Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Als Autoimporteur gilt in Auslegung des CO2-Gesetzes, wer einen Personenwagen erstmals in der Schweiz in Verkehr setzt. Das ist der Inhaber der Typengenehmigung für das Fahrzeug. Der physische Grenzübertritt und die zoll- und mehrwertsteuerrechtlichen Veranlagungsverfügungen stellen hingegen keinen Anknüpfungspunkt für das CO2-Sanktionssystem dar. In diesem Sinne bestätigt das Bundesgericht eine vom Bundesamt für Energie verhängte Sanktion von 4,2 Millionen Franken für das Jahr 2015 gegen einen Importeur, der eine CO2-Börse betrieben hatte. Ihm werden die CO2-Werte von insgesamt 440 Personenwagen angerechnet und nicht bloss von 145. Die Sanktion beläuft sich auf 9615 Franken pro Fahrzeug.
2C_58/2023 vom 22.3.2024
Die Erhebung einer aussichtslosen Beschwerde darf nicht mit einer «mutwilligen und leichtsinnigen» Beschwerdeführung im Sinne von Artikel 10 des Behindertengleichstellungsgesetzes gleichgesetzt werden. Das hält das Bundesgericht im Falle eines Master-Studenten an der ETH Zürich fest, der mehrmals vergeblich eine Parkkarte forderte: «Vielmehr bedarf es zusätzlich des subjektiven − tadelnswerten − Elements, dass die Partei die Aussichtslosigkeit bei der ihr zumutbaren vernunftgemässen Überlegung ohne weiteres erkennen konnte, den Prozess aber trotzdem führt.» Der Student, der unter kognitiven Einschränkungen leidet, habe Anrecht auf eine gerichtliche Überprüfung des Falls gehabt. Die Auferlegung von 500 Franken Kosten durch die ETH wird deshalb aufgehoben.
2C_313/2023 vom 19.4.2024
Die Leistungssteigerung einer adaptiven Mobilfunkantenne bedarf eines ordentlichen Baubewilligungsverfahrens. Es reicht nicht aus, wenn der Betreiber einer nach dem sogenannten Worst-Case-Szenario bewilligten Antenne nur ein neues Standortdatenblatt einreicht und in der Folge auf den Betrieb mit höherer Leistung umstellt, indem er einen Korrekturfaktor anwendet. Die Anwendung des Korrekturfaktors führt bei solchen Antennen «zu Leistungsspitzen, die deutlich (je nach Korrekturfaktor bis zu 10-mal) über der bisherigen maximalen Sendeleistung liegen können». Eine solche Änderung des Betriebs begründet ein Interesse der Anwohnerschaft und der Öffentlichkeit an einer vorgängigen Kontrolle, ob die Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind. Die Gemeinde Wil SG hat die neue Betriebsart zu Recht untersagt. Die Beschwerde von Swisscom wird abgewiesen.
1C_506/2023 vom 23.4.2024
Zivilrecht
Ein Velohersteller kann an seinem Firmensitz in der Schweiz eine negative Feststellungsklage gegen einen italienischen Kunden einreichen, der nach einem Unfall mit einer Klage in Italien gestützt auf die Produkthaftung 270'000 Euro Schadenersatz fordert. Dass der Kunde den Fall vor einem italienischen Gericht verhandeln will, ist nicht entscheidend. Denn Artikel 5 Absatz 3 des Lugano-Übereinkommens lässt dem Kläger die Wahl, an seinem (Wohn-)Sitz zu klagen, was auch bei einer Widerklage gilt. Der Kunde macht geltend, fehlerhafte Kohlefaser der Carbon-Velogabel habe den Sturz verursacht. Der Velohersteller mit Sitz im Kanton Freiburg sieht die Schuld beim Kunden. Er habe die Originalfelgen und Bremsbeläge durch ungeeignete Teile ersetzt und deshalb nicht ausreichend bremsen können.
4A_249/2023 vom 22.4.2024
500 Franken Konventionalstrafe pro Tag für einen Geschäftsmieter in einem Einkaufszentrum sind nicht übermässig hoch im Sinne von Artikel 163 Absatz 3 Obligationenrecht, auch wenn dies rund 10 Prozent über der vereinbarten Bruttomiete liegt und der Höchstbetrag 562'500 Franken erreichen kann. Der Betrag muss deshalb vom Richter nicht herabgesetzt werden. Der Geschäftsmieter hatte seinen Laden in einem Shoppingcenter im freiburgischen Villars-sur-Glâne trotz zehnjährigem Mietvertrag nach rund sieben Jahren aufgegeben.
