Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Kantonale Effizienzvorschriften für Fahrzeuge zum gewerbsmässigen Personentransport sind zulässig. Das neue Genfer Gesetz über Taxis und Transportfahrzeuge mit Chauffeur verletzt kein Bundesrecht, indem es ab Juli 2027 nur noch Fahrzeuge mit einer Energieetikette A und ab 2030 nur noch Fahrzeuge ohne CO2-Ausstoss zulässt. Zwar haben die Kantone keine eigenen Kompetenzen bei der generellen Strassenverkehrszulassung. Sie dürfen aber regeln, welche Art von Fahrzeugen für die bewilligungspflichtige Tätigkeit als Taxifahrer oder Chauffeur zulässig sind. Die Genfer Effizienzvorschriften liegen im öffentlichen Interesse einer Reduktion des CO2-Ausstosses und sind verhältnismässig.
2C_79/2023 vom 23.2.2024
Eine generelle Klausel in der Anwaltsvollmacht zur Entbindung vom Anwaltsgeheimnis im Hinblick auf spätere Honorarstreitigkeiten ist ungültig. Für eine wirksame Entbindung müssen dem Mandanten die Auswirkungen auf seine eigene Rechtssphäre klar sein, doch «für den Klienten ist im Zeitpunkt der Unterzeichnung einer Voraus-Entbindungsklausel nie klar voraussehbar, welche ihn betreffenden Informationen der Anwalt in einem allfälligen Honorarstreit verwenden würde».
2C_257/2023 vom 5.4.2024
Eine im Schulrecht ausgefällte Ordnungsbusse von 250 Franken hat laut Bundesgericht keinen strafrechtlichen Charakter. Es ist auch keine Strafbestimmung des Epidemiengesetzes betroffen, obwohl die Busse während der Coronapandemie gegen eine Mutter verhängt wurde, die ihre Tochter ohne Maske die Primarschule in Basel hatte besuchen lassen. Vielmehr ist die Busse eine auf dem Schulgesetz basierende Disziplinarmassnahme. Die Mutter hatte geltend gemacht, die Busse sei aufzuheben, weil die Verfahrensgarantien bei strafrechtlichen Anklagen gemäss Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht eingehalten worden seien.
2C_33/2023 vom 28.2.2024
Zivilrecht
Vor 1978 geborene aussereheliche Nachkommen haben nach dem Tod ihres Vaters nur dann einen Erbanspruch, wenn dieser die Vaterschaft ausdrücklich anerkannte. Denn bei blossen «Zahlvätern» mit Unterhaltsvertrag erfolgte mit der Revision des Familienrechts von 1978 keine automatische Überleitung in neurechtliche Vaterschaften mit Standesfolge. Immerhin wurde zwischen 1968 und 1977 geborenen Kindern eine Klage auf Feststellung des Kindesverhältnisses ermöglicht. Zudem liess die jüngere Rechtsprechung aus wichtigen Gründen auch Vaterschaftsklagen zu, die gemäss Artikel 13a Absatz 1 der Schlusstitel zum Zivilgesetzbuch verspätet erfolgten (Beispiel: 5A_518/2011 vom 22. November 2012).
Im vorliegenden Fall erhob der 65-jährige aussereheliche Sohn eine Herabsetzungsklage nach dem Tod des Vaters mit 87 Jahren und verlangte ein Abstammungsgutachten. Weil er zuvor keine Vaterschaftsklage erhoben hatte, schützte das Bundesgericht die Ablehnung der Pflichtteilsklage durch die Aargauer Justiz.
5A_238/2023 vom 18.3.2024
Bislang war umstritten, ob ein am Verfahren unbeteiligter Drittgläubiger die nach Artikel 191 des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes (SchKG) beantragte Eröffnung eines Privatkonkurses durch Erklärung der Zahlungsunfähigkeit anfechten kann. Eine solche Möglichkeit sieht die sogenannte «Waadtländer Praxis» vor (BGE 149 III 186, Erwägung 3.3.2). Das Bundesgericht bejaht nun diese Frage mit Hinweis auf den Zusammenhang mit der einvernehmlichen privaten Schuldenbereinigung gemäss Artikel 333 SchKG.
