Letztes Jahr hielten sich im Kanton Zürich 713 abgewiesene Asylbewerber auf. Seit Anfang 2016 wurden gegen 368 von ihnen sogenannte Eingrenzungsverfügungen erlassen. Beispiel einer Verfügung vom Juli 2016: «X. darf das Gebiet der Gemeinde Adliswil nicht verlassen. Die Eingrenzung wird ab Eröffnung der Verfügung auf zwei Jahre befristet. Ausnahmebewilligungen für zwingende Reisen ausserhalb des Rayons sind vorgängig beim Migrationsamt des Kantons Zürich schriftlich einzuholen.»
Basis dieser Verfügungen ist Artikel 74 Absatz 1 Buchstabe b des schweizerischen Ausländergesetzes. Demnach kann die zuständige kantonale Behörde einer Person, gegen die ein rechtskräftiger Weg- oder Ausweisungsentscheid vorliegt, die Auflage machen, ein ihr zugewiesenes Gebiet nicht zu verlassen oder ein bestimmtes Gebiet nicht zu betreten. Die Voraussetzungen: Konkrete Anzeichen lassen befürchten, dass die betroffene Person nicht innerhalb der Ausreisefrist ausreisen wird oder die ihr angesetzte Ausreisefrist nicht eingehalten hat. Die Missachtung einer Ein- oder Ausgrenzung kann laut Gesetz mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe geahndet werden.
Zwei Jahre lang keine sozialen Kontakte
Der Kanton Zürich zählt 168 politische Gemeinden. Die meisten abgewiesenen Asylsuchenden leben in Notunterkünften in Gemeinden wie Lindau, Urdorf, Embrach, Adliswil, Uster und Glattbrugg. Jurist Samuel Häberli von der «Freiplatzaktion» fragt rhetorisch: «Was, wenn man eine Partnerin hat, die ausserhalb der Gemeinde lebt? Was, wenn man regelmässig eine Kirche oder Moschee besuchen will? Oder seinen Anwalt?» In all diesen Fällen heisse es beim Zürcher Migrationsamt: «Eine Ausnahmebewilligung beantragen.»
Nach Häberlis Meinung «wird die Gemeindegrenze so zur Gefängnismauer». Das bedeute für die betroffenen Personen, dass sie zwei Jahre keine sozialen Kontakte und keine Bildungsangebote wahrnehmen können. Laut Bundesgericht müssten aber bestimmte Grundbedürfnisse auch von Eingegrenzten abgedeckt werden können. Dazu gehören insbesondere Einkäufe, familiäre und soziale Kontakte sowie die Praktizierung des Glaubens (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_1044/2012 vom 5.11.2012, E. 3.3).
Eine plädoyer-Umfrage in diversen Kantonen zeigt: Die Praxis im Kanton Zürich unter dem SP-Regierungsrat Mario Fehr dürfte in der Schweiz einzigartig sein. Die Kantone Bern, Basel-Stadt und St. Gallen erliessen letztes Jahr keine einzige Eingrenzungsverfügung. Im Kanton Thurgau waren es 9 Fälle, in Luzern 23 (siehe Tabelle Seite 11).
Laut Camillus Guhl, Leiter des Thurgauer Migrationsamts, werden abgewiesene Asylsuchende nur dann in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, wenn dies ein geeignetes Mittel im Zusammenhang mit der Organisation der Ausreise sei oder zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötig.
Auch der Kanton St. Gallen greift nur im Einzelfall zu solchen Massnahmen: Laut Jürg Eberle, dem Leiter des St. Galler Migrationsamts, erfolgten Eingrenzungen «nur bei Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung». Genau gleich nimmt das Justizdepartement des Kantons Basel-Stadt Stellung.
Ein Eingriff in die Grundrechte
Eine Eingrenzung ist gemäss Lehre und Rechtsprechung ein Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Bewegungsfreiheit einer Person. Laut Verfassung müssen Grundrechtseinschränkungen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig sein.
Laut einem Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts von Ende 2016 verträgt sich eine Eingrenzung auf die relativ kleine Gemeinde Urdorf nicht mit dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz. Als angemessen erschien dem Gericht die Ausdehnung auf den ganzen Bezirk Dietikon (mit rund 90 000 Einwohnern) sowie auf den an die Standortgemeinde Urdorf angrenzenden Kreis 9 der Stadt Zürich mit rund 45 000 Einwohnern. «Beide Bereiche verfügen über Zentrumsgebiete, welche dem Beschwerdeführer eine deutlich grössere Freiheit einräumen und deshalb einen angemessen geringeren Eingriff in das Privatleben und die Bewegungsfreiheit bedeuten», heisst es im Urteil (VB.2016.00538 vom 13.10.2016).
Druckwirkung allein reicht als Begründung nicht aus
Offen blieb nach diesem Urteil, ob eine Eingrenzung allein als Druckmittel zur Durchsetzung der Ausreisepflicht eingesetzt werden kann. Die Antwort auf diese Frage gab das Zürcher Verwaltungsgericht Mitte Februar: Es hob zwei Eingrenzungen auf, weil die Ausschaffung der betroffenen Personen «als nicht möglich zu qualifizieren» sei.
