Unsere Gesellschaft blendet die Tatsache, dass der Suizid in der Todesursachen-Statistik der Schweiz gegenüber jener vieler anderer Länder sehr viel häufiger vorkommt, weitgehend aus. Die öffentliche Debatte hat sich seit etwa 15 Jahren auf das Ablenkungsthema der Fragen im Zusammenhang mit organisierter Suizidhilfe und den «Sterbetourismus» konzentriert und dabei das Wesentliche aus den Augen verloren.
Geht man von der geltenden Grundrechtsordnung aus, darf vermerkt werden, dass sowohl das Bundesgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seit einiger Zeit eine sowohl verfassungsmässig (Artikel 13 BV) als auch menschenrechtlich (Artikel 8 Absatz 1 EMRK) garantierte Freiheit zum Suizid anerkennen.
Programme zur Vermeidung von Suizidversuchen fehlen
Dieser Freiheit steht ein hohes Risiko des Scheiterns gegenüber. Der Bundesrat sprach 2002 von bis zu 67 000 jährlich erfolgenden Suizidversuchen - bei etwa 1350 gelingenden Suiziden. Somit müssen bis zu 65 650 Versuche scheitern (Antwort des Bundesrates vom 9. Januar 2002 auf die Einfache Anfrage von Nationalrat Andreas Gross [SP, ZH] betreffend Suizide und Suizidversuche).
Damit stellt sich einerseits die Frage, ob das hohe Risiko des Scheiterns eines Suizidversuchs Anlass sein müsste, auch ein Grundrecht auf Beihilfe zum Suizid zu bejahen. Denn ein Recht oder eine Freiheit, die durch die EMRK gewährleistet ist, muss nach der Rechtsprechung des EGMR «praktisch und effizient» sein. Anderseits - und vordringlich! - ist zu fragen, weshalb die Politik auf das Faktum überhaupt nicht reagiert, dass sich Jahr für Jahr in unserem Lande eine so grosse Anzahl von Menschen das Leben zu nehmen versucht. Das entsprechende Postulat Hans Widmer (SP, LU) aus dem Juni 2002 ist bisher völlig wirkungslos geblieben. Solche Passivität passt nicht zur Behauptung, eine der wichtigsten Aufgaben des Staates sei es, Leben zu schützen.
Zur Vermeidung oder Reduktion dieser vielen Suizidversuche fehlen sowohl beim Bund als auch bei den Kantonen wirksame Programme. Sie, wie auch viele Organisationen, die sich dem Kampf gegen den Suizid widmen, blenden diesen Aspekt weitgehend aus. Es gibt zwar eine Suizid-Prophylaxe. Doch eine wirksame Suizidversuchs-Prophylaxe fehlt völlig.
Suizid-Tabu verhindert vernunftgemässes Verhalten
Wenn nun der Bundesrat in seinem neuesten Bericht zum Thema davon schreibt, man müsse danach trachten, die Zahl der begleiteten Suizide zu verringern, übersieht er - wie bisher stets und noch immer - das ungleich viel grössere Problem: Angesichts einer Dunkelziffer von 15 000 bis 20 000, ja vielleicht sogar bis zu 67 000 Suizidversuchen jährlich zu schweigen, erscheint nicht nur unlogisch, sondern geradezu unverständlich, ja unmenschlich.
Weshalb unterbleiben solche Anstrengungen? Wohl weil zufolge des Einflusses konservativer und religiöser Kreise in der Politik noch immer davon ausgegangen wird, Suizid dürfe überhaupt nicht sein. Da liegt der Ursprung des Suizid-Tabus. Es verhindert vernunftgemässes Verhalten.
Solange dieses Tabu nicht überwunden wird und solange Menschen, die - aus welchem Grunde auch immer - suizidal geworden sind, dies so wahrnehmen, werden sie kaum mit Dritten über ihre Probleme und ihre Absicht sprechen können. Zu oft auch müssen Menschen, welche dies versuchen, erleben, deshalb über einen «Fürsorgerischen Freiheitsentzug» die Freiheit zu verlieren und für kürzere oder längere Zeit in die Psychiatrie eingewiesen zu werden.