Mit dem neuen Sanierungsrecht könne seit 2014 jeder Gläubiger eine Stundungsentscheidung bei einer solchen Schuldenbereinigung anfechten. Damit gehe es nicht mehr an, Drittgläubigern weiterhin aufgrund eines vermuteten qualifizierten Schweigens des Gesetzgebers das Recht zu verweigern, Beschwerde gegen eine Konkursverfügung gemäss Artikel 191 einzulegen.
5A_122/2024 vom 2.4.2024
Verschickt ein Betreibungsamt Pfändungsankündigungen nicht nur per Einschreibebrief, sondern zugleich auch per A-Post, kann es dafür nicht zusätzliche Gebühren von Fr. 9.30 verlangen. Auch für eine Gebühr von 8 Franken für die Einladung zur Abholung eines Zahlungsbefehls besteht keine genügende Grundlage.
5A_502/2023 vom 20.4.2024
Strafrecht
Ein Genfer Arzt hat nicht gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen, als er 2017 einer sterbewilligen, aber gesunden 86-jährigen Frau Natriumpentobarbital verschrieb. Die urteilsfähige Frau nahm das Mittel ein und schied zusammen mit ihrem Mann aus dem Leben, der an einer tödlichen Krankheit litt. Das Betäubungsmittelgesetz enthält keine Grundlage zur Bestrafung des Arztes, weshalb das Bundesgericht eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch des Arztes durch das Genfer Kantonsgericht abgewiesen hat. Mit Urteil 6B_646/2020 vom 9. Dezember 2021 war zuvor schon eine Verurteilung des Arztes wegen Verstosses gegen das Heilmittelgesetz aufgehoben worden.
6B_393/2023 vom 13.3.2024
Gemeinden haben nicht die Kompetenz, in einem Polizeireglement übermässigen Lärm durch Motorfahrzeuge zu sanktionieren. Denn bereits das Strassenverkehrsgesetz des Bundes hält unter Strafandrohung in Artikel 42 Absatz 1 fest, dass Fahrzeugführer «jede vermeidbare Belästigung von Strassenbenützern und Anwohnern, namentlich durch Lärm, Staub, Rauch und Geruch, zu unterlassen und das Erschrecken von Tieren möglichst zu vermeiden» haben. Deshalb ist die Busse eines Töfffahrers aus dem Kanton Waadt in teilweiser Gutheissung seiner Beschwerde von 400 auf 300 Franken zu reduzieren.
6B_1143/2023 vom 21.3.2024
Anders als bei Kleinkrediten fällt bei falschen Angaben auf einem Antragsformular für einen Covid-Kredit eine Bestrafung wegen Betrugs nicht zum Vornherein ausser Betracht. Arglist kann gemäss BGE 143 IV 302 auch gegeben sein, wenn im betreffenden Geschäftsbereich eine nähere Überprüfung typischerweise nicht üblich ist. Das traf aufgrund der Dringlichkeit in der Pandemie auf Covid-Kredite zu. Zudem bestätigten die Antragsteller mit ihrer Unterschrift, zur Kenntnis zu nehmen, dass sie sich mit falschen oder unvollständigen Angaben strafbar machen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Tessiner Staatsanwaltschaft gegen ein Urteil des Berufungsgerichts in Strafsachen gut. Dieses hatte zwei Geschäftsleute vom Betrugsvorwurf bei den Covid-Krediten einer Einzelfirma und einer AG freigesprochen und sie wegen versuchter Täuschung der Behörden zu 30 und 42 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Fall geht zurück an die Vorinstanz.
6B_271/2022 vom 11.3.2024
Sozialversicherungsrecht
Eine Assistenzperson muss direkt von der versicherten Person oder ihrer Vertretung angestellt sein, damit die Invalidenversicherung Leistungen erbringt. Läuft der Arbeitsvertrag hingegen über eine GmbH oder sonstige juristische Person, muss die IV keine Assistenzbeiträge leisten. Nach Konsultation der Materialien zu Artikel 42quinquies des IV-Gesetzes kommt das Bundesgericht zum Schluss, Ausnahmen seien nicht möglich.
