Für einen Anwalt gibt es viele Möglichkeiten, einen Prozess, den er gewinnen könnte, zu verlieren. Er kann eine nicht erstreckbare Frist verpassen oder einen andern nicht heilbaren Formfehler begehen, oder er kann eine notwendige Behauptung oder Bestreitung unterlassen.
Über solche Verletzungen von Verfahrensgrundsätzen und von Bestimmungen des materiellen Rechts lässt sich wenig Allgemeingültiges sagen.
Interessanter ist die Frage nach den Taktiken, welche eine Prozessniederlage für den eigenen Mandanten bewirken können. Hier geht es nicht darum, die Verletzung irgendwelcher Rechtssätze zu vermeiden. Es soll verhindert werden, dass das Gericht sich nicht von den eigenen, sondern von den Vorbringen des Gegners überzeugen lässt. Zu vermeiden sind:
1. Schnellschüsse
Zivilprozesse dauern oft länger als erwartet. Und manche Klienten glauben, ihr Anwalt sei schuld daran, dass ihr Prozess nicht vorankommt.
Man wird es daher einem Anwalt nicht verargen, wenn er diesem Klischee entgegenwirken und einem neuen Klienten zeigen will, dass er rasch arbeitet. Um Druck zu machen, schreibt er dem Gegner schon am Tag der Mandatsübernahme einen scharfen Brief, oder er reicht sofort ein Schlichtungsbegehren ein.
Bei einfachen Verhältnissen kann ein solcher Schnellschuss durchaus Erfolg haben. Oft ist ein rasches Handeln sogar unumgänglich, etwa um die Verjährung zu unterbrechen oder um sich einen erwünschten Gerichtsstand zu sichern.
Bei komplizierteren Verhältnissen und wenn objektiv keine Dringlichkeit besteht, sollte man jedoch Sachverhalt und Rechtslage in Ruhe analysieren, bevor man etwas unternimmt, was man später möglicherweise bereuen wird. Zwar lässt sich eine falsche oder eine unzweckmässige Behauptung manchmal später noch korrigieren. Doch der ungünstige Eindruck, den die Notwendigkeit einer solchen Korrektur erweckt, lässt sich oft nicht mehr beheben.
Auch wird der Gegner im weiteren Verlauf des Prozesses jede Gelegenheit ergreifen, um das Gericht an diesen Fehler zu erinnern.
2. Unnötige Korrespondenz vor Einleitung der Klage
Ein Anwalt, der ein neues Mandat übernommen hat, wird in der Regel die Mandatsübernahme der Gegenpartei anzeigen und ihr die Forderungen oder die Position seines Mandanten bekannt geben. Eine solche Mitteilung ist oft notwendig und dient der Klarheit.
Manche Anwälte schreiben jedoch vor Einleitung des Prozesses zu viel. Um den Gegner von der Richtigkeit des eigenen Standpunktes zu überzeugen, erläutern sie diesen eingehend und laufen dabei Gefahr, sich unnötigerweise zu früh festzulegen.
Auch gerät ein Anwalt bei der Redaktion eines solchen Briefes oft in ein Dilemma:
< Wenn er vor allem den bevorstehenden Prozess im Kopf hat und sorgfältig alles vermeidet, was ihm in einem späteren Prozess entgegengehalten werden könnte, ist es wenig wahrscheinlich, dass er damit Zugeständnisse des Gegners erwirkt.
< Wenn er dagegen versucht, eine gemeinsame Grundlage für eine Einigung zu finden, besteht die Gefahr, dass er Äusserungen von sich gibt, die sich im Falle eines Prozesses als Zugeständnisse auswerten lassen.
Wer seinem Gegner die Möglichkeit gibt, einen langen und sorgfältig redigierten Brief in einem Satz zu beantworten (wie beispielsweise: «Da Ihr Schreiben von falschen tatsächlichen Annahmen ausgeht, erübrigt sich eine Stellungnahme»), der verschafft dem Gegner überdies ein unerwünschtes Erfolgserlebnis.
Wer glaubt, den Gegner vor Einleitung des Prozesses zum Nachgeben oder wenigstens zu einem Kompromiss bewegen zu können, sollte dies demzufolge in einem unpräjudiziellen Gespräch versuchen.
3. Unnötige Zugeständnisse
Dass man als Anwalt keine unnötigen Zugeständnisse machen sollte, bedarf keiner Begründung. Dennoch werden solche Zugeständnisse in Bezug auf Tatsachen, die man für unschädlich hält, oft gemacht. Meist geschieht dies in der Absicht, eine eigene Behauptung gegen eine zu weit gehende Auslegung abzugrenzen und so zu vermeiden, dass sie unglaubhaft wird: «Dass der Beklagte erkannt hat, dass die ihm vorgelegte Urkunde gefälscht war, wird nicht geltend gemacht; bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte er dies jedoch erkennen müssen.»
