Der Gang der Klimaseniorinnen nach Strassburg war ein Medienereignis: Journalisten aus zahlreichen Ländern berichteten Ende März über die Reise einer Delegation älterer Frauen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der Prozess erregte selbst in Australien und in den Arabischen Emiraten Aufmerksamkeit.
Zu den Klimaseniorinnen zählen mittlerweile über 2000 Frauen im Pensionsalter. Sie haben sich in einem Verein zusammengeschlossen und wollen die Schweiz auf dem Rechtsweg dazu verpflichten, jene Klimaschutzmassnahmen zu treffen, die für das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels nötig sind. Dieses wurde 2015 an der Klimakonferenz von Paris beschlossen.
Die Frauen hatten vergeblich den inländischen Instanzenzug bemüht. Der Ausgang des Prozesses in Strassburg könnte weitreichende Auswirkungen haben – auf die Klimapolitik der Schweiz und anderer Staaten.
Die zentrale juristische Figur des aufsehenerregenden Verfahrens ist Cordelia Bähr. Die 42-jährige Anwältin ist eine eher zurückhaltende Person. «Ich bin keine, die das Scheinwerferlicht sucht», sagt sie über sich. Doch ihr ist bewusst, welche Dimensionen der Fall inzwischen angenommen hat – und dass der Austausch mit der Öffentlichkeit ein Teil davon ist.
Von einem holländischen Klima-Urteil inspiriert
Bähr arbeitet seit acht Jahren an diesem Fall. Zuerst war sie bei der Zürcher Kanzlei Ettler Suter angestellt, die auf Umweltrecht spezialisiert ist. Eine ihrer Vorgesetzten war die bekannte Umweltanwältin Ursula Brunner.
2015 traf bei ihr eine Anfrage von Greenpeace ein: Die Umweltorganisation wollte wissen, ob und wie man die Schweiz juristisch zu mehr Klimaschutz verpflichten könnte.
Anlass zu dieser Frage gab ein Urteil aus den Niederlanden. Darin hatte das Bezirksgericht Den Haag den Staat gerügt: Er unternehme zu wenig, um seine Bürger vor der gefährlichen Klimaerwärmung zu schützen. Das Urteil wurde später vom obersten holländischen Gericht bestätigt. Nun galt es auszuloten, ob in der Schweiz Ähnliches möglich wäre. Bähr war damals eine
der wenigen Anwältinnen in der Schweiz, die sich mit Klimaschutzfragen auseinandersetzte.
Die gebürtige St. Gallerin absolvierte das Jusstudium in Zürich. In die anwaltliche Praxis stieg sie bei einer Wirtschaftskanzlei ein. Im Laufe der Zeit habe sie gemerkt, dass Grund- und Menschenrechte sie stärker interessieren würden als finanzielle Streitigkeiten, sagt sie. In dieser Zeit begann Bähr auch, sich privat mit dem Thema Klimaerwärmung zu befassen. Sie schaute sich Filme dazu an und las Artikel und Abhandlungen.
Ins Thema vertiefte sie sich im Rahmen eines LL.M. in London mit Schwerpunkt Umwelt- und Menschenrechte. Wieder in der Schweiz, trat sie zuerst eine Stelle bei der Rechtsabteilung des Bundesamts für Umwelt an, wo sie die Klimaabteilung beriet. Später wechselte sie zur Kanzlei Ettler Suter, wo sie die Anfrage von Greenpeace erreichte.
Ältere Menschen besonders vom Klimawandel betroffen
Eine Schweizer Besonderheit war unter anderem, dass die Erfolgsaussichten vor Gericht wesentlich vom Kriterium der aktuellen persönlichen Betroffenheit der Klägerinnen abhängen. Bähr brauchte deshalb Betroffene, die schon heute besonders vom Klimawandel beeinträchtigt sind.
Sie fand sie in älteren Frauen, die gemäss Studien bei Hitzewellen ein deutlich höheres Sterberisiko haben als jüngere Leute. Ihre rechtliche Argumentation: Aufgrund der Untätigkeit der Regierung in Sachen Klimaschutz würden das Recht auf Leben sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Seniorinnen verletzt.
Als “Marionetten” von Greenpeace kritisiert
Vor diesem Hintergrund wurde 2016 der Verein Klimaseniorinnen ins Leben gerufen. Er ist eine eigenständige Organisation, wird aber von Greenpeace finanziell unterstützt. Auch die Öffentlichkeitsarbeit wird von der Umweltorganisation mitgeprägt. Kritiker bezeichneten die Klimaseniorinnen deshalb auch schon als «Marionetten» von Greenpeace.
Cordelia Bähr widerspricht dieser Darstellung: «Bei den Klimaseniorinnen handelt es sich um starke und engagierte Frauen, die zum Teil selbst politische Erfahrung haben.» Sie selbst stelle ihre anwaltlichen Rechnungen dem Verein Klimaseniorinnen und nicht Greenpeace zu.
Seit der Fall an die Grosse Kammer des EGMR überwiesen wurde, arbeiten fünf Anwältinnen und Anwälte am Fall. Von Beginn weg dabei ist Martin Looser, der für Bähr bei Ettler Suter eine Art «Sparring-Partner» war: «Meine Aufgabe ist es, ihr vor allem bei der Prozessführung den Rücken freizuhalten.»
Bähr selbst sei derweil unbestritten die «Hauptfigur im Anwaltsteam», so Looser. Sie sei eine Person, die hartnäckig an einer Sache dranbleibe und sehr hohe Frustrationstoleranz habe. «Das ist in diesem Verfahren auch wichtig. Es verlangt ihr extrem viel ab.»
Nicht zu den Aufgaben Bährs gehörte das Plädieren vor der Grossen Kammer des EGMR. Die Verhandlung fand auf Englisch statt, weshalb Bähr entschied, für das Plädoyer zwei britische Anwälte beizuziehen. «Ein Stück weit stimmte es mich wehmütig, diese Aufgabe abzugeben», sagt Bähr. «Ich habe viel Herzblut in den Fall investiert – einen solchen Gang vor den EGMR gibt es wohl nur einmal im Leben.»
“Unhaltbare Argumentation” des Bundesgerichts
Mittlerweile arbeitet Bähr seit acht Jahren am Fall. Ihre einstige Vorgesetzte Ursula Brunner starb im Sommer 2019. Die Kanzlei Ettler Suter hat Bähr, die mit ihrem Lebenspartner und einem Sohn in Zürich lebt, bereits 2016 verlassen und sich mit ihrer Kanzlei Bähr Ettwein selbständig gemacht.
Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Klimaseniorinnen vor drei Jahren unter anderem mit dem Argument ab, dass diese zum damaligen Zeitpunkt noch nicht genügend in ihren Grundrechten berührt seien. «Mit anderen Worten: Es bleibe noch Zeit», so Bähr. Nicht nur aufgrund dieser ihr zufolge «unhaltbaren» Argumentation beurteilt sie die Erfolgsaussichten in Strassburg als gut. «Die Klimapolitik der Schweiz ist ungenügend», sagt sie, «ihre Bemühungen fallen auch im europäischen Vergleich stark ab.»
Die Kritik, wonach Klimaschutz primär Sache von Politik und Gesellschaft und nicht des EGMR sei, lässt Bähr nicht gelten. «Die Schweiz musste schon mehrfach Gesetze anpassen, weil sie gegen die Eurpopäische Menschenrechtskonvention verstiess», sagt sie. Den Entscheid aus Strassburg erwartet Bähr frühestens Ende 2023.