Das Urteil hält fest: «Erscheint eine Ausschaffung als unmöglich, so ist die Eingrenzung nach Artikel 74 des Ausländergesetzes kein geeignetes Mittel zur Vorbereitung und Durchführung der Ausschaffung. Die Geeignetheit einer Anordnung ist indes eine Voraussetzung, um eine Anordnung als verhältnis- und rechtmässig qualifizieren zu können: Eine Massnahme muss geeignet sein, um das damit verfolgte Ziel erreichen zu können (BGE 142 II 1, E. 2.3). Auch wenn die Eingrenzung, wie das Bundesgericht ausführt, eine gewisse Druckwirkung zur Durchsetzung der Ausreisepflicht entfalten darf, so kann sich das Ziel der Massnahme doch nicht alleine darin erschöpfen» (Urteil VB.2016.00702 vom 14.2.2017).
Daniel Moeckli, Professor an der Universität Zürich, bekräftigt die Argumentation des Verwaltungsgerichts: Eine Eingrenzung komme erst in Betracht, wenn konkrete Anzeichen bestehen, dass die Person untertauchen könnte. «Es stellt sich also die Frage, ob erstens eine Ausschaffung überhaupt möglich ist, und zweitens, ob eine Untertauchgefahr besteht.» Zudem müsse die Eingrenzung ein verhältnismässiges Mittel sein. Sicher nicht rechtmässig ist es laut Moeckli, «einfach gegen alle abgewiesenen Asylsuchenden Eingrenzungen zu verfügen».
Artikel 74 Absatz 1 Buchstabe b AuG verfolge nicht den Zweck, weggewiesene Personen zur Ausreise zu motivieren. «Zwar wird eine Verschlechterung der Lebensumstände in Kauf genommen, aber der primäre Zweck ist die Bekämpfung der Untertauchgefahr und nicht die Druckausübung.»
Der Zürcher Anwalt Peter Nideröst kritisiert, das mit den Eingrenzungen verfolgte Ziel werde gar nicht erreicht – nämlich betroffene Personen zur Ausreise zu drängen: «Was bleibt, ist eine menschenverachtende Drangsalierung der Schwächsten unserer Gesellschaft.»
Auch für Marc Spescha, Lehrbeauftragter für Migrationsrecht an der Uni Freiburg, manifestiert sich in der Verfügung von Eingrenzungen eine «forcierte Vergällungsstrategie», deren Wirkung im Sinn einer effektiveren Ausschaffungspraxis höchst fraglich erscheine. Allzu häufig werde die Eingrenzung pauschal verfügt, ohne Abklärung des Sachverhalts im Einzelfall und damit insbesondere des Kontrollbedarfs.
Eingrenzung auch ohne Chance auf Rückkehr
Spescha nennt einen Fall aus seiner Praxis als Rechtsanwalt: «Der staatenlose Betroffene und das Staatssekretariat für Migration hatten mehrfach vergeblich versucht, vom ehemaligen Heimatstaat ein ‹laisser passer› zu erhalten und ein Wiedereinbürgerungsverfahren einzuleiten. Die Staatsanwaltschaft hat das Strafverfahren wegen illegalen Aufenthalts eingestellt und dabei explizit festgehalten, der Betroffene habe alles ihm Zumutbare getan, um ausreisen zu können.» Spescha: «Nicht einmal das hinderte das Zürcher Migrationsamt, eine Eingrenzung zu verfügen.»
Der zuständige Zürcher Regierungsrat Mario Fehr lässt die Fragen von plädoyer durch seinen Kommunikationsbeauftragten Urs Grob beantworten. Dieser verweist auf zwei Medienmitteilungen der Direktion. Darin heisst es etwa: «Der Vollzug negativer Entscheide ist im neuen Asylgesetz von grosser Bedeutung.» Oder: «Ohne konsequenten Vollzug ist die Asylpolitik nicht glaubwürdig.»
Der Kanton Zürich vollziehe Wegweisungen konsequent. Grob: «Das Migrationsamt des Kantons Zürich verfügt seit 2012 bei straffällig gewordenen abgewiesenen Asylsuchenden Eingrenzungen auf die Wohngemeinde.» Bea Schwager von der Zürcher Sans-Papiers-Anlaufstelle widerspricht: «Es sind systematische Einschränkungen gegenüber allen.»
Studie zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) hat Ende Februar das Rechtsgutachten «Asylsuchende im öffentlichen Raum» der Universität Zürich veröffentlicht. Es untersucht die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden im öffentlichen Raum unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsschutzes und der Menschenrechte.
Die Autorinnen Regina Kiener und Gabriella Medici gehen unter anderem der Frage nach, unter welchen Bedingungen eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit rechtlich zulässig ist oder wann man man von einer Verletzung dieses Grundrechts sprechen kann.
Auf Grundlage der Schlussfolgerungen der Gutachterinnen formuliert die EKR eine Reihe von Empfehlungen an die zuständigen staatlichen Behörden. Diese betreffen indirekt auch die privaten Akteure.
Kostenloser Download des Gutachtens oder Bestellung der gedruckten Ausgabe unter: www.ekr.admin.ch !
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