Die Entstehung der Rhetorik als wissenschaftliche Disziplin im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hängt eng mit der Form des griechischen Gerichtsprozesses zusammen: Der Redner musste dort seine Sache vor 201 bis 1501 Personen selbst vortragen, anwaltliche Vertretung war nicht zulässig. Die Richter waren Laien und juristisch nicht geschult. Es gab keine Beratung des Gerichts zur Urteilsfindung, sondern bloss eine Abstimmung zu den gestellten Anträgen der Parteien. Unter diesen Voraussetzungen kam dem Stil der Rede eine besondere Bedeutung zu. Es erstaunt daher nicht, dass es einen Berufsstand von professionellen Rhetoren gab, die für Prozessparteien einen Vortrag ausarbeiteten, den diese dann auswendig lernten. Zudem wurde deren Wissen auch systematisiert und unterrichtet.
Dem Plädoyer kommt auch im US-amerikanischen Geschworenengerichtsprozess eine zentrale Bedeutung zu – wenn wohl nicht ganz so stark, wie es Hollywood glauben lässt. In Deutschschweizer Gerichtssälen geht es dagegen (auch mentalitätsbedingt) meist sehr nüchtern zu und her; der Verteidiger als brillanter Rhetor ist eine Rarität. Dies liegt neben dem verbreiteten schwerfälligen Umgang mit dem mündlichen Vortrag vor allem daran, dass die strafrechtliche Hauptverhandlung aufgrund der (sehr) begrenzten Unmittelbarkeit eine deutlich geringere Rolle spielt als in den meisten Prozessordnungen. Das Gericht kennt die Akten, hat sich eingehend auf den Prozess vorbereitet und die Beweise wurden zum grössten Teil bereits abgenommen.
Oft kommt daher die Verteidigungsrede (zu) spät, um etwas Matchentscheidendes zu bewegen. In der Schweiz plädiert man überdies meistens vor Berufsrichtern. Cicero mag fürs alte Rom recht gehabt haben, dass in der Gerichtsrede der brillante Redner ohne jede Rechtskenntnis wesentlich weiter komme als der akribische Jurist ohne rhetorische Fähigkeiten. In der Schweiz zeichnet sich aber – entgegen einer verbreiteten Laienmeinung – die gute Strafverteidigung nicht primär durch ihre forensische Eloquenz aus. Andere Qualifikationen und Qualitäten wie solide dogmatische Kenntnisse oder ein gutes taktisches Gespür sind in den meisten Fällen weit zentraler.
Es wäre aber umgekehrt wiederum gänzlich verfehlt, einem guten Plädoyer jede Wirkung abzusprechen. Mit der guten Rede wird allerdings (meist) nur noch geerntet, was vorher mittels der durchdachten Strategie gesät worden ist. Ein gutes Plädoyer kann daher ein Gericht durchaus beeinflussen.
Aber längst nicht jeder gute Parteivortrag bewirkt etwas. Oft werden die mit Bedacht gewählten Worte freundlich zur Kenntnis genommen, aber im Ergebnis ignoriert, auch wenn die Strategie und der Vortrag der Verteidigung exzellent sind. Weil dies aber längst nicht immer so ist, lohnt es sich darüber nachzudenken, was denn eigentlich ein gutes Plädoyer ausmacht. Dazu kommt, dass für die meisten Beschuldigten die Rede ihres Verteidigers emotional ganz wichtig ist; sich hier als Anwalt über die rein verbale Ebene hinaus mit einem engagierten Auftritt einzubringen, gebietet daher auch die Beistands- und Fürsorgepflicht. Adressat des Plädoyers ist nicht nur das Gericht, sondern auch der Mandant.
