Eine Umfrage bei über 1300 Angestellten der öffentlichen amerikanischen Verwaltung bringt es an den Tag: Rund ein Drittel aller Arbeitnehmenden entdeckt Missstände am Arbeitsplatz. Steuerbetrug, Fälschung der Buchhaltung, Verletzung von Umweltschutzbestimmungen oder Missachtung von Sicherheitsauflagen (zum Beispiel bei Kernkraftwerken oder im Flugverkehr) gehören zu den typischen Delikten. Aus Angst vor Repressalien wagt jedoch nur die Hälfte der Betroffenen, ihre Beobachtungen zu melden.
Die Zurückhaltung ist verständlich, denn Personen, die Missstände am Arbeitsplatz aufdecken – Whistleblower genannt – gehen ein grosses Risiko ein. Sie werden entlassen (90 Prozent), juristischen Repressalien ausgesetzt, in der Beförderung behindert, zum Psychiater geschickt oder verleumdet. Frei nach dem Motto «Ignore the message, shoot the messenger».
Diese Diskriminierungen sind fatal; denn viele Straftaten kommen nur dank «Insidern» überhaupt erst ans Tageslicht. Klassisches Beispiel sind Korruptionsdelikte: Jede an einem Bestechungsfall beteiligte Person hat grosses Interesse an absoluter Geheimhaltung, da sich alle involvierten Parteien im illegalen Bereich bewegen. Durchbricht niemand dieses Schweigekartell, bleiben solche Aktivitäten oft unentdeckt.
Ein besonders rauer Wind weht den Whistleblowern in der Schweiz entgegen. Anders als in den USA, England, in Südafrika, Neuseeland oder Südkorea gibt es hierzulande keinen rechtlichen Schutz. Im Gegenteil: Die Sensibilisierung ist gering und Whistleblower gelten als Nestbeschmutzer.
In der Bundesverwaltung gibt es zwar eine offizielle Anlaufstelle für Whistleblower, die Eidgenössische Finanzkontrolle, aber diese Tatsache ist der Zielgruppe, dem Bundespersonal, kaum bekannt.
Anonyme Meldungen sind unmöglich, ebenso wenig wie Hinweise auf Missstände nicht finanzieller Natur. Der Verhaltenskodex der allgemeinen Bundesverwaltung konkretisiert zwar die berufsethischen Anforderungen an das Bundespersonal, enthält aber keinerlei Bestimmungen zu Whistleblowing.
Anders in den USA: Dort bietet zum Beispiel der False Claims Act Bürgerinnen und Bürgern sogar finanzielle Anreize, Missstände anzuzeigen, die dem Staat schaden. Privatpersonen, die von möglicherweise illegalen Umtrieben Kenntnis erhalten, können anstelle des Staates klagen. Im Erfolgsfall erhalten sie 15 bis 30 Prozent der eingeklagten Deliktssumme. Ausserdem ist bei den amerikanischen Bundesbehörden die Einrichtung von Whistleblowing-Meldedispositiven üblich. Mit Erfolg. Das amerikanische Verteidigungsministerium liess zum Beispiel vermelden, dank Anrufen auf die Whistleblower-Hotline zahlreiche Fälle von Misswirtschaft aufgedeckt und illegale Praktiken beseitigt zu haben. Allein 1997 hätten so beinahe 400 Millionen Dollar gespart werden können.
Davon kann die Schweizer Bundesverwaltung nur träumen. Die Aufdeckungsquote von Korruption (Bestechung, Klimapflege und Anfütterung) liegt laut einer Untersuchung des Freiburger Strafrechtsprofessors Nicolas Queloz praktisch bei null.
In der Privatwirtschaft muss für die Schweiz zwischen grossen, international tätigen Unternehmen sowie kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) unterschieden werden. Erstere haben mehrheitlich Meldedispositive für Whistleblower eingerichtet, weil sie höheren internationalen Standards genügen müssen.