4A_189/2022 vom 22.5.2024
Strafrecht
Fährt jemand mit Tempo 122 statt der zulässigen 80 km/h auf einer Autostrasse, so liegt eine massive Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinn von Artikel 7 der Verordnung des Astra zur Strassenverkehrskontrollverordnung vor. Damit ist eine Nachfahrmessung ohne kalibriertes Nachfahrmesssystem zulässig. Das Bundesgericht weist die Beschwerde eines Autofahrers aus dem Berner Jura ab, der zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen und einer Busse von 1000 Franken verurteilt wurde.
6B_1065/2023 vom 17.5.2024
Ein Staatsanwalt ist nicht zum persönlichen Erscheinen zur Berufungsverhandlung verpflichtet, er kann sich durch Kollegen vertreten lassen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde einer Staatsanwältin gegen die vom Aargauer Obergericht verhängte Busse von 1000 Franken wegen unentschuldigten Fernbleibens gut. Hingegen schützt es den Entscheid des Obergerichts, wonach die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft als zurückgezogen gilt. Die Ferienabwesenheit oder Verhinderung von zwei Staatsanwälten in einer Staatsanwaltschaft mit zehn Staatsanwälten ist für das Bundesgericht angesichts des Beschleunigungsgebots in einem nicht allzu komplexen Fall kein wichtiger Grund für eine Verschiebung der Verhandlung. Auch ein Vertreter der Oberstaatsanwaltschaft hätte am Verfahren teilnehmen können.
6B_921/2023 und 6B_963/2023 vom 25.4.2024
Das Territorialitätsprinzip ist nicht verletzt, wenn ein verdeckter Ermittler der Schweizer Polizei mit einem Schweizer Handy über den Facebook-Messenger und die Apps Threema oder Wickr Me mit einer Person im Ausland Nachrichten austauscht. Die Freiburger Staatsanwaltschaft muss deshalb bei einer verdeckten Ermittlung gegen einen Drogenhändlerring in der Schweiz nicht die Resultate jener Tage aussortieren, an denen sich der mutmassliche Chef des Rings im Ausland aufhielt. Ein Rechtshilfeersuchen ans jeweilige Land ist entgegen der Ansicht des Freiburger Kantonsgerichts keine Voraussetzung für die Verwertbarkeit der Resultate.
7B_6/2024 vom 6.5.2024
Das Bundesgericht weist das Kantonsgericht Schwyz erneut darauf hin, dass nicht das erstinstanzliche Gericht über die Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung zu entscheiden hat, sondern das Berufungsgericht. Diese Regelung gilt auch dann, wenn es vom Eingang einer Berufungsanmeldung abhängt, ob das erstinstanzliche Gericht sein Urteil gemäss Artikel 82 Absatz 2 litera b der Strafprozessordnung nachträglich begründen muss. In einem solchen Fall kann das erstinstanzliche Gericht allerdings aus Gründen der Prozessökonomie die Berufungsanmeldung zusammen mit einem Antrag auf Nichteintreten an die zuständige Berufungsinstanz weiterleiten, falls es der Auffassung ist, die Berufungsanmeldung sei verspätet erfolgt und eine schriftliche Begründung des erstinstanzlichen Urteils deshalb nicht notwendig.
6B_149/2024 vom 14.5.2024
Sozialversicherungsrecht
Fallen mit der Volljährigkeit die Kindesschutzmassnahmen bei einer jungen Frau dahin, die bei einer ausserkantonalen Pflegemutter untergebracht ist, kann sich auch der Unterstützungswohnsitz gemäss dem Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (ZUG) ändern. Vorliegend entschied die volljährige Frau, bis zum Abschluss ihrer Lehre bei der Pflegemutter wohnhaft zu bleiben. Sie schloss mit ihr eigenständig einen Pflegevertrag ab, meldete sich am Wohnsitz der Mutter im Kanton St. Gallen ab und in der Wohngemeinde der Pflegemutter im Kanton Zürich an. Weil es sich nicht um eine behördliche Unterbringung handelt, wechselt der Unterstützungswohnsitz gemäss ZUG in den Kanton Zürich. Das Bundesgericht schützt einen entsprechenden Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen.
8C_561/2023 vom 22.5.2024
Bei der Rückforderung unrechtmässig erbrachter Leistungen der Invalidenversicherung nach einer Rentenaufhebung kommt es aufgrund eines Urteils des Versicherungsgerichts St. Gallen zu einer Praxisänderung. Nicht mehr die Rechtskraft der Rentenaufhebung gilt als fristauslösendes Moment. Künftig muss der Beginn der relativen Verwirkungsfrist stets anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls ermittelt werden. Es ist abzuklären, wann die Invalidenversicherung bei Beachtung der gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen. Dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall hilft dies wenig. Er muss dennoch 260'000 Franken zurückerstatten, weil er während sechs Jahren eine Vollrente bezog, obwohl er als Geschäftsführer eines florierenden Autohandels tätig war.
8C_184/2023 vom 29.5.2024