In der Schweiz wird mehr Vermögen geerbt als aufgebaut: Gemäss einer Studie des Berner Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass) von 2006 wurden schon damals 28,5 Mil liarden Franken pro Jahr vererbt. Zählt man die Schenkungen von schätzungsweise 9,5 Milliarden Franken hinzu, belaufen sich die unentgeltlichen Zuwendungen auf insgesamt 38 Milliarden Franken. Die durchschnittliche Erbschaft beträgt gemäss Studie 456000 Franken, jeder Erbe erhält im Schnitt 178700 Franken.
Das Geld ist sehr ungleich verteilt - so ungleich wie die Vermögensstruktur in der Schweiz. Das 2008 erschienene Buch «Reichtum ohne Leistung - die Feudalisierung der Schweiz» (Verlag Rüegger) zeigt das Ausmass der Ungleichheit der Verteilung der Vermögen auf: So besitzt zum Beispiel im Kanton Zürich das reichste Promille der Steuerpflichtigen gleich viel Vermögen wie 86 Prozent der ärmeren Bevölkerung.
Zu wenig flexibel für kinderlose Paare
Das geltende Schweizer Erbrecht sorgt dafür, dass sich daran nicht viel ändert. Die hohen Pflichtteile etwa der Nachkommen (75 Prozent) haben zur Folge, dass das Geld auch dann weitgehend in der Familie bleibt, wenn der Erblasser sein Vermögen lieber anders verteilt hätte. Die Einschränkung der Verfügungsmacht ist in der Schweiz grösser als anderswo: So kennt Deutschland tiefere Pflichtteile für die Nachkommen, Grossbritannien in der Regel gar keine (siehe Übersicht Seite 12).
Das schweizerische Erbrecht ist in den vergangenen hundert Jahren kaum geändert worden. Kein Wunder, geht es noch immer vom Familienbild des 19. Jahrhunderts aus. Für die wachsende Zahl von Konkubinatspaaren, Patchwork- oder Zweitfamilien bietet es keine flexible Lösung an. Auch auf verheiratete Paare ohne Kinder ist es nicht zugeschnitten: Laien wissen kaum, dass bei Fehlen von Nachwuchs die Eltern zwingend miterben. Stiefkinder kennt das geltende Erbrecht nicht.
Immerhin: Privatrechtsprofessorinnen und -professoren sind sich einig, dass das Erbrecht des Zivilgesetzbuches revidiert werden muss. Das ist das Ergebnis von Gesprächen, die plädoyer mit Regina Aebi-Müller von der Universität Luzern, Peter Breitschmid von der Universität Zürich, Roland Fankhauser, Assistenzprofessor der Universität Basel, und Alexandra Rumo-Jungo von der Universität Freiburg führte.
Den dringendsten Handlungsbedarf sehen die vier Experten in der Anerkennung sogenannt atypischer Familienverhältnisse. Die gesetzliche Erbenstellung wollen sie nicht nur Verheirateten und bei eingetragener Partnerschaft gewähren: Auch nicht formalisierte Lebensgemeinschaften müssten im Erbrecht Eingang finden. «Es geht nicht darum, das ‹bundesbernische› Modell einer ‹Beamten-Ehe› abzuschaffen - es ist dies nur die weltliche Alternative zur ‹heiligen römischen Ehe›) -, aber es sollten andere stabile Paarbeziehungen ebenfalls einen gewissen rechtlichen Schutz erfahren, zum Beispiel bei langjährigen Versorgungsbeziehungen oder gemeinsamen Kindern, im Grunde nach Kriterien, die denen von Art. 125 ZGB gar nicht unähnlich sind.»
Nichteheliche Partner besser einbeziehen
Fankhauser will künftig dem Einbezug nichtehelicher Partner und Stiefkinder besondere Beachtung schenken. «Partner in nichtehelichen Lebensgemeinschaften müssen entweder durch ein gesetzliches Erbrecht oder durch eine einheitliche steuerrechtliche Entlastung berücksichtigt werden», meint er. Bei der Korrektur des Familienkreises würde Frankhauser einen weiteren Aspekt einschliessen: Nicht erst die rechtskräftige Scheidung, sondern bereits die sich nach aussen manifestierende Ehekrise müsste einen Einfluss auf das Ehegattenerbrecht haben.
Die starke Stellung des Ehegatten sei diesfalls vor allem dann stossend, wenn es an Nachkommen fehle, weil ein Versorgungsbedarf dann eher zu verneinen sei. Das Gleiche gelte für den Fall, dass keine minderjährigen Kinder mehr betreut würden.
