Nach Jahren der relativen Ruhe eskalierte in diesem Frühjahr die Situation im Nahen Osten ein weiteres Mal: In Ostjerusalem kam es zu Ausschreitungen, nachdem das Jerusalemer Bezirksgericht die Zwangsräumung von Häusern angeordnet hatte, die von palästinensischen Familien bewohnt wurden. Es folgten über 4000 Raketen aus dem Gazastreifen und massive Luftangriffe durch das israelische Militär. Laut den Nachrichtenagenturen Reuters und AA wurden auf palästinensischer Seite 248, auf israelischer Seite 13 Menschen getötet, mehrere Tausend wurden verletzt.
Die blutige Eskalation rückt zum wiederholten Mal eine seit Jahrzehnten umkämpfte Region in den Fokus, in welcher sich die völkerrechtliche Ausgangslage auch für Experten wie den Genfer Völkerrechtsprofessor Robert Kolb verfahren und unübersichtlich präsentiert. Er ist der einzige von insgesamt fünf von plädoyer angefragten Schweizer Völkerrechtsexperten, der zu diesem Thema öffentlich Stellung nehmen wollte.
Kolb und Matthias Hartwig, Völkerrechtsexperte am Max-Planck-Institut in Heidelberg, analysieren die Region aus völker- und menschenrechtlicher Sicht, unter Berücksichtigung der einzelnen Abschnitte des Territoriums zwischen dem Mittelmeer und dem Fluss Jordan.
Gazastreifen: “Freiluftgefängnis“ unter Beschuss
Der Gazastreifen am östlichen Mittelmeer wurde bis 1967 von Ägypten verwaltet, ehe er im Rahmen des Sechstagekrieges von Israel besetzt wurde. Erst 2005 erfolgte der vollständige Rückzug Israels und der Abbau aller israelischen Siedlungen. Gemäss dem Osloer Friedensabkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) von 1994 und mehreren UN-Resolutionen soll der Gazastreifen im Verbund mit dem Westjordanland dereinst einen palästinensischen Staat bilden.
«Allerdings hat sich Israel eine Reihe von Sonderrechten zugesichert, zum Beispiel das Recht, bei Bedrohung der eigenen Sicherheit in den Gazastreifen einzumarschieren», sagt Robert Kolb. Ausserdem kontrolliere Israel bis auf den Grenzübergang zu Ägypten sämtliche Grenzen des Gazastreifens – zu Land, zu Wasser und in der Luft. Der Status des Gazastreifens sei damit einer «sui generis»: kein besetztes Gebiet, aber von Israel derart stark kontrolliert, dass einige Regeln des Besatzungsrechts analog anzuwenden sind. Es handelt sich um jene, die es der betroffenen Bevölkerung erlauben sollen, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Das sei im Gazastreifen nicht möglich, sagt Matthias Hartwig: «Auf 360 Quadratkilometern leben knapp zwei Millionen Menschen, die Bewegungsfreiheit nach aussen ist eingeschränkt.» Hinzu kämen hohe Arbeitslosenzahlen und die Abhängigkeit der Bewohner vom Nachbarstaat: «Israel kann zum Beispiel den Strom ab- und die Zufuhr von Benzin einstellen.»
Regelmässig wird der Gazastreifen deshalb auch als «Freiluftgefängnis» bezeichnet, die Blockade als «völkerrechtswidrig». Robert Kolb sagt dazu: «Es gibt im Völkerrecht kein allgemeines Blockadeverbot. Ein Staat darf aus Selbstverteidigungsgründen ein Gebiet blockieren.» Israel argumentiert denn auch mit der Notwendigkeit zur Selbstverteidigung: Im Gazastreifen regiert die Hamas, die in ihrer Gründungscharta das Existenzrecht Israels verneint und immer wieder Raketen auf israelisches Gebiet abfeuerte.