Wer das Recht auf Leben als Ganzes und mit Erfolg verteidigen will, muss deshalb - so paradox dies klingen mag -, zuerst das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und die adäquate Hilfe dazu akzeptieren.
So liegt denn der Schlüssel zur Prävention des Suizidversuchs und damit zur nachhaltigen Reduktion der Zahl sowohl der Suizidversuche als auch der Suizide in einigen wenigen Sätzen:
1. Suizid an sich ist nichts Verwerfliches, denn er gehört zu den menschlichen Verhaltensweisen aufgrund der Tatsache, dass Menschen über Bewusstsein verfügen, und er kann durchaus vernünftig sein.
2. Jeder Suizid sollte wenn immer möglich gerechtfertigt sein; deshalb sollte er nicht ohne Beratung mit anderen vorgenommen werden. Die Beratung soll helfen, zu klären, ob es Lösungen des Problems in Richtung Leben gibt, und die Gesellschaft hat dazu beizutragen, dass solche Lösungen möglich werden.
3. Eine solche Beratung muss offen erfolgen, den Suizidwunsch im Grundsatz akzeptieren und den Suizid zulassen, wenn sich zeigt, dass das den Sterbewunsch auslösende Problem nicht gelöst werden kann oder wenn vorgeschlagene und mögliche Lösungen vom urteilsfähigen Betroffenen nicht angenommen werden.
4. Wenn es zum Suizid kommt, sollte dieser nicht unangekündigt, sondern nach Rücksprache mit Angehörigen und Freunden erfolgen. Ihnen sollte Gelegenheit geboten werden, bei einer Suizidbegleitung anwesend zu sein. Damit kann eine Traumatisierung vermieden oder wesentlich verringert werden.
Notwendig zur Verwirklichung des Lebensschutzes ist somit ein grundlegender Wechsel in der Philosophie der Suizid-Prophylaxe: Nicht der Suizid als solcher ist zu vermeiden, sondern der unbedachte, klandestine Suizid.
Suizid-Prophylaxe nicht nur Psychiatern überlassen
Damit reduziert sich die Suiziddebatte auf ihren vernünftigen Teil. Unvernünftig ist sie, wo sie weltanschaulich und paternalistisch besetzt ist, weil sie - wie die gegenwärtige Lage zeigt - mehr Unheil anrichtet als vermeidet.
Unvernünftige Argumente sind leicht zu erkennen und zumeist längst empirisch widerlegt: Es sind die Argumente des befürchteten «Dammbruchs», des «gesellschaftlichen Drucks auf Alte und Kranke» und der Versuch, Negatives wie Leiden, Krankheit, Invalidität mit religiöser oder weltanschaulicher Verklärung positiv besetzen und eine solche persönliche Auffassung anderen aufoktroyieren zu wollen (so etwa im Aufsatz von Regina Kiener in plädoyer 3/11).
Zusätzlich wird erforderlich sein, die Suizidversuchs-Prophylaxe nicht mehr der Berufsgruppe der Psychiater praktisch allein zu überlassen, wie dies bei der Suizid-Prophylaxe bisher meist der Fall war: Dieser Berufsstand weist unter den Ärzten die höchste Suizidrate auf. Es gibt daher viele Momente, die gerade bei dieser Berufsgruppe und dieser Thematik den nüchternen Sachverstand ausschalten können: Angstabwehr, Projektion und Gegenübertragung sind nur einige davon.
Der Autor ist konfessionslos und überzeugter Atheist. Er ist der Auffassung, bei öffentlichen
Äusserungen zu diesem Thema sei eine solche Angabe des eigenen weltanschaulichen Standpunktes unerlässlich.