Mit der Beschränkung auf natürliche Personen habe das Parlament bewusst Mehrkosten verhindern wollen. Im vorliegenden Fall hatten die Eltern einer 23-jährigen Frau als Beistände ihrer Tochter die Assistenzpersonen über eine GmbH angestellt, die zu 100 Prozent ihnen selbst gehört. Vergeblich machten sie geltend, der Invalidenversicherung entstünden dadurch keinerlei Mehrkosten.
8C_523/2023 vom 27.3.2024
Fordern Krankenkassen von einem Spital 1,7 Millionen Franken wegen unnötiger oder nicht durchgeführter, aber verrechneter MRI-Aufnahmen zurück, genügt eine Stichprobe von 0,37 Prozent der Grundgesamtheit nicht. Der Fall geht nun zurück zur neuen Entscheidung ans Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt. Betroffen sind insgesamt 10'793 Leistungsabrechnungen aus mehreren Jahren.
Nachdem das Spital die Tarifposition «MRI Gesichtsschädel/Nasennebenhöhlen» 35-mal häufiger verrechnet hatte als noch zwei Jahre zuvor, untersuchten die Krankenkassen 40 Fälle genauer. Sie kamen zum Schluss, in 36 dieser Fälle sei das verrechnete MRI nicht zweckmässig gewesen. Das Schiedsgericht sprach den klagenden Krankenkassen insgesamt 1,7 Millionen Franken zu. 2016 seien maximal 15,9 Prozent der MRI gerechtfertigt gewesen, 2017 maximal 17 Prozent.
8C_523/2023 vom 27.3.2024
Anders als bei Ergänzungsleistungen zur AHV oder IV bleibt bei den Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose unberücksichtigt, ob ein Antragsteller zuvor übermässig Vermögen verbraucht hat. Ein 61-Jähriger hatte innerhalb von knapp zwei Jahren gut 123'000 Franken Freizügigkeitsguthaben aufgebraucht, als er im September 2022 Überbrückungsleistungen beantragte. Die Ausgleichskasse des Kantons Tessin ging von einem freiwilligen Vermögensverzicht aus und wies seinen Antrag ab, weil das theoretische Vermögen damit über der Schwelle von 50 000 Franken lag. Das Kantonsgericht korrigierte den Entscheid.
Ein übermässiger Vermögensverzehr sei gemäss Artikel 13 Absatz 3 des Gesetzes über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose erst ab der Entstehung des Anspruchs zu berücksichtigen, vorliegend nach also der letzten Taggeldzahlung der Arbeitslosenversicherung im November 2022. Das Bundesgericht weist eine Beschwerde der Ausgleichskasse gegen diesen Entscheid ab.
8C_438/2023 vom 18.3.2024
Beim Zwischenverdienst sind entgegen der Ansicht der Vorinstanz die vertraglich vereinbarten Arbeitsstunden massgebend und nicht der tatsächlich ausbezahlte Lohn. Andernfalls entstünde ein Anreiz für Angestellte, weniger als vereinbart zu arbeiten. Das könnte zu einer Umgehung von Artikel 24 Absatz 3 Arbeitslosenversicherungsgesetz führen. Darin ist ein Korrektiv zur Bekämpfung von Missbräuchen vorgesehen, indem mindestens der «berufs- und ortsübliche Ansatz für die betreffende Arbeit» verlangt wird.
So soll vermieden werden, dass Arbeitgeber und Angestellte einen zu niedrigen Lohn vereinbaren und sich die Differenz von der Arbeitslosenversicherung entschädigen lassen. Falls die Minderarbeit auf einen Annahmeverzug gemäss Artikel 324 Absatz 1 Obligationenrecht zurückzuführen ist, müsste sich der Basler Angestellte für die Differenz an den Arbeitgeber halten. Der Fall geht zur Neubeurteilung an die Unia-Arbeitslosenkasse zurück.
8C_229/2023 vom 26.4.2024