Bei der Ausbildung von Substituten ergeht es mir nicht anders als wohl den meisten schweizerischen Strafverteidigern: Ich habe keine entsprechende «Dos-and-don’ts»-Liste, die ich ihnen abgeben kann. Und ich erinnere mich an keine Abhandlung, die sich mit dem Plädoyer der Verteidigung eingehend beschäftigt. Ich kenne zwar durchaus anregende Bücher zur Rhetorik (vor allem von Gert Ueding) und deutsche Handbücher zur Strafverteidigung (beispielsweise von Stephan Barton, Hans Dahs oder Ulrich Sommer), die auch Bemerkungen zum Plädoyer enthalten. Detaillierte Abhandlungen zur Verteidigungsrede aus der Schweiz sind mir indessen nicht bekannt. Die Literaturrecherche bestätigt dies: In den gängigen Lehrbüchern, Abhandlungen und Kommentaren zur Strafprozessordnung, im plädoyerBuch «Ungeliebte Diener des Rechts» (Hrsg. Hans Baumgartner / René Schuhmacher, Zürich 1999) sowie im Band «Strafverteidigung» der Reihe «Handbücher für die Anwaltspraxis» (Hrsg. Marcel Alexander Niggli / Philippe Weissenberger, Basel 2002) finden sich in Randbemerkungen gewisse Ausführungen dazu. Auch aus Peter Hafters «Strategie und Technik des Zivilprozesses» (Zürich 2011) lässt sich manches übertragen.
Eingehende Abhandlungen zur Gestaltung des Verteidigungsplädoyers in der Schweiz fehlen jedoch, soweit ersichtlich. Dies erstaunt: Denn in der Literatur und Rechtsprechung ist unumstritten, dass bei einer amtlichen oder notwendigen Verteidigung die Verfahrensleitung notfalls einen neuen Anwalt einsetzt, wenn unter offenkundiger Missachtung der Berufspflichten kein oder ein klar ungenügender Parteivortrag erfolgt. Das setzt wiederum einen Konsens über den berufsrechtlichen Mindeststandard bezüglich Inhalt und Form eines Plädoyers voraus.
Damit soll keinesfalls zu engen Vorgaben das Wort geredet werden, denn die Verteidigung bedarf eines beträchtlichen Gestaltungsspielraums, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Eine Gängelei durch die Justiz ist verfehlt. Trotzdem braucht es Anleitungen, gerade für die Ausbildung von Anwaltspraktikanten und als Anhaltspunkt für Berufsanfänger, wie die Verteidigung ihren Vortrag gestalten könnte. Deshalb habe ich für die Substituten einen Leitfaden verfasst, den ich hier in überarbeiteter Fassung zur Diskussion stelle. Wegen der weitgehend fehlenden Veröffentlichungen basieren die folgenden Ausführungen weniger auf der erwähnten Literatur, sondern vor allem auf persönlicher Erfahrung und Einschätzung.
Eine in sich stimmige Verteidigungskonzeption, erarbeitet in partnerschaftlicher Absprache mit dem Klienten, ist die Basis eines guten Plädoyers. Was im Verlauf des Vorverfahrens und/oder des Hauptverfahrens angelegt wurde, findet hier seinen Abschluss. Überraschungen in der Verteidigungsrede sind meistens keine gute Strategie. Erfahrungsgemäss reagieren die Richter nämlich eher positiv, wenn sie wissen, was sie ungefähr erwartet.
Ein gutes Plädoyer ergibt sich daher fast immer aus der Verteidigungsarbeit während des ganzen Verfahrens. Geht es nur um die Strafzumessung eines geständigen Beschuldigten, diskutiert der umsichtige Verteidiger eingehend mit dem Mandanten, was er bei Befragungen im Vorverfahren oder Hauptverfahren zur Person und Motivlage deponiert hat. Im Vortrag wird dies dann aufgegriffen, in (Lebens-)Zusammenhänge eingeordnet und ausgeschmückt. Nach Möglichkeit hat man sich vor der Gerichtsverhandlung mit der Privatklägerschaft bereits über die Höhe der Zivilansprüche geeinigt und sich schriftlich entschuldigt. Das erlaubt der Verteidigung, glaubwürdiger auf die Reue des Beschuldigten hinzuweisen.
Bei einem angestrebten Freispruch ist es oft sinnvoll, bereits im Vorverfahren – etwa im Rahmen von Beweisanträgen oder Haftentlassungsgesuchen – eine Art Gegendarstellung zur Untersuchungshypothese zu platzieren oder zumindest anzutippen. Nach Eingang der Anklage ist in Erwägung zu ziehen, dem Gericht ein «opening statement» als Gegenerklärung einzureichen, um der Anklage vor Beginn des Hauptverfahrens etwas entgegenzusetzen. Eine solche Verteidigungsschrift kann auch in Beweisanträge oder einem Antrag auf Schuldinterlokut verpackt werden.
