Staats-/Verwaltungsrecht
Die Anordnung von ausländerrechtlicher Dublin-Haft gegen Eltern mit gleichzeitiger Fremdplatzierung ihrer Kleinkinder ist angesichts des Kindeswohls nur als ultima ratio zulässig. Eine Familie aus Afghanistan, die aus Norwegen kam und sich weigerte, dorthin zurückzukehren, hätte nicht auseinandergerissen werden dürfen. Die Inhaftierung des Vaters in der Zuger Strafanstalt und der Mutter mit ihrem vier Monate alten Baby im Flughafengefängnis sowie die damit verbundene Trennung von den drei andern in einem Heim untergebrachten Kindern verstösst gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Die Bundesrichter werfen den Zuger Behörden vor, sie hätten weniger einschneidende Massnahmen treffen müssen, etwa die Unterbringung der ganzen Familie in einer kantonseigenen Liegenschaft oder in einem Durchgangsheim.
2C_1052/2016 und 2C_1053/2016 vom 26.4.2017
Die neue Bestattungsverordnung des Kantons Zürich, welche eine Monopolisierung des Bestattungswesens vorsieht und verbietet, das Bestattungswesen ausserhalb von öffentlichen Friedhöfen nach Art eines Gewerbes und damit als eine eigentliche privatwirtschaftliche Tätigkeit zu betreiben, verstösst nicht gegen die Wirtschaftsfreiheit. Aus Gründen der Menschenwürde wurde das Begräbniswesen schon vor langer Zeit zur Aufgabe des Gemeinwesens: jeder Verstorbene soll schicklich begraben werden. Seit Inkrafttreten raumplanungs- und gewässerschutzrechtlicher Vorschriften rechtfertigt sich eine Monopolisierung des Bestattungswesens auch aus polizeilichen Gründen, wird auf diesem Weg doch zuverlässig verhindert, dass öffentliche Gewässer als Entsorgungsstätten für Urnen mit Totenasche zweckentfremdet werden.
2C_234/2016 vom 24.5.2017
Die Finma muss eine Fiche über einen Ex-UBS-Manager aus der Datensammlung «Gewähr für einwandfreie Geschäftstätigkeit und Berufsausübung» löschen. Diese «Watchlist» ist weder im Gesetz über die Finma selbst noch in der bundesrätlichen Botschaft unmittelbar genannt. Die Ereignisse auf den Finanzmärkten haben in den letzten Jahren aber gezeigt, dass eine strikte Kontrolle des Geschäftsgebarens im Finanzmarkt notwendig ist. Die Watchlist ist damit in ausreichendem Mass in Art. 23. Abs. 1 Finmag angelegt und lässt sich auf ein formelles Bundesgesetz zurückführen. Die Daten müssen gelöscht werden, weil sie weder aus einem rechtlichen Verfahren stammen, in dem der UBS-Manager Parteistellung innehatte, noch auf zuverlässigen Quellen beruhen.
1C_214/2016 vom 22.3.2017
Den Kantonen und Gemeinden, die das Entsorgungsmonopol beim Kehricht beanspruchen, steht bei der Ausgestaltung der Entsorgung ein erheblicher Spielraum zu. Sie sind aber verpflichtet, zweckmässige, den Bedürfnissen der Abfalllieferanten entsprechende Entsorgungslösungen anzubieten. Sie müssen den Anwohnern somit Sammelstellen in genügender Anzahl, Dichte und Frequenz anbieten, die sich in zumutbarer Entfernung befinden. Dagegen können die Abfallinhaber nicht verlangen, dass ihnen die bequemste Lösung angeboten wird. Der Fall betrifft eine Bündner Gemeinde, die eine Sammelstelle aufheben und den Anwohnern zumuten will, ihren Abfall zu einer 1,6 km entfernt liegenden Sammelstelle zu bringen.
1C_517/2016 vom 12.4.2017
Zivilrecht
Bei der Bemessung der Unterhaltsbeiträge ist vom tatsächlich erzielten Einkommen des Unterhaltspflichtigen auszugehen. Reicht dieses Einkommen nicht aus, um den ausgewiesenen Bedarf zu decken, kann ein hypothetisches Einkommen angerechnet werden, sofern dieses zu erreichen zumutbar und möglich ist. Vermindert ein Unterhaltsschuldner sein Einkommen böswillig, indem er eigenmächtig seine Arbeitsstelle aufgibt, ist eine Reduktion der Unterhaltsbeiträge – nach einer jetzt vorgenommenen Praxisänderung – an den (früheren) Ehegatten selbst dann möglich, wenn der Verdienstausfall nicht rückgängig gemacht werden kann.
5A_297/2016 vom 2.5.2017
Die Regelung der unentgeltlichen Rechtspflege ist auf natürliche Personen zugeschnitten. Juristische Personen können grundsätzlich weder die unentgeltliche Prozessführung noch eine Verbeiständung beanspruchen. Sie sind nicht arm oder bedürftig, sondern bloss zahlungsunfähig oder überschuldet, mit den entsprechenden gesellschafts- und konkursrechtlichen Konsequenzen. Ein Anspruch einer juristischen Person kann dann bestehen, wenn ihr einziges Aktivum im Streit liegt und neben ihr auch die wirtschaftlich Beteiligten mittellos sind. Die unentgeltliche Rechtspflege ist juristischen Personen aber zu verweigern, wenn das Verfahren, für das sie beansprucht wird, deren Weiterexistenz nicht sichert.
4A_75/2017 vom 22.5.2017
Wird eine Person zur Behandlung ihrer psychischen Probleme in eine Klinik verbracht und ohne ihre Zustimmung für eine unbestimmte Zeit eine Behandlung mit Medikamenten (Art. 434 ZGB) angeordnet, dann weist dieser Zwangsmassnahme-Entscheid sämtliche Merkmale einer Verfügung auf. Ein Entscheid der Zürcher Justiz, auf das Begehren um Aufhebung der Behandlung ohne Zustimmung nicht einzutreten, erweist sich deshalb als bundesrechtswidrig.
5A_255/2017 vom 18.5.2017
Strafrecht
Ein Vertrauensarzt ist zu Recht wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 160 Franken verurteilt worden, weil er dem Arbeitgeber eines untersuchten Mitarbeiters zu viele Informationen erteilt hatte. Ohne Entbindung vom Berufsgeheimnis durch den Arbeitnehmer darf sich der Vertrauensarzt gegenüber dem Arbeitgeber nur zum Bestehen, zur Dauer und zum Grad einer Arbeitsunfähigkeit äussern und darüber Auskunft geben, ob es sich um einen Unfall oder eine Krankheit handelt. Seine Diagnose und weitere Angaben zum betroffenen Arbeitnehmer darf er nicht mitteilen.
6B_1199/2016 vom 4.5.2017
Sozialversicherungsrecht
Kinder mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die im Ausland invalid geboren sind und deren Mutter sich dort unmittelbar vor der Geburt höchstens zwei Monate aufgehalten hat, haben Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung. Fall einer Libanesin, die seit 2013 in der Schweiz wohnhaft ist, aber am 5. März 2015 die Schweiz verliess, am 6. März in Libanon gelandet ist und dort ihr Kind am 7. Mai 2015 geboren hat. Das Kind, das später mit der Mutter in die Schweiz zurückgekehrt ist, erhält keine Leistungen der Invalidenversicherung. Die Frau hatte sich einen Tag zu lang im Ausland aufgehalten. Entscheidend für die Bemessung der Frist ist der effektive Geburtstermin.
9C_56/2017 vom 23.5.2017