SP-Mitglied im aargauischen Niederwil, wo er als Sohn eines Lehrers und einer Schneiderin mit seinem Bruder aufwuchs. Das Dasein als Student und Sozialdemokrat in ländlicher Umgebung habe ihn geprägt: «Ich lernte, mich mit Leuten auseinanderzusetzen, die völlig anders denken und im Gegensatz zu mir nie die Uni besuchten.» Mit 28 Jahren wurde Zünd in den Wohler Einwohnerrat, das lokale Parlament, gewählt. An heisse lokalpolitische Diskussionen wie jene über den Gasthof «Sternen» oder um den Dorfkern kann er sich noch heute erinnern. Auf Tuchfühlung mit der juristischen Praxis ging Zünd nach Abschluss seines Studiums ebenfalls in Wohlen – im Anwaltsbüro von Peter Meyer. Für den heute 80-Jährigen war Zünd der beste Praktikant, der je für ihn gearbeitet habe. Einmal habe er ihn allein vor Gericht einen Fall führen lassen. «Dafür wurde ich gerügt, weil das im ersten Praktikumsjahr nicht zulässig gewesen wäre.» Eine paradoxe Situation, so Meyer. Denn Zünd habe den Fall besser gemeistert, als er es selbst gekonnt hätte.
Die Tätigkeit in Wohlen ist für Zünd nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich weit weg. Er wohnt allein in Strassburg, die Schweiz besucht er nur gelegentlich. Sein soziales Umfeld besteht überwiegend aus Mitarbeitern des Gerichts. Mit ihnen trifft er sich gelegentlich zum Essen, wobei ihm auch im für seine deftige Küche bekannten Elsass lediglich nicht-tierische Speisen auf den Teller kommen. Seit vier Jahren ernährt sich Zünd vegan. «Aus Respekt gegenüber der Kreatur», wie er sagt.
Seinen Tag beginnt er dann auch folgerichtig mit einem Smoothie, ehe er für eine Laufrunde im nahegelegenen Parc de l’Orangerie das Joggingoutfit überstreift. Steht später eine Verhandlung an, tauscht er dieses gegen seine Arbeitskluft am EGMR: die Richterrobe mit Jabot.