Staats-/Verwaltungsrecht
Zusammenfassendes Urteil zur Frage der Ausstandspflicht von Richtern gemäss Art. 30 Abs. 1 BV. Fall eines Gemeinderates der Gemeinde Bottmingen BL, der an einem Urteil des Kantonsgerichts als Kantonsrichter mitwirkte, bei dem es um einen Streit über eine Angelegenheit des interkommunalen Finanzausgleichs der Gemeinde Liestal ging. Für das Bundesgericht ist eine solche Doppelfunktion bedenklich: «Er ist als Kantonsrichter zufolge seines Doppelmandats bei objektiver Betrachtung befangen, da der Anschein besteht, dass er bei den Anwendungen der kantonalen Bestimmungen zum interkommunalen Finanzausgleich Interessen aus seiner Tätigkeit als Mitglied der Exekutive einer anderen Gemeinde wahrnehmen könnte.» Dass seine Gemeinde Bottmingen nur marginal betroffen ist, ändere daran nichts.
2C_455/2020 vom 2.12.2020
Die Gemeinde Auenstein AG nahm eine Umrüstung von herkömmlichen Wasserzählern auf Funkwasserzähler vor. Letztere messen die konsumierte Wassermenge und speichern die Stundenwerte während 252 Tagen. Ein Anwohner sah darin eine Verletzung des Datenschutzes. Das Bundesgericht qualifiziert diese Daten als Personendaten und als Eingriff in das durch Art. 13 Abs. 2 BV geschützte Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine Einschränkung bedürfe einer gesetzlichen Grundlage, müsse durch ein öffentliches Interesse gedeckt und verhältnismässig sein. Für die Erhebung des Wasserverbrauchs im Hinblick auf die Rechnungsstellung seien die Voraussetzungen erfüllt. Hinsichtlich der Speicherung der Stundenwerte betreffend Wasserverbrauch während 252 Tagen auf dem Wasserzähler liege demgegenüber eine unzulässige Datenbearbeitung vor: Sie erweise sich nicht als erforderlich und ist somit unverhältnismässig.
1C_273/2020 vom 5.1.2021
Nach zwei erfolglosen Hüftoperationen entschied eine Aargauer Patientin, sich in einer Privatklinik in Zürich einer weiteren Operation zu unterziehen. Da die Frau keine Zusatzversicherung hatte und die Privatklinik nicht auf der Aargauer Spitalliste aufgeführt war, blieben 25 000 Franken Kosten an ihr hängen. Der Kanton Aargau weigerte sich, den Betrag steuerrechtlich als Krankheitskosten zu berücksichtigen. Das Bundesgericht entschied, dass die Kosten der Behandlung abzugsfähig sind, unabhängig davon, ob sie sich durch die Wahl eines andern Spitals oder den Abschluss einer Zusatzversicherung hätten vermeiden lassen. Voraussetzung sei, dass die Behandlung medizinisch indiziert war. Anders verhalte es sich, was die zusätzlichen Kosten auf der (halb-)privaten Abteilung betrifft. Der zusätzliche Komfort sei nicht medizinisch indiziert, weshalb kein Abzug für diese Kosten zulässig ist.
2C_404/2020 vom 16.12.2020
Zivilrecht
Grundsatzentscheid zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts: Das Gesetz schreibt diesbezüglich keine Berechnungsmethode vor. In der Praxis wird bisher für den nachehelichen Unterhalt entweder die einstufig-konkrete Methode oder die zweistufig-konkrete Methode (auch zweistufige Methode mit Überschussverteilung genannt) verwendet. Die Quotenmethode ist nicht mehr gebräuchlich. Neu verlangt das Bundesgericht, dass «schweizweit verbindlich» nach der zweistufig-konkreten Methode vorzugehen ist, soweit nicht ausnahmsweise eine Situation vorliegt, bei der die Methodeschlicht nicht sinnvoll sei, etwa zuweilen bei aussergewöhnlich guten Verhältnissen. Dabei ist im Unterhaltsentscheid stets zu begründen, weshalb ausnahmsweise von der Regelmethode abgewichen wird.