In der Schweiz ist ein «opening statement» eher unüblich; in Deutschland dagegen gang und gäbe. Meiner Ansicht nach müsste dies auch hierzulande weit mehr gemacht werden. Eine solche Rechtsschrift kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein: In manchen Fällen drängt es sich geradezu auf, eine andere Geschichte als die Anklage vorzubringen; in anderen Fällen kann man hingegen einen schwachen Punkt im Anklagefundament herausgreifen und dies mit einem Beweisantrag verbinden; in wieder anders gelagerten Fällen mag eine summarische oder eingehende Beweiswürdigung bereits in diesem Stadium sinnvoll sein.
Ohne einem kopflosen Verteidigungsaktionismus das Wort zu reden, stünde der helvetischen Anwaltslandschaft ein solches proaktives Vorgehen bisweilen gut an. Oft ist in der Schweiz die Verteidigung nämlich eher zu passiv, abwartend, defensiv und konfliktscheu. Solche Eingaben in einem früheren Stadium als der eigentlichen Verteidigungsrede können einen guten Boden für einen Freispruch bereiten. Das Plädoyer allein reisst jedenfalls das Steuer meistens nicht mehr herum. Ein guter Verteidigungsvortrag wurde daher bereits im Verlauf des Vorverfahrens und nach Eingang der Anklage vorbereitet und gleichsam präformiert.
Die forensischen Kulturen in den Kantonen unterscheiden sich trotz vereinheitlichter Strafprozessordnung nach wie vor beträchtlich. Gerade bei der Verteidigungsrede kommt das besonders zum Ausdruck: Mancherorts wird in Dialekt plädiert, andernorts in Hochdeutsch. In einigen Kantonen stellt die Verteidigung zu Beginn, in anderen Kantonen am Ende der Rede ihre Anträge. Manche kantonalen Gerichte erwarten, dass man eine schriftliche Fassung des Plädoyers zu den Akten reicht, an anderen Orten gibt es schon fast einen Zwang zur freien Rede. Wie präzis und wortgetreu die freien Ausführungen der Verteidigung protokolliert werden, hängt nicht nur von den lokalen Gepflogenheiten, sondern vor allem von der Qualität des Gerichtsschreibers ab – obwohl Anträge wie Begründung zu protokollieren sind. Die Verteidigung ist jedenfalls bei der nachträglichen Lektüre des Protokolls zuweilen erstaunt, was sie gesagt haben soll. Sie tut daher gut daran, das Lokalkolorit und die unterschiedliche Aufzeichnungsqualität zu bedenken.
Für das frei vorgetragene Plädoyer in Dialekt oder Hochdeutsch spricht die Lebendigkeit. Man kann damit auch weit besser auf den Verlauf des Hauptverfahrens und die Stimmung im Gerichtssaal eingehen. Eine Rede ist an sich keine Schreibe. Wer gut frei sprechen kann, soll sich diese Form immer dann überlegen, wenn es stark auf emotionale Momente ankommt. Gerade wenn man beispielsweise eine geständige Beschuldigte vertritt und nur noch die Strafzumessung strittig ist, geht es – trotz präziseren Strafzumessungsregeln als noch vor zwanzig oder dreissig Jahren – nach wie vor im Wesentlichen darum, den Bauch des Richters zu erreichen. Die technische Strafzumessung, Schuldmilderungs- und Strafschärfungsgründe kennt das Gericht aus dem Effeff. Entscheidend ist daher, wie die einzelnen Kriterien bewertet werden, und hierfür spielt die Stimmung im Gerichtssaal eine entscheidende Rolle.
Ziel der Verteidigung bei einem Strafzumessungsplädoyer muss es sein, den Menschen hinter der Rolle des Beschuldigten dem Gericht näherzubringen und ihm ein individuelles Gesicht zu geben. Das Recht enteignet die Farben der Lebenswelt und reduziert diese auf graue, förmliche Tatbestände. Der Verteidigung obliegt es, bei der Strafzumessung mittels einer Erzählung dieses grundlegende rechtliche Moment anzufechten und der einzigartigen Geschichte des Mandanten zum Durchbruch zu verhelfen. Dies gelingt am besten, wenn man besondere Charakterzüge oder aussergewöhnliche Meilensteine in der Biografie, die für den Beschuldigten sprechen und die Tat erklärbar machen, aufzeigen kann, ohne dabei in Gemeinplätze abzugleiten. Das setzt wiederum einen ungezwungenen, mitmenschlichen, nicht juristischen Zugang zur Klientin voraus.