Breitschmid weist auf mögliche Folgen eines grösseren Kreises von möglichen Erben hin: «Es kann zu Erbschleicherei oder anderen Interventionen und damit zu einer unfairen Partizipation kommen.» Rumo-Jungo schliesst sich an: Sobald andere soziale Bindungen berücksichtigt würden, komme das Element des Vorübergehenden ins Spiel: Um Missbrauchsfällen vorzubeugen, brauche es wohl ein «Element der Dauerhaftigkeit». Sonst sei man mit dem klassischen Fall der Witwe konfrontiert, die heute den Pfleger, morgen denAnwalt und übermorgen den Arzt begünstige. Aebi-Müller sieht das Problem allenfalls durch ein Verbot wie in Frankreich gelöst, wonach gewisse Personengruppen, etwa Ärzte, nicht Erben oder Vermächtnisnehmer sein können.
Nicht nur das Familienverständnis hat sich gewandelt. Die demografische Entwicklung hat dazu geführt, dass statt jungen Familien vor allem 50- bis 64-Jährige erben. Sie benötigen die Mittel nicht mehr für Familienplanung, den Kauf von Wohneigentum oder den Schritt in die Selbständigkeit. «Das Geld braucht man vorher», stellt Breitschmid fest. Eigentlich wäre, sagt er, die Finanzierung der Kinder der heutigen gesetzlichen Erben angesagt.
Schweizer Pflichtteile sind sehr starr
Die vier Privatrechtler sind sich einig, dass die Pflichtteile überdacht werden müssen - nicht aber abgeschafft. Fankhauser hält gewisse Argumente der Abschaffungsgegner für überbewertet. So sei es nicht bewiesen, dass die heutige Pflichtteilsregelung Konflikte reduziere. Vielleicht fördere sie Streitigkeiten erst recht. Diesbezüglich verweist er auf eine Äusserung Eugen Hubers: «Die Frage ist weniger, wie die Regelung aus gestaltet ist, sondern dass es eine gibt.» Eine Flexibilisierung der Pflichtteile sei aber klar nötig. So stünden etwa die Pflichtteile der Eltern einer Begünstigung des Konkubinatspartners im Wege.
Auch Breitschmid ist gegen eine völlige Abschaffung des Pflichtteilsrechts. Das Erbrecht sei kein staatliches Zwangskorsett. Es gebe dem Erblasser die Gewissheit, dass eine Ordnung bestehe, wenn er nichts unternehme.
Aebi-Müller verweist auf ein rechtsvergleichendes Erbrecht-Seminar mit Kollegen aus Österreich, Deutschland und Italien. Es habe gezeigt, dass die Schweiz im Vergleich zu den deutschsprachigen Nachbarländern das restriktivste Pflichtteilsrecht kenne.
Sie spreche von einem Paradigmenwechsel der Gesellschaft, den die Schweiz bisher gesetzlich nicht nachvollzogen habe. Heute stünden nicht mehr die Ausstattung des Erben mit einer Erwerbsgrundlage und die Versorgung im Vordergrund. Für das Fortkommen der Nachkommen sei die gute Aus bildung ausschlaggebender; dem Schutz vorsorgebedürftiger Hinterbliebener tragen weitgehend die AHV und die berufliche Vorsorge Rechnung. Auch Rumo-Jungo will die Pflichtteile nicht abschaffen: «Es würde einiges vereinfachen, aber wir sind noch zu sehr in der Tradition verhaftet. Und diese will einen gewissen Schutz der Hinterbliebenen, vor allem jener, die zur Vermögensbildung beigetragen haben, also des Ehegatten.»
Aebi-Müller sieht keine rechtspolitische Begründung für die Einschränkung der Testierfreiheit des Erblassers. «Es fehlt an der Unterscheidung zwischen ererbtem und erarbeitetem Geld.» Anders, wenn Geld, Schmuck oder ein Haus von den Grosseltern vererbt worden sei. Zwischen erarbeitetem und angespartem Vermögen müsse de lege ferenda differenziert werden. Das System der Pflichtteile beruhe auf dem Gedanken des Familienvermögens, das man über Generationen weitertrage. Heute werde aber meistens Vermögen verteilt, das in der Nachkriegszeit vom Erblasser erarbeitet worden sei. Auch Rumo-Jungo sieht keinen grundsätzlichen Anspruch der Kinder auf das Geld der Eltern. «Diese Einstellung erscheint mir fragwürdig.» Schliesslich pflege heutzutage umgekehrt auch fast kein Kind mehr seine Eltern.