5A_891/2018 vom 2.2.2021
Bislang hatte das Bundesgericht nicht zu entscheiden, welcher Verjährungsfrist die Klage auf Erhalt oder Rektifikation eines Arbeitszeugnisses unterliegt. Gemäss Art. 330a OR kann ein Arbeitnehmer jederzeit ein Arbeitszeugnis verlangen. Gemäss Art. 341 Abs. 2 OR sind die allgemeinen Verjährungsfristen auf Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis anwendbar. Mit Ablauf von zehn Jahren verjähren alle Forderungen, für die das Bundeszivilrecht nicht etwas anderes bestimmt. Mit Ablauf von fünf Jahren verjähren Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis von Arbeitnehmern (Art. 127 und 128 OR). Die Richter in Lausanne kamen zum Schluss, dass die Klage auf Erhalt eines Arbeitszeugnisses oder auf eine Rektifikation der zehnjährigen Verjährungsfrist nach Art. 127 OR unterliegt.
4A_295/2020 vom 28.12.2020
Ein Unternehmen hatte einem Arbeitnehmer gekündigt und ihn vorzeitig freigestellt. Kurz vor Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist wurde er wegen somatischer und psychischer Beschwerden vollständig arbeitsunfähig. Nach Ablauf der vertraglich vereinbarten Wartefrist von 90 Tagen richtete die Versicherung Taggelder aus. Sie ging davon aus, dass der Versicherte auch ohne Erkrankung arbeitslos geworden wäre und ihm deshalb ein Schaden in der Höhe der Taggelder der Arbeitslosenversicherung entstanden ist – 70 Prozent des maximal arbeitsrechtlich versicherten Jahreslohns von 148 200 Franken. Das Bundesgericht schützte dieses Vorgehen. Entgegen der Auffassung des Versicherten bestehe keine tatsächliche Vermutung, wonach dieser bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nach erfolgter Kündigung das bisherige Einkommen künftig weiterhin erzielt hätte. Anders wäre zu entscheiden, wenn jemand immer arbeitstätig war und dann erkranke, worauf ihm nach Ablauf des Kündigungsschutzes gekündigt wird.
4A_424/2020 vom 19.1.2021
Für den nachehelichen Unterhalt gilt aufgrund des klaren Wortlauts von Art. 125 Abs. 1 ZGB das Primat der Eigenversorgung und damit eine Obliegenheit zur Wiedereingliederung in den Erwerbsprozess oder zur Ausdehnung der bestehenden Tätigkeit. Vor Jahren hat die Rechtsprechung die sogenannte «45-Regel» geschaffen: Bei lebensprägender Ehe war einem vollständig ausserhalb des Erwerbslebens stehenden Ehegatten nach Erreichen des 45. Altersjahres eine Eingliederung ins Berufsleben nicht mehr zumutbar; für den gebührenden Unterhalt hatte der andere Ehegatte aufzukommen. Das Bundesgericht hat diese «45-Regel» jetzt formell aufgegeben. Künftig massgeblich ist eine konkrete Prüfung der Zumutbarkeit anhand der Kriterien wie Alter, Gesundheit, sprachliche Kenntnisse, Aus- und Weiterbildung, bisherige Tätigkeiten, Flexibilität und Lage auf dem Arbeitsmarkt.
5A_104/2018 vom 2.2.2021
Das Bundesgericht schafft Klarheit zum Begriff der Obhut. Seit Mitte 2014 ist das Recht, den Aufenthaltsort zu bestimmen, mit der elterlichen Sorge verbunden. Der Begriff der Obhut hat damit einen inhaltlichen Wandel erfahren und beschränkt sich auf die faktische Obhut, also auf die Befugnis zur täglichen Betreuung des Kindes und auf die Ausübung der Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit dessen Pflege und laufenden Erziehung. Fall eines Vaters, der sich darum bemühte, dass im Scheidungsurteil von alternierender Obhut gesprochen wird, damit die Beziehung beider Eltern zu den Kindern auf eine dauerhafte und gleichberechtigte Grundlage gestellt wird.