Redet man im Gerichtssaal frei und berücksichtigt die Atmosphäre, kann man auch besser variieren, wie eingehend man etwa den Lebenslauf und die Motivlage der Klientin schildert und was man besonders erwähnt. Bei Strafzumessungsplädoyers kommt es entscheidend auf die Person der Beschuldigten an. Deshalb sollte man darauf eingehen, wie sie sich wenige Minuten vor der Verteidigungsrede präsentiert hat, und dies möglichst vorteilhaft in den Vortrag einfliessen lassen. Selbstverständlich bedarf auch die freie Rede der eingehenden Vorbereitung; die nötige Spontaneität verunmöglicht indessen einen Masterplan. In schlechten Momenten vergreift sich daher auch der sprachgewandte Verteidiger bei der freien Rede unweigerlich etwas in der Tonalität. In den allerbesten Momenten kann dagegen gerade ein frei vorgetragenes Plädoyer den Charakter eines Stücks Belletristik bekommen und berühren: Gerichtsverfahren und die Geschichten in und hinter den Strafakten haben bisweilen durchaus die Qualität eines Dramas.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Recht und Prozesse seit der Antike zentrale literarische Themen sind. Ab und zu die Sachbücher beiseite zu legen, kann daher für die Arbeit der Verteidigung nicht nur anregend, sondern fortbildend sein und verschüttete Zugänge zu Straffällen freischaufeln, denn: «Die Literatur hält ein Arsenal von Anfechtungen bereit, auf die man in den Fechtschulen des Rechts nicht verzichten kann» (Lutz Wingert, Recht zwischen erzählerischer Anschauung und förmlicher Konstruktion, in Andreas Kilcher / Matthias Mahlmann / Daniel Müller Nielaba [Hrsg.], Fechtschulen und phantastische Gärten. Recht und Literatur, Zürich 2013, Seite 91).
Trägt man aber eine komplexe Beweiswürdigung oder schwierige, nicht alltägliche Rechtsstandpunkte vor, sieht es anders aus. Hier halte ich es in aller Regel für einen Fehler, insbesondere in einem erstinstanzlichen Verfahren, keine schriftliche Fassung des Plädoyers abzugeben. Der Preis des schwerfälligeren Vorlesens ist zu bezahlen. Zum einen ist es sinnvoll, damit das Gericht in der Beratungspause nochmals die Ausführungen lesen kann. Denn es ist in solchen Konstellationen illusorisch zu meinen, beim Zuhören nähmen die Richter alles auf. Zum anderen plädiert hier die Verteidigung sehr oft nicht nur für die erste Instanz, sondern auch schon für das Rechtsmittelverfahren. Die zweitinstanzlichen Richter sind auf eine Berufungsverhandlung deutlich besser im Sinne der Verteidigung vorbereitet, wenn sie deren Überlegungen vor erster Instanz möglichst wortgetreu kennen.
Das heisst nicht, dass man sklavisch an den Notizen kleben soll; Bemerkungen ausserhalb der schriftlichen Fassung verträgt es durchaus. Der grösste Teil des Vortrags sollte indes in der Regel in Schriftform zu den Akten gereicht werden. Bei der Redaktion ist darauf zu achten, eine Verteidigungsrede nicht zu einer Rechtsschrift verkommen zu lassen: Die Sätze im mündlichen Vortrag sollten kürzer und einfacher verständlich sein.
