Die psychiatrischen Krankheiten sind über Generationen hinweg dieselben geblieben. In der Diagnostizierung ist aber in den letzten Jahren eine Wandlung erfolgt. Zum einen haben terminologische Neuerungen die diagnostische Sprachlandschaft umgepflügt: Neue Namen für alte Krankheiten. Statt «Psychopathie» wird «Persönlichkeitsstörung» diagnostiziert. Das Wort «hysterisch» ist durch «hysterionisch» ersetzt worden. Die Liste der Umbenennungen liesse sich seitenlang vermehren. Zum andern hat ein rigider taxonomischer Klassifikationsstil in der Diagnostik Einzug gehalten, welcher dem Einzelfall nicht gerecht wird.
Buchhalterische, undifferenzierte Diagnose
Anstelle von originellen ausführlichen und plastisch-anschaulichen Beschreibungen von Krankheitsbildern aus der Feder von Koryphäen der psychiatrischen Lehre sind spröde Kurzbeschreibungen in von Fachgremien abgesegneten Handbüchern getreten.
Biografische, tiefenpsychologische und psychodynamische Aspekte fliessen kaum mehr in die Diagnosestellung ein. Diese wird in geradezu buchhalterischer Weise praktiziert. Besonders für die Beurteilung von psychiatrischen Expertenfragen ist aber nicht die Krankheit als solche, sondern sind das damit verbundene Leiden und die sozialen Auswirkungen relevant. Durch die Verkümmerung des diagnostischen Prozesses wird oft eine präzise individuelle Beurteilung verpasst, bis hin zur krassen Fehldiagnose.
Überbewertung der psychiatrischen Prognose
Die Zuständigkeit des Psychiaters sollte sich grundsätzlich auf die Erläuterung der Verlaufsprognose von Krankheiten von klinischer Ausprägung begrenzen, etwa der Schizophrenie, des manisch-depressiven Krankseins oder der Suchtkrankheiten. In den letzten Jahren hat aber die psychiatrische Forensik immer mehr die Beurteilung der Persönlichkeitsstörungen und auch des gewöhnlich Kriminellen zu ihrer Kernkompetenz gemacht. Dies stellt eine unzulässige Einmischung in die richterliche Zuständigkeit dar.
Das Strafgesetzbuch ist im Grunde genommen ein soziales Instrument zur Bekämpfung der Persönlichkeitsstörungen mit deliktischen Neigungen. Es sieht denn auch nur für den schwer gestörten Täter die Option einer Behandlung vor (Artikel 59 StGB). Das wäre etwa der Fall bei einer hysterionischen Persönlichkeitsstörung mit wahnhaften und selbstzerstörerischen Zügen.
Die heute zum Standard erhobenen Prognoseinstrumente (Fotres, HCL20, PCL-R, VAG, Static 99) registrieren indessen klinisch nicht relevante biografische Daten in grosser Menge, die eine hohe prognostische Treffsicherheit vortäuscht. Wie herkömmliche psychologische Tests sind aber auch sie nur bedingt quantitativer Natur. Denn der Experte vergibt - oft basierend auf blossem Aktenstudium - nach seinem persönlichen Werturteil Punkte für die einzelnen Daten, die in die Berechnung eingehen.
Ein solches Prozedere ist für eine statistische Kriminalstudie legitim, jedoch zweifelhaft bei der Anwendung auf Einzelfälle. Es ist inakzeptabel, Merkmale aus verschiedenen Lebensphasen zu registrieren und daraus durch die Kombination von Messeifer, mehr oder weniger willkürlicher Punkteverteilung und buchhalterischem Additionsverfahren einen Gefährlichkeitskoeffizienten zu ermitteln.
Einsatz der Therapie als Strafe
Die Bestimmung des «zukünftigen Verbrechers nach Punkten» mittels sozialer Kennzeichen ist nicht vereinbar mit dem Prinzip der selbstverantwortlichen Willensbildung in der Rechtsprechung. Die Einführung anthropometrischer Pro-gnosemethoden huldigt einer deterministischen Haltung. Diese ist unvereinbar mit dem Grundsatz der angestrebten Besserungswirkung der Strafe. Wenn Persönlichkeitsstörungen inflationär diagnostiziert werden, führt das zu einer zunehmenden Machtübernahme der Psychiatrie in der Rechtsprechung. Das Hegemonialstreben der forensischen Psychiatrie zeigt sich auch in der massiven Zunahme von stationären Massnahmen nach Artikel 59 StGB bei Persönlichkeitsstörungen. Deren praktische Umsetzung, die pro Fall 230 000 Franken jährlich kostet, erscheint unter dem Titel «kleine Verwahrung» als vom Zeitgeist verlangte Verlängerung der Strafe in die Psychotherapie.
Verletzung fachlicher Grundsätze
Die vom Psychiatrisch-Psychologischen Dienst Zürich (PPD, Leiter Frank Urbaniok) deklarierten Modalitäten weisen auf bedenkliche Verletzungen psychiatrie-ethischer Maximen hin: Die Therapieindikation wird vom PPD, der in der Durchführung stationärer Massnahmen eine Monopolstellung einnimmt, nach eigenem Gutdünken in einem Triageverfahren überprüft. Damit ist das Tabu der strikten Trennung zwischen Begutachtung und Behandlung gebrochen.
Bei dieser einen Verletzung eines fachlichen Grundsatzes bleibt es aber nicht: Die Behandlung wird oft gegen den Willen des Patienten angeordnet. Psychotherapeutische Drangsalierung ist aber psychiatrie-ethisch unstatthaft. Die Therapie wird ausschliesslich deliktorientiert gehandhabt. Obsessive Anwendung stereotyper Methoden, die den Patienten mürbe macht, ist indessen ein Kunstfehler. Bei fehlender Bereitschaft des Patienten zur Offenbarung seiner Intimsphäre werden repressive Konsequenzen wie zum Beispiel eine Verwahrung angedroht, was einen inakzeptablen Druckversuch darstellt. Die Schweigepflicht wird nicht strikte eingehalten.
Dies kommt einer krassen Verletzung des Vertrauensverhältnisses zwischen Patient und Therapeut gleich. Erfolgsstudien werden von der therapeutischen Einrichtung selbst durchgeführt. Damit ist die Unabhängigkeit der Forschung nicht gewährleistet.
Heiliger Krieg gegen das Verbrechen
Werden solche Behandlungsmethoden in einem von Angstklima geprägten hierarchisch-repressiven System praktiziert, das mit einer therapeutischen Monokultur einen heiligen Krieg gegen das Verbrechen führt, zeigt sich eine sektiererische Entartung. Die forensische Psychiatrie darf nicht als Erfüllungsgehilfin von extremistischen Stammtisch- und Zeitgeistforderungen fungieren. Sie hat sich unbeirrt an ihrem fachlichen Auftrag und an ihren facheigenen Maximen zu orientieren, selbstverständlich auch an rechtsstaatlichen Prinzipien.