Das Argument der Selbstverteidigung befindet sich damit möglicherweise im Einklang mit dem Völkerrecht. Kolb stellt aber klar: «Auch eine Blockade zur Selbstverteidigung ist völkerrechtlich dem Kriegsrecht unterstellt.» Und: Die grundsätzliche völkerrechtliche Zulässigkeit zu blockieren entbinde den Urheber der Blockade nicht von der Achtung der Menschenrechte.
Direkt bedroht sind die Menschenrechte der Bewohner des Gazastreifens von den Bombardierungen durch die israelische Armee. Darf ein blockiertes, quasi-besetztes Gebiet überhaupt bombardiert werden? «Ja, das Völkerrecht ist da nicht zimperlich», sagt Kolb. Legitime militärische Ziele dürften unter Wahrung des Kriegsvölkerrechts eigentlich immer angegriffen werden. Das Problem bei Angriffen auf den Gazastreifen liege in dessen Struktur: «Das Gebiet ist derart dicht besiedelt, da tangiert man als Angreifer sehr schnell bewohnte Zonen.» Die vom Kriegsvölkerrecht gebotene Unterscheidung von Zivilisten und Kombattanten ist schwierig. Zwar attestiert Kolb der israelischen Armee im Vergleich – zum Beispiel mit russischen Truppen in Syrien – ein vorsichtiges Vorgehen. «Doch trotz vorgängiger Warnungen sind die zivilen Opferzahlen bei Angriffen im Gazastreifen jeweils sehr hoch.»
Menschenrechtsorganisationen und auch eine Uno-Kommission, die den Gaza-Krieg von 2014 untersuchte, kamen zum Schluss, dass sowohl bestimmte israelische Luft- als auch palästinensische Raketenangriffe Kriegsverbrechen darstellen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag leitete Ermittlungen ein.
Im Zusammenhang mit der jüngsten Eskalation könnten gemäss Uno-Menschenrechtsrat beide Seiten Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen haben. Das Gremium will deshalb eine internationale Untersuchung einleiten. Zu klären wäre laut Hartwig, ob es zu überproportionalen und unverhältnismässigen Angriffen durch die israelische Armee kam und ob die Hamas Zivilisten als «Schutzschilde» missbraucht und mit Raketen völkerrechtlich verbotene wahllose Angriffe geführt hat.
Westjordanland: Checkpoints, Verhaftungen
Das Westjordanland gliedert sich in drei Teile: Einen palästinensisch kontrollierten, einen gemischt kontrollierten und einen unter israelischer Polizei- und Zivilkontrolle. Letzterer stellt Kolb zufolge «unzweifelhaft besetztes Gebiet» dar. Im Sinn einer Waffenstillstandslinie anerkannt ist die «Grüne Grenze» von 1949. Sie wird von den Palästinensern als Grundlage einer zukünftigen Grenzziehung angesehen. 2004 ergab ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, dass Israel mit dem dortigen Mauerbau gegen Völkerrecht verstosse, weil diese zu weit im besetzten Gebiet liegt.
Der Bau oder Ausbau von Siedlungen in besetztem Gebiet ist gemäss dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten völkerrechtswidrig. Trotzdem kommt es ausserhalb der palästinensisch kontrollierten Zone zunehmend zu Enteignungen und der Verdrängung der arabischen Bevölkerung. Gemäss dem UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) liess Israel im Jahr 2020 im Westjordanland einschliesslich Ostjerusalem 848 palästinensische Wohnhäuser und andere Gebäude abreissen.
Dazu kommt: Zwischen den palästinensischen und jüdischen Bewohnern besteht in den besetzten Gebieten keine Rechtsgleichheit, was auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) beklagt. Israelische Militärverordnungen gelten lediglich für die palästinensischen Bewohner und stellen auch friedliche politische Aktivitäten unter Strafe. Palästinenser können verhaftet und von Militärgerichten auch ohne das Vorliegen einer konkreten Straftat mit Administrativhaft belegt werden. Nach Angaben von Amnesty International – die Menschenrechtsorganisation beruft sich auf Angaben der israelischen Justizvollzugsbehörde – sassen im Dezember 2020 etwa 4300 Palästinenser aus den besetzten Gebieten in israelischen Gefängnissen, 397 von ihnen in Verwaltungshaft.