Wegen der beschränkten Aufnahmefähigkeit der Zuhörer verträgt es durchaus ein gewisses Mass an Redundanz. Eine Konzentration auf das Wesentliche sowie eine stringente Gedankenführung sind ebenfalls unabdingbar. Daher müsste man als Generalprobe vor dem Spiegel das schriftlich redigierte Plädoyer laut vortragen und es danach nochmals überarbeiten. Weil wir das meist aus Bequemlichkeit oder Scham unterlassen, neigen wir alle berufssozialisationsbedingt dazu, statt einer Rede einen Schriftsatz zu verfassen und im Gerichtssaal beim Ablesen daran zu vertrocknen. Denn nur allzu oft stimmt: «Wenn ein Jurist zur Feder greift, wird die Welt noch ein wenig ärmer» (Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten, Göttingen 2002, Seite 169).
Rechtliche Darlegungen zu Selbstverständlichkeiten sind verfehlt. Banalitäten aus dem Basler Kommentar eingehend vorzutragen, ist ermüdend. Man darf davon ausgehen, dass Richter ihr juristisches Grundhandwerk verstehen. Selbstverständlich ist es wichtig, bei der Redaktion rechtlich minutiös zu arbeiten, beispielsweise zu prüfen, ob Strafanträge gestellt wurden, Prozessvoraussetzungen gegeben sind, das Anklageprinzip eingehalten wurde oder Beweise verwertbar sind. Sofern man irgendeinen rechtlichen Anhaltspunkt findet, mit dem man den Klienten mit guten Gründen gegen die Anklage verteidigen kann, sollte man ihn auch vorbringen. Man kann dem Gericht durchaus auch sonst zeigen, dass man die rechtlichen Hausaufgaben gemacht hat, die einschlägige Literatur und Textbausteine der Justiz kennt und damit sprachliche und rechtliche Anschlussfähigkeit markieren. Man kann zwar die rechtlichen Erwägungen in eine schriftliche Fassung des Vortrags integrieren, sollte jedoch darauf verzichten, diese zu verlesen.
Aussergewöhnliche oder strittige rechtliche Fragen kann und soll man durchaus diskutieren. Gerade mit guten strafprozessualen (formellen) Einwänden gelingt es meist besser als mit materiell-rechtlichen Erwägungen, Gerichte in ihrer vorläufigen Meinung zu erschüttern.
Ein gutes Plädoyer der Verteidigung ist aber nicht eine Art einseitiges Urteil, sondern etwas anderes: Die Verteidigung darf und muss im Gegensatz zum Gericht die Akten einzig aus einer Optik würdigen, mithin thematisch und stilistisch selektiv sein. Die Verteidigung darf durchaus auch Ausführungen machen, über deren Richtigkeit und Wahrheit sie sich nicht vollständig sicher ist. Für die Wirkung der Rede ist es aufgrund nonverbaler Signale indessen von Vorteil, wenn die Verteidigung von ihrem Standpunkt innerlich überzeugt ist. Ein Plädoyer darf deshalb im Gegensatz zu einem Urteil eine persönliche Note, bewusste Pointen und ein gewisses authentisches Pathos enthalten. Auch dosiert eingesetzter Humor hat darin Platz, wobei häufige ironische oder gar sarkastische Bemerkungen verfehlt sind. Es muss auch im Aufbau und in der Sprache nicht einem Gerichtsurteil entsprechen.
Daher drängt sich beispielsweise auf, nicht von der «beschuldigten Person», sondern von Herrn Meier, Frau Huber oder meinem Mandanten / Klienten zu sprechen. Deshalb ist es oft nicht sinnvoll, bei der Sachverhaltserstellung den gerichtsüblichen Aufbau in Beschreibung der Beweise und Beweiswürdigung vorzunehmen, sondern dies in demselben Teil des Vortrags zu kombinieren. Insbesondere die in vielen Gerichtsurteilen verbreitete seitenlange Wiedergabe sämtlicher Zeugenaussagen in indirekter Rede mit darauf folgender Würdigung aller Aussagen zieht in einer Verteidigungsrede einzig nach sich, dass das Gericht nicht mehr zuhören kann, weil es derart langweilig ist.
Oft ist es sinnvoll, im Plädoyer Aussagen eines Zeugen zusammenfassend wiederzugeben; bisweilen drängt sich auch das Zitieren einer Kernstelle auf. So oder anders ist es aber meiner Ansicht nach oft rhetorisch überzeugend, gleich im Anschluss bei jedem Zeugen eine Würdigung vorzunehmen oder bereits «würdigend» die Aussagen wiederzugeben. Selbstverständlich kann es in manchen Fällen auch wirkungsvoll sein, Aussagen kontrastierend gegenüberzustellen, wenn sie sich widersprechen.