Dass man im weiteren Verlaufe des Prozesses seine Meinung ändern könnte und das Zugeständnis zurücknehmen möchte, lässt sich oft nicht ausschliessen. Selbst wenn eine solche Änderung der Sachdarstellung zugelassen wird, führt sie zu Verwirrung und Unklarheit.
Es ist auch zu befürchten, dass der Gegner einem solchen Zugeständnis eine Bedeutung zu geben sucht, welche weiter geht, als es unserer Absicht entsprach, mit einer Formulierung wie: «Ich behafte den Kläger bei der Zugabe, dass der Beklagte nicht erkannt hat, etc. ...»
Probleme dieser Art lassen sich meist durch eine Formulierung vermeiden, welche die gewünschte Abgrenzung ohne Zugeständnis zum Ausdruck bringt, wie etwa: «Der Kläger macht geltend, dass der Beklagte wusste, dass die ihm vorgelegte Urkunde gefälscht war. Aber auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, steht fest, dass der Beklagte dies bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt erkannt hätte.»
4. Übertreibungen, unhaltbare Verallgemeinerungen
Das Gegenstück zu unnötigen Zugeständnissen sind Übertreibungen und unhaltbare Verallgemeinerungen, welche die Glaubwürdigkeit gegenüber dem Gericht beeinträchtigen.
Dass man seine Argumente mit Nachdruck vertritt und mit seinen Behauptungen etwas weiter geht als nötig, dürfte den meisten prozessierenden Anwälten im Blut liegen. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Man sollte sich jedoch davor hüten, eine an sich richtige Behauptung so sehr zu überdehnen, dass sie widerlegbar wird.
Ein Anwalt sollte nicht von der «vorbehaltlosen Zustimmung des Beklagten» zu einem Vertragsentwurf sprechen, wenn der Beklagte Vorbehalte angebracht hat. Dies gilt auch dann, wenn sich die Einwendungen des Beklagten nicht auf den für den Prozess erheblichen Punkt beziehen. Dem Bedürfnis nach einer klaren und einfachen Behauptung wird man durch folgende Formulierung ebenfalls gerecht, ohne sich jedoch dem Vorwurf einer falschen Behauptung auszusetzen: «Dem Vorbehalt des Beklagten betreffend Ziffer 9 des Entwurfes wurde in der Folge durch eine entsprechende Änderung Rechnung getragen. Er ist daher für die vorliegende Auseinandersetzung ohne Bedeutung. Im Übrigen hat der Beklagte dem Vertragsentwurf an der Besprechung vom 12. Juni ausdrücklich zugestimmt.»
5. Vorweggenommene Beantwortung erwarteter Einwendungen
Die meisten erfahrenen Prozessanwälte sind sich wohl darin einig, dass erwartete Einwendungen des Gegners im Zweifel nicht beantwortet werden sollten, bevor er sie erhoben hat.
Für diese Haltung gibt es mehrere Gründe:
< Die Vorwegnahme ist geeignet, der Einwendung zusätzliches Gewicht zu verleihen.
< Es geschieht nicht selten, dass eine erwartete Einwendung von der Gegenpartei nicht erhoben wird - etwa weil der Gegenanwalt sie übersehen hat oder weil er fürchtet, dass bei der Beweisführung über diese Einwendung andere, für seine Partei ungünstige Tatsachen bekannt werden.
< Es kommt vor, dass man den erwarteten Einwand klarer formuliert, als der Gegner dies täte.
< Die Präsentation des Sachverhaltes wird durch die Vorwegnahme einer Einwendung oft komplizierter und die Lesbarkeit der Eingabe dadurch beeinträchtigt.
Dass zu einer erwarteten Einwendung nicht Stellung genommen werden soll, solange sie nicht erhoben wurde, gilt freilich nicht immer. Es empfiehlt sich beispielsweise, dann Stellung zu nehmen, wenn die erwartete Einwendung so naheliegend ist, dass jedes andere Vorgehen beim Gericht auf Unverständnis stiesse.
6. Lange Ausführungen zu schwachen Punkten
Eine Grundregel der Prozesstaktik besagt, dass man als Anwalt starke Punkte ausführlich behandeln und wenig zu den schwächeren Punkten sagen sollte.