Auch die Bewegungsfreiheit der Palästinenser im Westjordanland ist stark eingeschränkt. Um von Ort zu Ort zu gelangen, müssen sie oftmals zahlreiche Checkpoints passieren. Amnesty International zählt im Westjordanland mindestens 593 solche Kontrollpunkte – und kritisiert, dass Inhaber eines palästinensischen Ausweises zum Teil keine Strassen benützen dürfen, die für israelische Siedler gebaut wurden.
Israel: Neue Front mitten im Land
Im Zuge der jüngsten Eskalation tat sich eine neue Front auf: Arabische und jüdische Bürger gingen mitten in Israel aufeinander los. Die Entwicklung kann auch als Höhepunkt eines Entfremdungsprozesses zwischen den Bevölkerungsgruppen gedeutet werden, der in den letzten Jahren an Schärfe gewonnen hat.
Knapp 21 Prozent der israelischen Bevölkerung sind arabisch-palästinensischer Herkunft. Die meisten von ihnen sind in Besitz der israelischen Staatsbürgerschaft. Die arabischen Israeli sind mit Parteien auch in der Knesset, dem israelischen Parlament vertreten.
Die Knesset hat 2018 das sogenannte Nationalstaatsgesetz verabschiedet. Es betont den «jüdischen Charakter» des Staats Israel, erklärt Hebräisch zur alleinigen Nationalsprache und will den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau fördern. «Das Nationalstaatsgesetz hat zwar Verfassungsrang, wird von den Befürwortern aber als vor allem symbolisch heruntergespielt», sagt Hartwig. Tatsächlich sei der Einfluss des Gesetzes auf das Alltagsleben in Israel bislang überschaubar. «Aber das kann sich ändern.»
Auch abseits des Nationalstaatsgesetzes gibt es rechtliche Ungleichbehandlungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis: So hat jeder Jude grundsätzlich das Recht, nach Israel einzuwandern. Für Palästinenser gilt das nicht, selbst wenn sie mit israelischen Arabern verheiratet sind. Die Unterscheidung hat mit dem von palästinensischer Seite geforderten Rückkehrrecht für Flüchtlinge zu tun: Über 700 000 Palästinenser flohen im Krieg von 1947 aus dem heutigen israelischen Kernland oder wurden vertrieben. Die Forderung nach ihrer Rückkehr – die Gruppe der Geflohenen und ihrer Nachfahren ist inzwischen auf über 5 Millionen Menschen angewachsen – wird von israelischer Seite abgelehnt.
Gemäss Hartwig gibt es weiter Ungleichbehandlungen zwischen den Bevölkerungsgruppen beim Landerwerb in Israel: «Faktisch ist es für arabische Israelis viel schwieriger, Land zu kaufen. Ausserdem gibt es Gesetze, denen zufolge arabische Bürger ihr Eigentum verlieren, wenn sie für längere Zeit das israelische Staatsgebiet verlassen.» Ungleich sei weiter die Vergabe staatlicher Mittel. Arabische Gemeinden innerhalb Israels erhielten weniger Unterstützungsbeträge als jüdische.
Libanon: Das vergessene Unrecht an den Flüchtlingen
Nicht nur in Israel, auch im Nachbarland Libanon sind Palästinenser teils gravierenden Diskriminierungen ausgesetzt. Zwischen 300 000 und 500000 palästinensische Flüchtlinge leben dort, die genauen Zahlen sind unklar. Anders als in Jordanien oder Syrien werden die Geflohenen in der Regel nicht eingebürgert. «Sie leben am Rand der Gesellschaft, oft in Flüchtlingslagern, und werden schlecht behandelt», sagt Hartwig.