Bei der Beweiswürdigung sollte man wenn immer möglich nicht bloss zweifeln und auf den Grundsatz «in dubio pro reo» hinweisen; denn dies reicht oft nicht für einen Freispruch aus, da Gerichte stark dazu neigen, eine Anklage mit einem Schuldspruch zu bestätigen. Sinnvoller ist daher, entweder einen oder mehrere wesentliche Pfeiler des Beweisfundaments regelrecht zu demontieren und/oder eine mögliche (Alternativ-)Geschichte der Ereignisse darzustellen, sich dabei auch mit möglichen belastenden Argumenten auseinanderzusetzen, diese aber zu entkräften versuchen.
Aus psychologischer Sicht ist es für Richter wichtig, nicht nur ein rechtlich richtiges, sondern zugleich ein gerechtes Urteil zu fällen. Die Anwendung des Grundsatzes «im Zweifel für den Angeklagten» fällt wesentlich leichter, wenn man sich eine anschauliche Story vorstellen kann, auch wenn sie von jener in der Anklage abweicht. Die Verteidigung sollte versuchen, das Gericht mit ihrer Erzählung entsprechend dahin zu führen. Der bekannte französische Anwalt Jacques Vergès bringt es auf folgenden, vielleicht etwas pathetischen Punkt: «Als Anwalt an einem Fall zu arbeiten, ist, wie als Schriftsteller an einem Roman zu schreiben. Es geht immer wieder darum, eine Geschichte zu entwickeln, die besser ist als die der anderen» («Wie ein Drama von Shakespeare», Interview, Weltwoche 14/2012, Seite 57).
Hält sich ein Plädoyer an all diese Vorgaben, ist es oft einiges knapper und gleichzeitig wesentlich unterhaltsamer als ein Urteil, das zahlreichen formalen Anforderungen genügen muss.
Die Dauer des Plädoyers orientiert sich in einem gewissen Sinne am Bonmot, wonach man über vieles reden kann, nur nicht über eine Viertelstunde. Ein Plädoyer der Verteidigung ist natürlich notgedrungen meist länger, auch wenn Kürze anzustreben ist. Es ist heikel, eine generelle Maximallänge festzulegen, denn sie hängt zu sehr vom Einzelfall ab. Eine der grössten Fallen bei der Vorbereitung ist, dass man alles sagen will, was man sagen kann; eine Beschränkung auf das Wesentliche ist unumgänglich. Redet man mehr als 45 bis 60 Minuten, bedarf es guter Gründe. Sofern ein Plädoyer mehr als 90 Minuten zu dauern droht, sollte man bei der Vorbereitung ernsthaft Alternativen in Erwägung ziehen und über den Aufbau und das Vorgehen gründlich nachdenken.
Eine bisher nicht allzu verbreitete Variante kann sein, dem Gericht vorgängig eine schriftliche Eingabe einzureichen. Gerade wenn man beispielsweise bei einem geständigen Seriendieb zu den Zivilansprüchen von 26 Privatklägern detailliert mündlich Stellung nehmen müsste, drängt sich auf, dazu eine Eingabe zu verfassen. Das Gericht wird in der Regel erleichtert auf die Verlesung dieser Ausführungen in der mündlichen Rede verzichten und konzentriert sich dann viel besser beim 20-minütigen Strafzumessungsplädoyer.
In sehr grossen, rechtlich komplexen Fällen mit strittigem Sachverhalt bleibt aber das Problem ungelöst; bisweilen dauern Vorträge da mehrere Stunden. Allenfalls drängt es sich auf, dem Gericht vorher eine eingehende, schriftliche Würdigung der Beweise (ausführliches opening statement) einzureichen, mit der Bitte, dass man auf die Verlesung derselben verzichten dürfe. Vor Ort stellt man im mündlichen Vortrag die Sache prägnant dar. Dies geht allerdings nur, wenn an der Verhandlung ausser der Befragung des Beschuldigten keine Beweise abgenommen werden und taktisch nichts dagegen spricht.