5A_139/2020 vom 26.11.2020
Strafrecht
Das Erwerbseinkommen von Prostituierten ist als rechtmässig anerkannt und in verschiedener Hinsicht – Einkommens- und Vermögenssteuer, AHV-Beiträge – rechtlich erfasst. Die Prostitution ist eine sozial übliche und zulässige Tätigkeit, deren Ausübung der Wirtschaftsfreiheit untersteht. Die bisherige Rechtsprechung, wonach ein Vertrag zwischen Prostituierten und Freiern sittenwidrig ist, lässt sich laut Bundesgericht nicht mehr aufrechterhalten. Ein Freier, der eine Frau um das vereinbarte Entgelt für die erbrachte sexuelle Dienstleistung prellt, kann deshalb wegen Betrugs verurteilt werden.
6B_572/2020 vom 8.1.2021
Das Bundesgericht klärt Fragen bei der Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme und der Berechnung der Frist. Wird nach einer rechtskräftigen Massnahmeaufhebung eine stationäre therapeutische Behandlung psychischer Störungen angeordnet (Art. 59 StGB) und wird die Massnahme nicht aus der Freiheit heraus angetreten, ist für den Fristenlauf – wie bei der erstmaligen Massnahmeanordnung – auf das Datum des in Rechtskraft erwachsenen Anordnungsentscheids abzustellen. Im konkreten Fall war es zulässig, dass das Kantonsgericht für einen Täter eine stationäre therapeutische Behandlung für drei Jahre anordnete und dabei eine erstandene Sicherheitshaft von 490 Tagen anrechnete. Das Gericht wollte die Massnahme zunächst auf eine kurze Dauer beschränken, um zu prüfen, ob beim Täter eine überdauernde Therapiewilligkeit besteht.
6B_1375/2020 vom 22.2.2021
Die 2011 in Kraft getretene eidgenössische StPO baute die Verfahrensrechte der Privatklägerschaft aus. Im Gegenzug sollte diese vermehrt für die Kosten in die Pflicht genommen werden können. In seinem neuesten Urteil stellt das Bundesgericht klar, dass die Entschädigung der beschuldigten Person für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte bei einer Einstellung des Verfahrens oder bei einem Freispruch zulasten des Staats geht, wenn es sich um ein Offizialdelikt handelt (Art. 429 Abs. 1 StPO), und zulasten der Privatklägerschaft, wenn es um ein Antragsdelikt geht (Art. 432 Abs. 2 StPO). Im Berufungsverfahren betreffend Offizialdelikte wird die unterliegende Privatklägerschaft entschädigungspflichtig, im Beschwerdeverfahren hingegen der Staat. Geht es um ein Antragsdelikt, wird im Berufungs- wie im Beschwerdeverfahren die Privatklägerschaft entschädigungspflichtig (Art. 436 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 432 Abs. 2 StPO).
6B_582/2020 vom 17.12.2020
Sozialversicherungsrecht
Der Anspruch auf die Altersrente der AHV entsteht am ersten Tag des Monats, welcher bei Männern der Vollendung des 65. Altersjahres folgt. Wer Anspruch auf eine Rente hat, kann den Beginn des Rentenbezuges mindestens ein Jahr und höchstens fünf Jahre aufschieben. Der Aufschub ist innerhalb eines Jahres vom Beginn der Aufschubsdauer an schriftlich zu erklären. Diese vom Bundesrat in einer Verordnung festgelegte Frist ist zwingend zu beachten. Sie ist sachlich begründet und nicht bloss «toter Formalismus», wie ein Rentner vor Bundesgericht geltend gemacht hat, der die Frist verpasst und erst im Alter von 69 Jahren einen Aufschub verlangt hatte. Der Umstand, dass eine Person nach Erreichen des AHV-Alters weiterhin AHV-Beiträge bezahlt und keine Rente verlangt, ist keine verbindliche Erklärung für einen Rentenaufschub.
9C_531/2020 vom 17.12.2020