Die libanesische Politik zeige mit dem Finger auf Israel und mache das Nachbarland für die Situation der palästinensischen Flüchtlinge verantwortlich. «Angesichts der Tatsache, dass einige von ihnen seit über 75 Jahren im Libanon leben, ist das nicht haltbar», sagt Hartwig. Ihm zufolge sei der menschenrechtswidrige Umgang auf das prekäre politisch-gesellschaftliche Klima im Land zurückzuführen: Verschiedene religiöse und politische Gruppen leben im Libanon in nicht immer friedlicher Koexistenz. «Das System ist fragil, aber auch wohlaustariert», so Hartwig. «Es besteht von libanesischer Seite die Befürchtung, dass es kollabieren würde, wenn man den Palästinensern die volle Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben erlaube.»
Unkonventioneller Lösungsansatz EU-Beitritt
Robert Kolb hat eine Vorstellung davon, wie der Israel-Palästina-Konflikt idealerweise gelöst werden könnte: «Israel muss die 1967 und später besetzten Gebiete zurückgeben; die Hauptstadt Jerusalem muss geteilt werden; und in der Flüchtlingsfrage muss es zur Zahlung von Abfindungssummen durch Israel an die Palästinenser kommen.» Eine Rückkehr aller Flüchtlinge könne Israel aus demographischen Gründen niemals zulassen.
Kolbs Lösungsansatz entspricht der Zweistaatenlösung, auf die in den letzten Jahrzehnten fast sämtliche internationalen Friedensbemühungen abzielten. «Es ist die einzige Lösung, die eine neutrale, unbefangene Person für den Nahen Osten fordern kann», sagt Kolb – und weiss gleichzeitig: «Sie ist aktuell ausgeschlossen.»
Matthias Hartwig geht noch weiter: «Ich halte die Zweistaatenlösung für Augenwischerei.» Aufgrund der jüdischen Siedlungstätigkeit gleiche das Westjordanland einem Flickenteppich. «Palästina ist als Staat so nicht lebensfähig.» Eine Räumung der jüdischen Siedlungen sei nicht realistisch. Bereits anlässlich des Rückzugs Israels aus dem Gazastreifen kam es zu Ausschreitungen zwischen den über 8000 jüdischen Siedlern und dem israelischen Militär. Bei einer Vertreibung von mehreren Hunderttausend Siedlern aus dem Westjordanland drohe ein Bürgerkrieg unter jüdischen Israelis.
Als Lösung propagiert deshalb unter anderem der bekannte israelische Philosoph Omri Boehm einen gemeinsamen, binationalen Staat. In diesem sollen sich israelische und palästinensische Gebiete mit grosser Autonomie selbst verwalten, wären aber über eine gemeinsame Verfassung in einem gemeinsamen Staat verbunden. Schutzmechanismen auf Verfassungsstufe sollen dafür sorgen, dass weder die ärmere palästinensische Bevölkerung von der reicheren jüdischen, noch die zahlenmässig kleinere jüdische Bevölkerung von der grösseren palästinensischen marginalisiert würde.
Hartwig hält eine solche Konföderation für denkbar, verweist aber auf zu erwartenden Widerstand der in den letzten Jahren erstarkten israelischen Rechten. Kolb sieht das Problem «ständiger Spannungen» in einem binationalen Staat – auch weil die Demographie die jüdische Bevölkerung auf lange Sicht eben doch an den Rand drängen würde.
Als unkonventionelle Lösung bringt Hartwig einen Beitritt Israels und der palästinensischen Autonomiegebiete zur Europäischen Union ins Spiel. «Israel ist bereits bei Fussballwettbewerben Teil des europäischen Raums und Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde gibt es auch», sagt er. Die Perspektive im Gazastreifen könnte sich durch eine Eingliederung in die europäische Wirtschaft verbessern. Kolb sagt dazu allerdings: «Wenn Israelis und Palästinenser so weit sind, dass sie für eine EU-Mitgliedschaft in Frage kommen, dann wären sie wohl auch so weit, ihre Probleme bilateral beizulegen.»