Patentrezepte gibt es deshalb nicht; beachten sollte man aber mindestens, dass die Zuhörerschaft bei stundenlangen abgelesenen Vorträgen kaum mehr konzentriert ist. Das Gericht und den Klienten als Adressaten des Vortrags erreicht man dann während der Rede nicht mehr; das narrative Moment des guten Plädoyers geht so verloren. Zur Schadensbegrenzung sollte die Verteidigung zumindest alle 45 bis 60 Minuten ein paar Minuten Pause beantragen, um eine minimale Konzentration sicherzustellen; es kommt nicht von ungefähr, dass eine Schulstunde 45 Minuten dauert.
In manchen Kantonen erübrigt sich die Auseinandersetzung mit der Länge des Parteivortrags der Verteidigung ohnehin, da die Gerichte die anwaltliche Redezeit auf ein paar Minuten beschränken, was sich offenbar mit Bundesrecht vereinbaren lässt (Bundesgerichtsurteil 6B_726/2011 vom 15. März 2012). Zu Recht hält der Freiburger Strafrechtslehrer Christof Riedo fest, dass dies eine Geringschätzung der Verteidigung signalisiere (plädoyer 1/13, Seite 82).
Auch aus anderen Gründen kann sich die Verteidigung bisweilen nicht des Eindrucks erwehren, die Justiz messe ihrer Rede keine allzu grosse Bedeutung bei. Dies zeigt sich beispielsweise bei den Anträgen auf ein sogenanntes Schuldinterlokut. Für die Verteidigung ist es oft eine knifflige Frage, ob sie Eventualanträge stellen soll. Insbesondere die Frage, ob sie sich bei einem Freispruchplädoyer zu einer allfälligen Strafzumessung äussern soll, wird kontrovers diskutiert; denn Ausführungen «für den Fall, dass…» stehen immer im Widerspruch zum Hauptstandpunkt und drohen diesen zu unterminieren.
Die Verteidigung kann dieser Situation grundsätzlich zu begegnen versuchen, indem sie einen Antrag auf Schuldinterlokut stellt, wenn die Anklage nicht anerkannt wird. Dies zu unterlassen, halte ich in vielen Konstellationen geradezu für einen Kunstfehler, vor allem wenn eine Freiheitsstrafe droht. Die erstinstanzlichen Gerichte verweigern allerdings vielfach (sogar manchmal bei einer massiven Strafdrohung) die Zweiteilung der Hauptverhandlung. Es zieht aber keinen zeitlichen Mehraufwand nach sich, wenn die Verteidigung beim Antrag zusichert, unmittelbar nach einer Beratung über Schuld und Unschuld einen allfälligen Vortrag zur Strafzumessung zu halten. Die Verweigerung des Schuldinterlokuts schwächt dagegen umgekehrt die Verteidigungsrechte deutlich, weil man sich in einem Freispruchplädoyer für oder gegen Eventualanträge entscheiden muss und so oder anders den Klienteninteressen potenziell zuwiderhandelt (Verteidigungsdilemma). Die verbreitete Praxis zeigt eine Geringschätzung der Verteidigungs- und Beschuldigtenrechte und kann sich auf keine guten rechtlichen Gründe stützen; zumal in der Literatur strittig ist, ob die Verteidigung unter Umständen sogar einen Eventualstandpunkt vortragen muss.
Sofern der Antrag auf Schuldinterlokut abgelehnt wird, gibt es daher letztlich keine befriedigende Lösung: Manche Kollegen sprechen sich dezidiert gegen jegliche Eventualanträge in Freispruchplädoyers aus. Andere «verpacken» Strafzumessungsgründe ins Freispruchplädoyer, etwa in die Erwägungen zur persönlichen Glaubwürdigkeit einer Beschuldigten. Dritte äussern sich zum Strafmass in einer Art Stellungnahme zu den staatsanwaltschaftlichen Ausführungen. Vierte vertrauen dem Differenzierungsvermögen des Gerichts und stellen Eventualanträge. Und sehr viele Kollegen handhaben dies situativ. Ein Kriterium ist beispielsweise: Je milder der staatsanwaltschaftliche Antrag nach Einschätzung der Verteidigung ist, desto weniger wird zur Zumessung plädiert oder ganz darauf verzichtet, weil man nicht mehr viel rausholen kann. Ein anderes Motiv ist: Hält man einen Freispruch für wahrscheinlich, wird auf Eventualanträge ganz verzichtet, um keine falschen Signale zu senden.