Dies mag selbstverständlich klingen, ist es aber nicht: Oft lässt sich ein zwingendes Argument in einem einzigen Satz festhalten. Ist die eigene Position bei einer bestimmten Streitfrage dagegen schwächer, gerät man leicht in Versuchung, seine Position auch mit Bezug auf diesen Punkt noch zu retten, obwohl dies lange und nicht voll überzeugende Rechtfertigungen erfordert. Wenn ein Anwalt dieser Versuchung nachgibt und sich zu ausführlich zu einem für ihn schwierigen Thema äussert, dann zwingt er den Richter, sich eingehend mit diesem Thema zu befassen. Er lenkt dessen Aufmerksamkeit auf die eigene Schwachstelle. Diese wird in den Überlegungen des Richters mehr Gewicht erhalten als die starken Punkte.
Auch von diesem Grundsatz gibt es eine wichtige Ausnahme: Wenn feststeht, dass man den Prozess verlieren wird, wenn das Gericht in einer bestimmten Frage gegen einen entscheidet, hat man keine andere Wahl, als seine Position so sauber und so überzeugend wie möglich herauszuarbeiten.
7. Bagatellisierung von Einwendungen des Gegners
Dass lange Ausführungen zu schwachen Punkten zu vermeiden sind, bedeutet natürlich nicht, dass man Einwendungen des Gegners und ungünstige Beweisergebnisse nicht ernst nehmen soll. Wenn ein Mensch sich eine Meinung gebildet hat, neigt er dazu, daran festzuhalten. Neu erhaltene Informationen, die diese Meinung bestätigen, werden stärker gewichtet als neue Informationen, welche ihr widersprechen. Was zur eigenen Meinung nicht passt, wird oft bagatellisiert, übersehen, vergessen oder in seiner Bedeutung nicht erkannt.
Die Psychologen sprechen hier vom «Bestätigungseffekt» oder vom «confirmation bias».
Ein Anwalt in einem Zivilprozess ist dem Bestätigungseffekt besonders ausgesetzt. Seine Aufgabe besteht ja darin, Tatsachen und Argumente zu finden, die für den Standpunkt seines Mandanten sprechen. Was diesen Standpunkt stützt, wird gierig zur Kenntnis genommen und im Gedächtnis behalten, während die Bedeutung von Gegenargumenten oft nicht erkannt wird.
Diese Haltung führt leicht zu einer Überschätzung der eigenen Position. Dies ist verhängnisvoll bei der Beratung, ob der Mandant Klage einleiten, ein Rechtsmittel ergreifen oder ob er einem nicht sehr attraktiven Vergleich zustimmen soll. Eine Überschätzung der eigenen Position kann jedoch auch Fehler in der Prozessführung zur Folge haben, wenn man die Gefährlichkeit eines gegnerischen Argumentes, einer Urkunde oder einer Zeugenaussage nicht erkennt und darauf nicht sachgerecht reagiert.
Das Bestreben, diejenigen Tatsachen und Argumente zu finden, die für den eigenen Standpunkt sprechen, ist für den Prozessanwalt unerlässlich. Dass er deshalb die Erfolgsaussichten seines Mandanten überschätzt, ist oft nicht zu vermeiden. Das schadet nichts, solange er sich dieser Tendenz bewusst ist und sie bei seinen Prozesshandlungen und bei der Beratung seines Mandanten mitberücksichtigt.
8. Furcht vor klar formulierten Vorwürfen
In manchen Prozessen ist man gezwungen, geltend zu machen, die Gegenpartei oder deren Organe hätten sich rechtswidrig verhalten. Oft beruhen solche Behauptungen nicht auf eindeutigen Kenntnissen, sondern auf Schlussfolgerungen und Annahmen, die auf Indizien beruhen.
Einen Prozess gestützt auf solche Vorwürfe zu führen, ist schwierig, und die Erfolgsaussichten sind meist ungewiss. Wenn man sich jedoch zur Führung eines solchen Prozesses entschliesst, dann müssen die Vorwürfe klar ausgesprochen werden. Das Gericht hat seinen Entscheid auf die Tatsachenbehauptungen der Parteien zu stützen. Andeutungen, Mutmassungen über eine möglicherweise erfolgte Handlung und rhetorische Fragen sind keine Tatsachenbehauptungen.
Wenn man als Kläger nicht bereit ist, die für die Gutheissung einer Klage erforderlichen Behauptungen in klaren Worten vorzubringen, dann sollte man auf die Einreichung der Klage verzichten. Will man zum Ausdruck bringen, dass die erhobenen Vorwürfe nicht auf gefestigtem Wissen, sondern auf Schlussfolgerungen beruhen, bietet sich die Formulierung an, «der Kläger macht geltend, dass ...».