Spanisches Modell mit zusätzlicher Quote
Fankhauser kritisiert einen weiteren Punkt: Es sei fragwürdig, dass jedes Kind unabhängig von seinen Bedürfnissen den gleichen Pflichtteil erhalte. Er verweist auf Studien, die nachweisen, dass Eltern ihre Kinder im Testament zu gleichen Teilen berücksichtigen. Eine lebzeitige Zuwendung hingegen erfolge eher nach den individuellen Bedürfnissen: «Dies zeigt, dass Eltern auf die Bedürfnisse einzelner Kinder eingingen, wenn sie könnten.» Breitschmid möchte die verfügbare Quote ebenfalls liberalisieren - das heisst an «emotionale oder spezifische biografische Anliegen» anpassen. «Man könnte eine nominelle Grenze einführen. Oder nach spanischem Modell vorgehen: Die mejora kennt nicht nur den Pflichtteil der Kinder, sondern auch eine zusätzliche verfügbare Quote, die unter den Pflichtteils erben frei verteilt werden kann.» Dies schaffe bessere Bedingungen für eine Unternehmensnachfolge oder die Privilegierung einzelner Pflichtteilserben.
Wo eine gesetzliche Regelung zu stark einschränkt, helfen sich viele mit Gesetzesumgehungen. Aebi-Müller: «Die Erblasser reizen die heutigen Möglichkeiten durch Erbverträge aus. Oder sie weichen auf andere Rechtsordnungen aus, wenn ein ausländischer Anknüpfungspunkt gegeben ist.»
Das Pflichtteilsrecht in anderen Ländern:
- Deutschland: Familienangehörige haben ein Pflichtteilsrecht. Nachkommen, Eltern und Ehegatten des Erblassers erhalten je mindestens die Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils.
- Österreich: Pflichtteilsberechtigt sind der Ehegatte, die Nachkommen und die Eltern, sofern es an Nachkommen fehlt. Der Pflichtteil der Nachkommen und des Ehegatten beträgt die Hälfte und jener der Vorfahren ein Drittel dessen, was die betreffenden Personen bei gesetzlicher Erbfolge bekommen hätten. Zulässig ist eine Pflichtteilsminderung um die Hälfte, wenn zwischen dem Kind und dem Erblasser nie ein nahes Verhältnis bestand.
- Frankreich: Der Pflichtteil steht den Kindern und anderen Nachkommen des Erblassers und seinen Verwandten in aufsteigender Linie zu. Dem überlebenden Ehegatten wird ein Pflichtteilsrecht in der Höhe eines Viertels des Nachlasses gewährt, wenn keine Kinder und keine Vorfahren vorhanden sind. Die Höhe des Pflichtteils der Kinder variiert je nach Familienkonstellation und beträgt zwischen der Hälfte und drei Vierteln des Nachlasses.
- Italien: Folgenden Personen steht ein Pflichtteilsanspruch zu: dem Ehegatten, den ehelichen und nichtehe-lichen Kindern sowie den Vorfahren, sofern keine Nachkommen vorhanden sind. Die Höhe der jeweiligen Pflichtteile variiert, ähnlich wie in Frankreich, je nach Anzahl der Kinder: Dem überlebenden Ehegatten steht beispielsweise, je nach Anzahl Kinder, die Hälfte, ein Drittel oder nur ein Viertel der Erbmasse zu. Auch der Pflichtteil der Kinder und Vorfahren ist je nach «Familienkonstellation» zu berechnen und kann für alle Kinder zusammen zwischen einem Drittel und zwei Dritteln des Nachlasses variieren; jener des überlebenden Ehegatten zwischen einem Viertel und der Hälfte des Nachlasses.
- England: Hier gibt es keinen obligatorischen Pflichtteil. Jedoch können in Ausnahmefällen gewisse Personen, die zur Zeit des Erbfalls vom Erblasser abhängig waren und die sich durch die Verfügung des Erblassers übergangen fühlen, vor Gericht die Zahlung einer Summe beantragen. Dazu gehören vor allem der überlebende Ehegatte, der Lebensgefährte des Erblassers, der in den letzten zwei Jahren vor dem Tod mit dem Erblasser zusammengelebt hat, und die Kinder. Der Richter entscheidet aufgrund der konkreten Situation, wie viel eine Person erhält. Ein behindertes Kind hat grössere Chancen, etwas zu bekommen, als ein gesundes. Die Testierfreiheit wird ausserhalb des Pflichtteilsrechts durch das Verbot des Akkumulierens beschränkt. Der Erb- lasser kann nicht darauf bestehen, dass das Einkommen aus der Erbschaft dem Kapital hinzugefügt wird und sich in etlichen Jahren enorme Summen anhäufen. Damit sind für alle Ewigkeit gültige Treuhandschaften ausgeschlossen.