Eine weitere taktische Frage ist, ob man auf Punkte, die gegen den eigenen Klienten sprechen, eingehen oder sie ignorieren soll. Sofern offenkundig Negatives aus den Akten hervorgeht oder von der Staatsanwaltschaft erwähnt worden ist, halte ich es meist für besser, darauf einzugehen, dies aber zu relativieren. Beispielsweise: «Das Verschulden meines Mandanten soll zwar nicht bagatellisiert werden; relativierend ist zu erwähnen, dass ...» Oder: «Die Vorstrafe meines Klienten kann nicht negiert werden; es ist aber zu bemerken, dass sie nur teilweise einschlägig ist und lange zurückliegt.» Oder: «Auf den ersten Blick könnte die Aussage des Zeugen XY gegen meinen Mandanten sprechen; bei näherer Betrachtung ergibt sich allerdings, dass …»
Bei der Würdigung von Zeugenaussagen, insbesondere von (vermeintlichen) Opfern, ist jedes «bashing» verheerend; Kritik an Zeugenaussagen wie überdies auch an der Arbeit von Staatsanwälten oder Polizeibeamten ist zwar durchaus dezidiert, aber auch stets sachlich vorzutragen. Auch eine dozierende Tonlage oder ein überbestimmtes Auftreten sind zu vermeiden, will man nicht unerwünschte Gegenreaktionen provozieren. Umgekehrt sollte die Verteidigung keinesfalls gegenüber Staatsanwaltschaft oder Gericht anbiedernd oder gar devot auftreten. Anreden wie «hohes Gericht» statt «Sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrte Damen und Herren Bezirksrichter» oder unterwürfiges Bitten sind verfehlt.
Plädieren ist Massarbeit, deren Vorbereitung letztlich vom persönlichen Arbeitsstil abhängt. Heikel ist, zu spät zu beginnen, ohne Konzept loszuschreiben oder gar planlos draufloszureden. Eine gute Verteidigungsrede glänzt nicht primär durch eloquente Brillanz, sondern setzt zunächst vor allem eine präzise Lektüre der Anklage und eine akribische Auseinandersetzung mit sämtlichen Untersuchungsakten und den rechtlichen Fragen voraus; ein guter Parteivortrag der Verteidigung ist damit vor allem echte Knochenarbeit. Meines Erachtens hilft es zur Strukturierung bei der Vorbereitung, wenn man sich an die auch aus sozialpsychologischer Sicht bewährte Dreiteilung des Aufbaus hält: Das Plädoyer sollte mit einer griffigen Einleitung beginnen und mit einem klaren Appell enden, dazwischen sollte man möglichst konzis seine Verteidigungsthesen dartun. Es kann aber gute Gründe geben, einen völlig anderen Aufbau zu wählen. Denn es lässt sich nicht abstrakt bestimmen, was in einem konkreten Einzelfall das ordentliche vom guten oder gar sehr guten Plädoyer unterscheidet.
Auch der erfahrenen, fachlich und sprachlich guten Verteidigung gelingt längst nicht in jedem Fall eine vorzügliche Verteidigungsrede. Denn: «Die besten Plädoyers sind solitäre Kunstwerke, die sich der Schematisierung entziehen» (Ulrich Sommer, Effektive Strafverteidigung, Köln 2011, Seite 521). Zu viele Tipps und Tricks, Schemata und Stilanleitungen verhindern eher eine geistreiche, phantasievolle Herangehensweise. Damit soll nicht einer gesuchten Originalität, einem hohlen Pathos oder gar Manierismus das Wort geredet werden: Beim eher konservativen Charakter des Schweizers im Allgemeinen und des schweizerischen Richters im Besonderen (Arthur Meier-Hayoz, Artikel 4, in: Berner Kommentar, Einleitung, Artikel 1–10, Bern 1966, Seite 432) löst dies vor allem Abwehrreflexe aus. Ein bisschen farbiger und blumiger als bis anhin dürfte das Verteidigungsplädoyer im oft eher grauen helvetischen Gerichtsalltag indessen schon sein.