Dass Vorwürfe klar ausgesprochen werden müssen, bedeutet nicht, dass dies in einer aggressiven Form zu geschehen hat. Vor allem bei allenfalls ehrenrührigen Vorwürfen sollte sich die Sachdarstellung auf den geltend gemachten, objektiven Sachverhalt beschränken. Wertende Adjektive und Adverbien sind dabei zu vermeiden.
9. Unerwünschte Signale an den Gegner
Bei der Führung eines Prozesses versucht ein Anwalt nicht nur, das Gericht zu beeinflussen, sondern auch die Gegenseite - in der Absicht, dass die Gegenseite das tut, was in seinem Interesse liegt, und dass sie das unterlässt, was ihm schadet.
Freiwillig und in Kenntnis der Ziele des Klägers wird der Vertreter des Beklagten dies nicht tun. Der Anwalt des Klägers muss daher verhindern, dass der Beklagte die Prioritäten des Klägers erkennt: Der Beklagte darf nicht erfahren, dass der Kläger eine rasche Beendigung des Prozesses wünscht, weil er prozessmüde oder finanziell nicht mehr in der Lage ist, den Prozess noch für längere Zeit durchzustehen. Der Beklagte soll auch nicht erfahren, dass auf Seiten des Klägers interne Spannungen zwischen den verschiedenen Entscheidungsträgern bestehen.
Bei allen Äusserungen, die der Gegenseite zur Kenntnis gelangen - dazu gehören natürlich auch die Eingaben an das Gericht -, sollte man daher sicherstellen, dass sie vom Gegner nicht als Signale aufgefasst werden können, die aus der eigenen Sicht unerwünscht sind.
Die eigenen Handlungen sollten dem Gegner Zuversicht, Gelassenheit und Einigkeit signalisieren sowie die Bereitschaft, den Prozess wenn nötig zu Ende zu führen.
10. Zurückhaltende Forderungen zu Beginn von Vergleichsverhandlungen
Gerichte sind bestrebt, Zivilprozesse durch einen Vergleich zu beendigen. Nehmen wir an, der Kläger habe 100 eingeklagt. An der Vergleichsverhandlung erklärt der Richter, er betrachte den Prozessausgang als offen und schlage einen Vergleich vor, gemäss welchem der Beklagte einen Betrag von 50 bezahlen soll.
Der Kläger erklärt darauf oft, der Vorschlag des Gerichtes liege unter seinen Erwartungen. Dennoch stimme er zu, um eine Beendigung des Streites zu ermöglichen. Zu diesem Zeitpunkt eine solche Zustimmung zu erteilen ist jedoch falsch. Auch wenn der Kläger bereit wäre, einem Vergleich auf der vom Gericht vorgeschlagenen Basis zuzustimmen, sollte er einen Betrag an der oberen Grenze des Vertretbaren verlangen, also vielleicht 70 oder sogar 80.
Wenn er dies nicht tut, dann werden - sofern der Beklagte lediglich einen Betrag von 20 offeriert - viele Richter ihre Haltung allmählich ändern. Weil sie den Eindruck haben, der Kläger sei eher bereit nachzugeben, werden sie den Druck auf den Kläger erhöhen und ein gewisses Verständnis für die Haltung des Beklagten zeigen.
In Vergleichsverhandlungen - inbesondere in Anwesenheit eines Richters - zahlt sich Bescheidenheit nicht aus. Als Parteivertreter sollte man - wenn möglich als Erster, vor dem Vertreter der Gegenpartei - einen hohen (oder wenn man den Beklagten vertritt einen tiefen) Betrag nennen und so einen «Anker» setzen. Auch wenn dieser Anker nicht übernommen wird, bildet er doch den Ausgangspunkt für die weiteren Gespräche. In der Psychologie wird dieses Phänomen als «Ankereffekt» oder «anchoring effect» bezeichnet.
Der Ankereffekt wirkt freilich nur, wenn er mit Überzeugung und ohne Selbstzweifel vorgetragen wird. Wenn der Eindruck entsteht, der Anwalt selbst habe Hemmungen, den Betrag zu nennen, dann setzt er keinen wirksamen Anker. Andererseits darf der Anker nicht so hoch gesetzt werden, dass er nicht mehr ernst genommen wird.
Und zum Schluss noch Folgendes: Es liegt im Wesen der Taktik, dass es keine absolut gültigen Regeln gibt. Es gibt Situationen, in welchen manche der hier als Fehler bezeichneten Handlungen vertretbar oder sogar geboten sind.