So kommen die Whistleblowing-Bestimmungen des amerikanischen Sarbanes-Oxley Act für alle an einer US-Börse kotierten Unternehmen zur Anwendung – auch auf die entsprechenden schweizerischen Gesellschaften. Bei den meisten KMU sind Codes of Conduct oder interne Anlaufstellen jedoch dünn gesät. Eine Umfrage des Wirtschaftsprüfers PriceWaterhouseCoopers aus dem Jahr 2003 besagt, dass 24 Prozent der Schweizer Unternehmen Whistleblowing-Dispositive eingerichtet haben. Dieser Wert liegt zwar nur leicht unter dem weltweiten Durchschnitt (27 Prozent), ist aber massiv tiefer als in England (52 Prozent) und gar in den USA (fast 100 Prozent).
Dass Whistleblower in der Schweiz einen besonders schweren Stand haben, hängt auch damit zusammen, dass die Rechtsordnung keine speziellen Schutzbestimmungen kennt. Es kommen die üblichen Regeln des Arbeitsrechts zur Anwendung, von denen einige legales und gerechtfertigtes Whistleblowing nicht nur nicht fördern, sondern geradezu verunmöglichen:
- Aufgrund der Interessenwahrungspflicht (abgeleitet aus der allgemeinen Treuepflicht in Artikel 321a Absatz 1 OR) dürfen Handlungen der Arbeitnehmenden die (finanziellen) Interessen des Arbeitgebers nicht gefährden. Strafanzeigen oder Hinweise an die Öffentlichkeit gehen indes oft mit einer Rufschädigung des Unternehmens und somit einer finanziellen Einbusse einher.
- Die Geheimhaltungspflicht (Artikel 321a Absatz 4 OR) verbietet den Arbeitnehmenden, Informationen, von denen sie im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses Kenntnis erlangt haben und die der Arbeitgeber geheim halten will, an Drittpersonen weiterzuleiten. Die Geheimhaltungspflicht umfasst insbesondere auch Hinweise über strafbare Handlungen des Arbeitgebers.
Von diesen Pflichten befreit sind Arbeitnehmende nur, wenn das Interesse der Öffentlichkeit an Aufdeckung grösser ist als dasjenige des Arbeitgebers an Interessenwahrung oder Geheimhaltung. Wann dies genau der Fall ist, geht aus der herrschenden Lehre und Praxis nicht hervor. Aufgrund dieser Rechtsunsicherheit ist äusserst schwierig abzuschätzen, welche Delikte aufgedeckt werden dürfen. Zudem ist nur ungenügend geregelt, an welche Instanz Meldung erstattet werden muss.
Gemäss allgemeiner Treuepflicht Artikel 321a Absatz 1 OR muss zuerst der Arbeitgeber informiert werden. Nur wenn dieser nicht reagiert, kann eine externe Instanz wie die Wettbewerbskommission, die Steuer- oder Strafverfolgungsbehörde benachrichtigt werden. Falls diese untätig bleiben, ist als letzter Schritt ein Hinweis an die Medien und an die Öffentlichkeit zulässig.
Ungeklärt auch die Frage, in welchem Fall die Arbeitnehmenden von dieser Reihenfolge abweichen dürfen. Dies ist problematisch, wenn sie anzunehmen haben, dass der Arbeitgeber in die illegalen Handlungen involviert war oder zumindest davon Kenntnis hatte. In solchen Fällen sollte ein direkter Hinweis an eine externe Stelle zulässig sein.
Um in der Schweiz legales Whistleblowing zu ermöglichen, muss sowohl in der Privatwirtschaft als auch in der öffentlichen Verwaltung umgedacht werden. Whistleblower sind keine Verräterinnen oder Denunzianten, sondern Personen, die auf Missstände hinweisen und dem Arbeitgeber als Frühwarnsystem einen wichtigen Dienst erweisen. Der Gesetzgeber muss das rechtliche Instrumentarium bereitstellen und klar regeln, welche Delikte aufgedeckt werden dürfen und an welche Instanz ein Hinweis erfolgen darf.
Literaturhinweis: Zora Ledergerber, Whistleblowing unter dem Aspekt der Korruptionsbekämpfung, Stämpfli Verlag AG, Bern. Erscheint im Sommer 2005.