Werden wir uns je wieder für eine Versorgung entschuldigen müssen?
Inhalt
Plädoyer 2/11
04.04.2011
Letzte Aktualisierung:
04.10.2013
Peter Breitschmid, Professor, Zürich
Ja. Die Hoffnung, neues Recht verhindere problematische Situationen (und Entschuldigungen), ist unrealistisch. Denn «umfassende Verbeiständung» (Artikel 398 nZGB) statt «Bevormundung», «fürsorgerische Unterbringung» (Artikel 426 nZGB) statt «fürsorgerische Freiheitsentziehung», das Leben in einer «Einrichtung» (Artikel 382 nZGB) statt in einem «Heim» - das macht es nicht besser.
Sprachkosmetik befrei...
Ja. Die Hoffnung, neues Recht verhindere problematische Situationen (und Entschuldigungen), ist unrealistisch. Denn «umfassende Verbeiständung» (Artikel 398 nZGB) statt «Bevormundung», «fürsorgerische Unterbringung» (Artikel 426 nZGB) statt «fürsorgerische Freiheitsentziehung», das Leben in einer «Einrichtung» (Artikel 382 nZGB) statt in einem «Heim» - das macht es nicht besser.
Sprachkosmetik befreit nicht von Stigma und Unlust. Längst schon gibt es nur noch in Seitentälern Heime, sonst nur noch Residenzen. Ausser der Türbeschriftung hat sich allerdings wenig geändert. Oder vielleicht doch? Der Sprachgebrauch - gesetzgeberisch verordnet und nicht durchweg alltagstauglich - signalisiert etwas Bewegung. Er signalisiert aber auch Beschränkung von Bewegungsspielraum. Dies nicht nur der fürsorgerisch Untergebrachten, sondern des Gesetzgebers und auch jener, die ein sogenannt normales Leben in den engen Strukturen von Beziehungen, Wohnraum und Arbeitsplatz führen und um ihre «Versorgung» (sprich: Existenzminimum) kämpfen müssen. Freiheitsbeschränkungen sind eher die Regel als die Ausnahme.
Alltagsrealität ist, dass erst ein suboptimaler Zustand rechtliche Intervention auslöst. Das ist bei zunehmender Dichte gesetzlicher und gesellschaftlicher Normen, von Menschen und Ansprüchen auf gleichbleibendem Raum häufiger der Fall. Verdichtetes Leben erhöht Reibungsflächen, Reibung erzeugt Wärme und allzu viel Wärme Brände. Die Feuerwehr bekämpft den Brand ... und erzeugt dabei unter Umständen einen Wasserschaden, wofür sie sich ent-
schuldigen wird, der aber (nach Stand und Möglichkeiten der Löschtechnik) unvermeidlich war.
Weder Recht noch Medizin wollen «Opfer» einer «Freiheit» berauben; ob edle Klinik oder unansehnliches «menu puré»: Beides ist Teil eines Behandlungsplans (Artikel 377, 433 nZGB) und (relative) Lebensqualität. Ein Schutzausweis gegen psychiatrische Willkür schützt nicht, sondern quält, weil er suggeriert, man könne eine «Freiheit» leben, die auszuleben medizinisch Zwang und für Dritte Qual ist.
Scheinbar mächtige «Einrichtungen» (Gerichte oder Heime) erfüllen Anliegen von Gesellschaft und Umfeld, die Schutz einfordern. Die Vorstellung, es sei menschlicher, Freiheit mit dem Risiko einer Selbstgefährdung zu gewähren, als Freiheit zu begrenzen, um das Risiko der Selbstgefährdung zu reduzieren, kann ins Unmenschliche kippen und die realistisch mögliche Freiheit verunmöglichen. Dass dieser Satz kompliziert tönt, signalisiert, dass das im Einzelfall richtige Mass allfälliger Freiheitsbeschränkung schwierig zu bestimmen ist - Wechselsignale ermöglichen zwar, die zulässige Höchstgeschwindigkeit abhängig vom Verkehrsaufkommen zu bestimmen, basieren aber auf rein quantitativer Analyse ohne fürsorgerische, emotional-menschliche Komponente.
Der Alltag wird den Geist von Freiheit und Selbstbestimmung umzusetzen versuchen, den Gesellschaft und neues Erwachsenenschutzrecht fordern - eine «vision zero» bleibt aber Vision, und es droht allemal, dass man sich auch für Entscheide, die Freiheit gewährt hatten, zu entschuldigen haben könnte.